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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Staat.
liche sowie auch darüber, wer die höchste religiöse Gewalt thatsächlich
ausüben sollte, hat es zu verschiedenen Zeiten verschiedene Auffassungen
und manchen Streit gegeben, doch dass diese Gewalt der Kirche als
einer göttlichen Institution innewohne, ist stets gelehrt worden und
diese Lehre bildet, wie ich es im vorigen Kapitel zu zeigen versuchte
(S. 615 fg.), ein so grundlegendes Axiom der römischen Religion, dass
das ganze Gebäude einstürzen müsste, wenn sie je diesen Anspruch im
Ernst aufgeben wollte. Gerade dies ist ja der bewundernswerteste
und -- sobald er sich in einem schönen Geiste wiederspiegelt --
heiligste Gedanke der römischen Kirche: diese Religion will nicht
bloss für die Zukunft, sondern auch für die Gegenwart sorgen, und
zwar nicht allein, weil das irdische Leben nach ihrer Meinung für
den Einzelnen die Schule des ewigen Lebens bedeutet, sondern weil
sie Gott zu Ehren und als Vertreterin Gottes schon diese zeitliche
Welt zu einem herrlichen Vorhof der himmlischen gestalten will.
Wie der tridentinische Katechismus sagt: Christi regnum in terris
inchoatur, in coelo perficitur;
das Reich Christi erreicht im Himmel
seine Vollendung, doch beginnt es auf Erden.1) Wie flach muss ein
Denken sein, welches die Schönheit und die unermessliche Kraft einer
derartigen Vorstellung nicht empfindet! Und wahrlich, ich erträume
sie mir nicht; dazu besässe ich nicht die Phantasie. Doch ich schlage
Augustinus: De civitate Dei, Buch XX, Kap. 9, auf und lese:
"Ecclesia et nunc est regnum Christi, regnumque coelorum". Zweimal
innerhalb weniger Zeilen wiederholt Augustinus, die Kirche sei jetzt
schon
das Reich Christi. Auch sieht er (im Anschluss an die
Apokalypse) Männer auf Thronen sitzen, und wer sind sie? diejenigen,
welche jetzt die Kirche regieren. Diese Auffassung setzt eine politische
Regierung voraus, und selbst wo der Kaiser diese ausübt, selbst wo
er sie gegen den Papst anwendet, ist doch er, der Kaiser, ein Glied
der Kirche, a Deo coronatus, dessen Gewalt auf religiösen Voraus-
setzungen beruht, so dass von einer wirklichen Trennung zwischen
Staat und Kirche nicht die Rede sein kann, sondern höchstens (wie
schon im Vorwort zu diesem Kapitel ausgeführt) von einem Kompetenz-
streit innerhalb der Kirche. Die religiöse Grundlage dieser Auffassung

1) Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich anmerken, dass auch nach
lutherischer Lehre der Gläubige schon hier das ewige Leben hat; doch ist das
eine Auffassung, welche (wie ich in den Kap. 5, 7 und 9 ausführlich dargethan
habe) in toto von der jüdisch-römischen abweicht, da sie nicht auf chronistischer
Aufeinanderfolge, sondern auf gegenwärtiger Erfahrung (wie Christus) fusst.

Staat.
liche sowie auch darüber, wer die höchste religiöse Gewalt thatsächlich
ausüben sollte, hat es zu verschiedenen Zeiten verschiedene Auffassungen
und manchen Streit gegeben, doch dass diese Gewalt der Kirche als
einer göttlichen Institution innewohne, ist stets gelehrt worden und
diese Lehre bildet, wie ich es im vorigen Kapitel zu zeigen versuchte
(S. 615 fg.), ein so grundlegendes Axiom der römischen Religion, dass
das ganze Gebäude einstürzen müsste, wenn sie je diesen Anspruch im
Ernst aufgeben wollte. Gerade dies ist ja der bewundernswerteste
und — sobald er sich in einem schönen Geiste wiederspiegelt —
heiligste Gedanke der römischen Kirche: diese Religion will nicht
bloss für die Zukunft, sondern auch für die Gegenwart sorgen, und
zwar nicht allein, weil das irdische Leben nach ihrer Meinung für
den Einzelnen die Schule des ewigen Lebens bedeutet, sondern weil
sie Gott zu Ehren und als Vertreterin Gottes schon diese zeitliche
Welt zu einem herrlichen Vorhof der himmlischen gestalten will.
Wie der tridentinische Katechismus sagt: Christi regnum in terris
inchoatur, in coelo perficitur;
das Reich Christi erreicht im Himmel
seine Vollendung, doch beginnt es auf Erden.1) Wie flach muss ein
Denken sein, welches die Schönheit und die unermessliche Kraft einer
derartigen Vorstellung nicht empfindet! Und wahrlich, ich erträume
sie mir nicht; dazu besässe ich nicht die Phantasie. Doch ich schlage
Augustinus: De civitate Dei, Buch XX, Kap. 9, auf und lese:
»Ecclesia et nunc est regnum Christi, regnumque coelorum«. Zweimal
innerhalb weniger Zeilen wiederholt Augustinus, die Kirche sei jetzt
schon
das Reich Christi. Auch sieht er (im Anschluss an die
Apokalypse) Männer auf Thronen sitzen, und wer sind sie? diejenigen,
welche jetzt die Kirche regieren. Diese Auffassung setzt eine politische
Regierung voraus, und selbst wo der Kaiser diese ausübt, selbst wo
er sie gegen den Papst anwendet, ist doch er, der Kaiser, ein Glied
der Kirche, a Deo coronatus, dessen Gewalt auf religiösen Voraus-
setzungen beruht, so dass von einer wirklichen Trennung zwischen
Staat und Kirche nicht die Rede sein kann, sondern höchstens (wie
schon im Vorwort zu diesem Kapitel ausgeführt) von einem Kompetenz-
streit innerhalb der Kirche. Die religiöse Grundlage dieser Auffassung

1) Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich anmerken, dass auch nach
lutherischer Lehre der Gläubige schon hier das ewige Leben hat; doch ist das
eine Auffassung, welche (wie ich in den Kap. 5, 7 und 9 ausführlich dargethan
habe) in toto von der jüdisch-römischen abweicht, da sie nicht auf chronistischer
Aufeinanderfolge, sondern auf gegenwärtiger Erfahrung (wie Christus) fusst.
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[671/0150] Staat. liche sowie auch darüber, wer die höchste religiöse Gewalt thatsächlich ausüben sollte, hat es zu verschiedenen Zeiten verschiedene Auffassungen und manchen Streit gegeben, doch dass diese Gewalt der Kirche als einer göttlichen Institution innewohne, ist stets gelehrt worden und diese Lehre bildet, wie ich es im vorigen Kapitel zu zeigen versuchte (S. 615 fg.), ein so grundlegendes Axiom der römischen Religion, dass das ganze Gebäude einstürzen müsste, wenn sie je diesen Anspruch im Ernst aufgeben wollte. Gerade dies ist ja der bewundernswerteste und — sobald er sich in einem schönen Geiste wiederspiegelt — heiligste Gedanke der römischen Kirche: diese Religion will nicht bloss für die Zukunft, sondern auch für die Gegenwart sorgen, und zwar nicht allein, weil das irdische Leben nach ihrer Meinung für den Einzelnen die Schule des ewigen Lebens bedeutet, sondern weil sie Gott zu Ehren und als Vertreterin Gottes schon diese zeitliche Welt zu einem herrlichen Vorhof der himmlischen gestalten will. Wie der tridentinische Katechismus sagt: Christi regnum in terris inchoatur, in coelo perficitur; das Reich Christi erreicht im Himmel seine Vollendung, doch beginnt es auf Erden. 1) Wie flach muss ein Denken sein, welches die Schönheit und die unermessliche Kraft einer derartigen Vorstellung nicht empfindet! Und wahrlich, ich erträume sie mir nicht; dazu besässe ich nicht die Phantasie. Doch ich schlage Augustinus: De civitate Dei, Buch XX, Kap. 9, auf und lese: »Ecclesia et nunc est regnum Christi, regnumque coelorum«. Zweimal innerhalb weniger Zeilen wiederholt Augustinus, die Kirche sei jetzt schon das Reich Christi. Auch sieht er (im Anschluss an die Apokalypse) Männer auf Thronen sitzen, und wer sind sie? diejenigen, welche jetzt die Kirche regieren. Diese Auffassung setzt eine politische Regierung voraus, und selbst wo der Kaiser diese ausübt, selbst wo er sie gegen den Papst anwendet, ist doch er, der Kaiser, ein Glied der Kirche, a Deo coronatus, dessen Gewalt auf religiösen Voraus- setzungen beruht, so dass von einer wirklichen Trennung zwischen Staat und Kirche nicht die Rede sein kann, sondern höchstens (wie schon im Vorwort zu diesem Kapitel ausgeführt) von einem Kompetenz- streit innerhalb der Kirche. Die religiöse Grundlage dieser Auffassung 1) Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich anmerken, dass auch nach lutherischer Lehre der Gläubige schon hier das ewige Leben hat; doch ist das eine Auffassung, welche (wie ich in den Kap. 5, 7 und 9 ausführlich dargethan habe) in toto von der jüdisch-römischen abweicht, da sie nicht auf chronistischer Aufeinanderfolge, sondern auf gegenwärtiger Erfahrung (wie Christus) fusst.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 671. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/150>, abgerufen am 24.11.2024.