erst erwachte Begabung erstürmt mit schwindelnder Eile die höchste Höhe: Michelangelo hätte fast ein persönlicher Schüler Donatello's sein können, und nur durch einen Zufall genoss Raffael nicht den mündlichen Unterricht Leonardo's. Von dieser Gleichzeitigkeit erhält man eine lebhafte Vorstellung, wenn man bedenkt, dass das Leben des einen Tizian von Sandro Botticelli bis zu Guido Reni reicht! Doch noch schneller als sie emporgelodert war, erlosch die Flamme des Genies. Als das Herz am stolzesten schlug, war schon der Körper in voller Verwesung; Ariost (ein Jahr vor Michelangelo geboren) nennt das Italien, das ihn umgab, "eine stinkende Kloake":
O d'ogni vizio fetida sentina, Dormi, Italia imbriaca! (Orlando furioso, XVII, 76.)
Und habe ich bisher die bildende Kunst allein genannt, so geschah das der Einfachheit halber und um mich auf dem bestbekannten Gebiet zu bewegen, doch überall traf dasselbe zu: als Guido Reni noch sehr jung war, starb Tasso und mit ihm die italienische Poesie, wenige Jahre darauf bestieg Giordano Bruno den Scheiterhaufen, Campanella die Folterbank -- das Ende der italienischen Philosophie --, und kurz vor Guido schloss mit Galilei die italienische Physik ihre -- mit Ubaldi, Varro, Tartalea u. A., vor Allem mit Leonardo da Vinci -- so glänzend begonnene Laufbahn. Nördlich der Alpen war der Gang der Geschichte ein ganz anderer: nie wurde dort eine der- artige Blüte, doch nie auch eine ähnliche Katastrophe erlebt. Diese Katastrophe lässt nur eine Erklärung zu: das Verschwinden der schöpferischen Geister, mit anderen Worten, der Rasse, aus der diese hervorgegangen waren. Ein einziger Gang durch die Gallerie der Porträtbüsten im Berliner Museum wird davon überzeugen, dass der Typus der grossen Italiener in der That heute völlig ausgetilgt ist. Hin und wieder blitzt die Erinnerung daran auf, wenn wir einen Trupp jener prächtigen, gigantischen Tagelöhner durchmustern, welche unsere Strassen und Eisenbahnen bauen: die physische Kraft, die edle Stirne, die kühne Nase, das glutvolle Auge; doch es sind nur arme Überlebende aus dem Schiffbruch des italienischen Germanen- tums! Physisch ist dieses Verschwinden durch die angegebenen Gründe hinreichend erklärt, dazu kommt aber als ein sehr wichtiges die moralische Zertretung bestimmter Geistesrichtungen und mit ihr der Rassenseele (so zu sagen); der Edle wurde zum Erdarbeiter herabge-
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 45
Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
erst erwachte Begabung erstürmt mit schwindelnder Eile die höchste Höhe: Michelangelo hätte fast ein persönlicher Schüler Donatello’s sein können, und nur durch einen Zufall genoss Raffael nicht den mündlichen Unterricht Leonardo’s. Von dieser Gleichzeitigkeit erhält man eine lebhafte Vorstellung, wenn man bedenkt, dass das Leben des einen Tizian von Sandro Botticelli bis zu Guido Reni reicht! Doch noch schneller als sie emporgelodert war, erlosch die Flamme des Genies. Als das Herz am stolzesten schlug, war schon der Körper in voller Verwesung; Ariost (ein Jahr vor Michelangelo geboren) nennt das Italien, das ihn umgab, »eine stinkende Kloake«:
O d’ogni vizio fetida sentina, Dormi, Italia imbriaca! (Orlando furioso, XVII, 76.)
Und habe ich bisher die bildende Kunst allein genannt, so geschah das der Einfachheit halber und um mich auf dem bestbekannten Gebiet zu bewegen, doch überall traf dasselbe zu: als Guido Reni noch sehr jung war, starb Tasso und mit ihm die italienische Poesie, wenige Jahre darauf bestieg Giordano Bruno den Scheiterhaufen, Campanella die Folterbank — das Ende der italienischen Philosophie —, und kurz vor Guido schloss mit Galilei die italienische Physik ihre — mit Ubaldi, Varro, Tartalea u. A., vor Allem mit Leonardo da Vinci — so glänzend begonnene Laufbahn. Nördlich der Alpen war der Gang der Geschichte ein ganz anderer: nie wurde dort eine der- artige Blüte, doch nie auch eine ähnliche Katastrophe erlebt. Diese Katastrophe lässt nur eine Erklärung zu: das Verschwinden der schöpferischen Geister, mit anderen Worten, der Rasse, aus der diese hervorgegangen waren. Ein einziger Gang durch die Gallerie der Porträtbüsten im Berliner Museum wird davon überzeugen, dass der Typus der grossen Italiener in der That heute völlig ausgetilgt ist. Hin und wieder blitzt die Erinnerung daran auf, wenn wir einen Trupp jener prächtigen, gigantischen Tagelöhner durchmustern, welche unsere Strassen und Eisenbahnen bauen: die physische Kraft, die edle Stirne, die kühne Nase, das glutvolle Auge; doch es sind nur arme Überlebende aus dem Schiffbruch des italienischen Germanen- tums! Physisch ist dieses Verschwinden durch die angegebenen Gründe hinreichend erklärt, dazu kommt aber als ein sehr wichtiges die moralische Zertretung bestimmter Geistesrichtungen und mit ihr der Rassenseele (so zu sagen); der Edle wurde zum Erdarbeiter herabge-
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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
erst erwachte Begabung erstürmt mit schwindelnder Eile die höchste
Höhe: Michelangelo hätte fast ein persönlicher Schüler Donatello’s
sein können, und nur durch einen Zufall genoss Raffael nicht den
mündlichen Unterricht Leonardo’s. Von dieser Gleichzeitigkeit erhält
man eine lebhafte Vorstellung, wenn man bedenkt, dass das Leben
des einen Tizian von Sandro Botticelli bis zu Guido Reni reicht! Doch
noch schneller als sie emporgelodert war, erlosch die Flamme des
Genies. Als das Herz am stolzesten schlug, war schon der Körper
in voller Verwesung; Ariost (ein Jahr vor Michelangelo geboren) nennt
das Italien, das ihn umgab, »eine stinkende Kloake«:
O d’ogni vizio fetida sentina,
Dormi, Italia imbriaca!
(Orlando furioso, XVII, 76.)
Und habe ich bisher die bildende Kunst allein genannt, so geschah das
der Einfachheit halber und um mich auf dem bestbekannten Gebiet
zu bewegen, doch überall traf dasselbe zu: als Guido Reni noch sehr
jung war, starb Tasso und mit ihm die italienische Poesie, wenige
Jahre darauf bestieg Giordano Bruno den Scheiterhaufen, Campanella
die Folterbank — das Ende der italienischen Philosophie —, und kurz
vor Guido schloss mit Galilei die italienische Physik ihre — mit
Ubaldi, Varro, Tartalea u. A., vor Allem mit Leonardo da Vinci —
so glänzend begonnene Laufbahn. Nördlich der Alpen war der
Gang der Geschichte ein ganz anderer: nie wurde dort eine der-
artige Blüte, doch nie auch eine ähnliche Katastrophe erlebt. Diese
Katastrophe lässt nur eine Erklärung zu: das Verschwinden der
schöpferischen Geister, mit anderen Worten, der Rasse, aus der diese
hervorgegangen waren. Ein einziger Gang durch die Gallerie der
Porträtbüsten im Berliner Museum wird davon überzeugen, dass der
Typus der grossen Italiener in der That heute völlig ausgetilgt ist.
Hin und wieder blitzt die Erinnerung daran auf, wenn wir einen
Trupp jener prächtigen, gigantischen Tagelöhner durchmustern, welche
unsere Strassen und Eisenbahnen bauen: die physische Kraft, die
edle Stirne, die kühne Nase, das glutvolle Auge; doch es sind nur
arme Überlebende aus dem Schiffbruch des italienischen Germanen-
tums! Physisch ist dieses Verschwinden durch die angegebenen Gründe
hinreichend erklärt, dazu kommt aber als ein sehr wichtiges die
moralische Zertretung bestimmter Geistesrichtungen und mit ihr der
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Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 45
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 697. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/176>, abgerufen am 25.02.2025.
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