Wäre es meine Aufgabe, den Kampf im Staate bis zum 13. Jahr-Kaiser und Papst. hundert historisch zu schildern, so könnte ich nicht ermangeln, bei zwei Dingen mit besonderer Ausführlichkeit zu verharren: bei dem Kampf zwischen Papsttum und Kaisertum und bei jener allmählichen Umgestaltung, durch welche aus der Mehrzahl der freien germanischen Männer Leibeigene wurden, während andere unter ihnen zu der mächtigen, sowohl nach oben wie nach unten bedrohlichen Klasse des erblichen Adels sich hinaufschwangen. Doch habe ich hier einzig das 19. Jahrhundert im Auge zu behalten, und weder jener verhängnis- volle Kampf noch die wunderlich bunten Verwandlungen, welche die ge- waltsam hin und her geworfene Gesellschaft durchmachte, besitzt heute mehr als ein historisches Interesse. Das Wort "Kaiser" ist für uns so bedeutungslos geworden, dass eine ganze Reihe europäischer Fürsten es sich zum Schmuck ihrer Titulatur beigelegt haben, und die "weissen Sklaven Europa's" (wie sie ein englischer Schriftsteller unserer Tage, Sherard, nennt) sind nicht die überlebenden Zeugen eines vergangenen Feudalsystemes, sondern die Opfer einer neuen wirtschaftlichen Ent- wickelung.1) Sobald wir dagegen tiefer greifen, werden wir finden, dass jener Kampf im Staate, so verwirrt er auch scheint, im letzten Grund ein Kampf um den Staat war, ein Kampf nämlich zwischen Universalismus und Nationalismus. Diese Einsicht erhellt unser Ver- ständnis der betreffenden Ereignisse ganz ungemein, und, ist das erst geschehen, so fällt wiederum von jener Zeit auf die unsere ein helles Licht zurück und lehrt uns somit in manchen Vorgängen der heutigen Welt klarer sehen als es sonst der Fall sein könnte.
Aus dieser Erwägung ergiebt sich ohne Weiteres der Plan des vorliegenden Kapitels. Doch muss ich noch eine Bemerkung voraus- schicken.
Das römische Reich hatte man mit Recht ein "Weltreich" nennen können; orbis romanus, die römische Welt, war die übliche Bezeichnung.
1) Siehe im Kapitel 9 den Abschnitt "Wirtschaft".
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Wäre es meine Aufgabe, den Kampf im Staate bis zum 13. Jahr-Kaiser und Papst. hundert historisch zu schildern, so könnte ich nicht ermangeln, bei zwei Dingen mit besonderer Ausführlichkeit zu verharren: bei dem Kampf zwischen Papsttum und Kaisertum und bei jener allmählichen Umgestaltung, durch welche aus der Mehrzahl der freien germanischen Männer Leibeigene wurden, während andere unter ihnen zu der mächtigen, sowohl nach oben wie nach unten bedrohlichen Klasse des erblichen Adels sich hinaufschwangen. Doch habe ich hier einzig das 19. Jahrhundert im Auge zu behalten, und weder jener verhängnis- volle Kampf noch die wunderlich bunten Verwandlungen, welche die ge- waltsam hin und her geworfene Gesellschaft durchmachte, besitzt heute mehr als ein historisches Interesse. Das Wort »Kaiser« ist für uns so bedeutungslos geworden, dass eine ganze Reihe europäischer Fürsten es sich zum Schmuck ihrer Titulatur beigelegt haben, und die »weissen Sklaven Europa’s« (wie sie ein englischer Schriftsteller unserer Tage, Sherard, nennt) sind nicht die überlebenden Zeugen eines vergangenen Feudalsystemes, sondern die Opfer einer neuen wirtschaftlichen Ent- wickelung.1) Sobald wir dagegen tiefer greifen, werden wir finden, dass jener Kampf im Staate, so verwirrt er auch scheint, im letzten Grund ein Kampf um den Staat war, ein Kampf nämlich zwischen Universalismus und Nationalismus. Diese Einsicht erhellt unser Ver- ständnis der betreffenden Ereignisse ganz ungemein, und, ist das erst geschehen, so fällt wiederum von jener Zeit auf die unsere ein helles Licht zurück und lehrt uns somit in manchen Vorgängen der heutigen Welt klarer sehen als es sonst der Fall sein könnte.
Aus dieser Erwägung ergiebt sich ohne Weiteres der Plan des vorliegenden Kapitels. Doch muss ich noch eine Bemerkung voraus- schicken.
Das römische Reich hatte man mit Recht ein »Weltreich« nennen können; orbis romanus, die römische Welt, war die übliche Bezeichnung.
1) Siehe im Kapitel 9 den Abschnitt »Wirtschaft«.
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Kampf zwischen Papsttum und Kaisertum und bei jener allmählichen
Umgestaltung, durch welche aus der Mehrzahl der freien germanischen
Männer Leibeigene wurden, während andere unter ihnen zu der
mächtigen, sowohl nach oben wie nach unten bedrohlichen Klasse
des erblichen Adels sich hinaufschwangen. Doch habe ich hier einzig
das 19. Jahrhundert im Auge zu behalten, und weder jener verhängnis-
volle Kampf noch die wunderlich bunten Verwandlungen, welche die ge-
waltsam hin und her geworfene Gesellschaft durchmachte, besitzt heute
mehr als ein historisches Interesse. Das Wort »Kaiser« ist für uns
so bedeutungslos geworden, dass eine ganze Reihe europäischer Fürsten
es sich zum Schmuck ihrer Titulatur beigelegt haben, und die »weissen
Sklaven Europa’s« (wie sie ein englischer Schriftsteller unserer Tage,
Sherard, nennt) sind nicht die überlebenden Zeugen eines vergangenen
Feudalsystemes, sondern die Opfer einer neuen wirtschaftlichen Ent-
wickelung. 1) Sobald wir dagegen tiefer greifen, werden wir finden,
dass jener Kampf im Staate, so verwirrt er auch scheint, im letzten
Grund ein Kampf um den Staat war, ein Kampf nämlich zwischen
Universalismus und Nationalismus. Diese Einsicht erhellt unser Ver-
ständnis der betreffenden Ereignisse ganz ungemein, und, ist das erst
geschehen, so fällt wiederum von jener Zeit auf die unsere ein helles
Licht zurück und lehrt uns somit in manchen Vorgängen der heutigen
Welt klarer sehen als es sonst der Fall sein könnte.
Kaiser und
Papst.
Aus dieser Erwägung ergiebt sich ohne Weiteres der Plan des
vorliegenden Kapitels. Doch muss ich noch eine Bemerkung voraus-
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Das römische Reich hatte man mit Recht ein »Weltreich« nennen
können; orbis romanus, die römische Welt, war die übliche Bezeichnung.
1) Siehe im Kapitel 9 den Abschnitt »Wirtschaft«.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. [651]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/130>, abgerufen am 22.11.2024.
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