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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
vom frühen, unverfälschten Christentum! Ausserdem steht Rom von
Anfang an, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht auf einem spezifisch
religiösen oder gar spezifisch evangelischen Standpunkt; darum haben
auch Diejenigen Unrecht, die ihm seit Jahrhunderten den Mangel an
evangelischem Geist zum Vorwurf machen. Indem Rom das Evange-
lium aus dem Hause und Herzen des Christen verbannte, und indem
es im selben Augenblick den magischen Materialismus, an welchem
das hinsterbende Völkerchaos sich aufgerichtet hatte, sowie die jüdische
Opfertheorie, durch welche der Priester ein unentbehrlicher Vermittler
wird, offiziell zur Grundlage der Religion machte, hat es einfach Farbe
bekannt. Auf derselben vierten Lateransynode, welche im Jahre 1215
das Dogma von der magischen Verwandlung promulgierte, wurde das
Inquisitionsgericht als bleibende Institution organisiert. Nicht die Lehre
allein, auch das System war also fortan ein aufrichtiges. Die Synode
von Narbonne stellte im Jahre 1227 das Prinzip auf: "Personen und
Güter der Häretiker werden Jedem überlassen, der sich ihrer bemächtigt";1)
haeretici possunt non solum excommunicari, sed et juste occidi, lehrte
kurz darauf der erste wirklich ganz römische unter den Kirchendoktoren,
Thomas von Aquin. Diese Prinzipien und Lehren sind nicht etwa
inzwischen abgeschafft worden; sie sind eine logische, unabweisbare
Konsequenz der römischen Voraussetzungen, und bestehen noch heute
zu Recht; in den letzten Jahren unseres Jahrhunderts hat ein hervor-
ragender römischer Prälat, Hergenröther, dies bestätigt und hinzuge-
fügt: "Nur wenn man nicht anders kann, giebt man nach."2)

Heutige Lage.

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatte also der fast tausendjährige
Kampf mit dem scheinbar unbedingten Siege Rom's und mit der voll-
kommenen Niederlage des germanischen Nordens geendet. Jenes vorhin
genannte Erwachen des germanischen Geistes auf religiösem Gebiete
war aber nur das Symptom eines allgemeinen Sichfühlens und -fassens
gewesen; bald drang es in das bürgerliche und politische und intellek-
tuelle Leben hinein; nun handelte es sich nicht mehr allein und vor-
züglich um Religion, sondern es entstand eine alles Menschliche um-
fassende Empörung gegen die Prinzipien und Methoden Rom's überhaupt.
Der Kampf entbrannte von Neuem, doch mit anderen Ergebnissen.
Dürfte die römische Kirche tolerant sein, so könnte er heute als be-
endet gelten; sie darf es aber nicht, es wäre Selbstmord; und so wird

1) Hefele; a. a. O., V, 944.
2) Vergl. Döllinger: Das Papsttum (1892), S. 527.

Der Kampf.
vom frühen, unverfälschten Christentum! Ausserdem steht Rom von
Anfang an, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht auf einem spezifisch
religiösen oder gar spezifisch evangelischen Standpunkt; darum haben
auch Diejenigen Unrecht, die ihm seit Jahrhunderten den Mangel an
evangelischem Geist zum Vorwurf machen. Indem Rom das Evange-
lium aus dem Hause und Herzen des Christen verbannte, und indem
es im selben Augenblick den magischen Materialismus, an welchem
das hinsterbende Völkerchaos sich aufgerichtet hatte, sowie die jüdische
Opfertheorie, durch welche der Priester ein unentbehrlicher Vermittler
wird, offiziell zur Grundlage der Religion machte, hat es einfach Farbe
bekannt. Auf derselben vierten Lateransynode, welche im Jahre 1215
das Dogma von der magischen Verwandlung promulgierte, wurde das
Inquisitionsgericht als bleibende Institution organisiert. Nicht die Lehre
allein, auch das System war also fortan ein aufrichtiges. Die Synode
von Narbonne stellte im Jahre 1227 das Prinzip auf: »Personen und
Güter der Häretiker werden Jedem überlassen, der sich ihrer bemächtigt«;1)
haeretici possunt non solum excommunicari, sed et juste occidi, lehrte
kurz darauf der erste wirklich ganz römische unter den Kirchendoktoren,
Thomas von Aquin. Diese Prinzipien und Lehren sind nicht etwa
inzwischen abgeschafft worden; sie sind eine logische, unabweisbare
Konsequenz der römischen Voraussetzungen, und bestehen noch heute
zu Recht; in den letzten Jahren unseres Jahrhunderts hat ein hervor-
ragender römischer Prälat, Hergenröther, dies bestätigt und hinzuge-
fügt: »Nur wenn man nicht anders kann, giebt man nach.«2)

Heutige Lage.

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatte also der fast tausendjährige
Kampf mit dem scheinbar unbedingten Siege Rom’s und mit der voll-
kommenen Niederlage des germanischen Nordens geendet. Jenes vorhin
genannte Erwachen des germanischen Geistes auf religiösem Gebiete
war aber nur das Symptom eines allgemeinen Sichfühlens und -fassens
gewesen; bald drang es in das bürgerliche und politische und intellek-
tuelle Leben hinein; nun handelte es sich nicht mehr allein und vor-
züglich um Religion, sondern es entstand eine alles Menschliche um-
fassende Empörung gegen die Prinzipien und Methoden Rom’s überhaupt.
Der Kampf entbrannte von Neuem, doch mit anderen Ergebnissen.
Dürfte die römische Kirche tolerant sein, so könnte er heute als be-
endet gelten; sie darf es aber nicht, es wäre Selbstmord; und so wird

1) Hefele; a. a. O., V, 944.
2) Vergl. Döllinger: Das Papsttum (1892), S. 527.
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[644/0123] Der Kampf. vom frühen, unverfälschten Christentum! Ausserdem steht Rom von Anfang an, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht auf einem spezifisch religiösen oder gar spezifisch evangelischen Standpunkt; darum haben auch Diejenigen Unrecht, die ihm seit Jahrhunderten den Mangel an evangelischem Geist zum Vorwurf machen. Indem Rom das Evange- lium aus dem Hause und Herzen des Christen verbannte, und indem es im selben Augenblick den magischen Materialismus, an welchem das hinsterbende Völkerchaos sich aufgerichtet hatte, sowie die jüdische Opfertheorie, durch welche der Priester ein unentbehrlicher Vermittler wird, offiziell zur Grundlage der Religion machte, hat es einfach Farbe bekannt. Auf derselben vierten Lateransynode, welche im Jahre 1215 das Dogma von der magischen Verwandlung promulgierte, wurde das Inquisitionsgericht als bleibende Institution organisiert. Nicht die Lehre allein, auch das System war also fortan ein aufrichtiges. Die Synode von Narbonne stellte im Jahre 1227 das Prinzip auf: »Personen und Güter der Häretiker werden Jedem überlassen, der sich ihrer bemächtigt«; 1) haeretici possunt non solum excommunicari, sed et juste occidi, lehrte kurz darauf der erste wirklich ganz römische unter den Kirchendoktoren, Thomas von Aquin. Diese Prinzipien und Lehren sind nicht etwa inzwischen abgeschafft worden; sie sind eine logische, unabweisbare Konsequenz der römischen Voraussetzungen, und bestehen noch heute zu Recht; in den letzten Jahren unseres Jahrhunderts hat ein hervor- ragender römischer Prälat, Hergenröther, dies bestätigt und hinzuge- fügt: »Nur wenn man nicht anders kann, giebt man nach.« 2) Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatte also der fast tausendjährige Kampf mit dem scheinbar unbedingten Siege Rom’s und mit der voll- kommenen Niederlage des germanischen Nordens geendet. Jenes vorhin genannte Erwachen des germanischen Geistes auf religiösem Gebiete war aber nur das Symptom eines allgemeinen Sichfühlens und -fassens gewesen; bald drang es in das bürgerliche und politische und intellek- tuelle Leben hinein; nun handelte es sich nicht mehr allein und vor- züglich um Religion, sondern es entstand eine alles Menschliche um- fassende Empörung gegen die Prinzipien und Methoden Rom’s überhaupt. Der Kampf entbrannte von Neuem, doch mit anderen Ergebnissen. Dürfte die römische Kirche tolerant sein, so könnte er heute als be- endet gelten; sie darf es aber nicht, es wäre Selbstmord; und so wird 1) Hefele; a. a. O., V, 944. 2) Vergl. Döllinger: Das Papsttum (1892), S. 527.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/123>, abgerufen am 22.11.2024.