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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Element, die künstlerische Kultur. Die Grundlage des europäischen
Lebens war seit den Römern eine politische; jetzt geht sie nach und
nach in eine wirtschaftliche über. Bei den Griechen durfte kein freier
Mann Handel treiben, bei uns ist jeder Künstler ein geborener Sklave;
die Kunst ist für uns ein Luxus, ein Reich der Willkür, sie ist
unserem Staat kein Bedürfnis und unserem öffentlichen Leben nicht
der Gesetzgeber eines alles durchdringenden Schönheitsgefühls. Schon
in Rom war es. die Laune eines einzelnen Maecenas, welche die
Blüte der Dichtkunst hervorrief; seither hingen die höchsten Thaten
der herrlichsten Geister zumeist von der Baulust eines Papstes, der
Eitelkeit eines klassisch gebildeten Fürsten, der Prachtliebe einer prunk-
süchtigen Kaufmannschaft ab, oder hin und wieder wehte ein be-
lebender Hauch aus höheren Regionen, wie die von dem grossen
und heiligen Franziskus versuchte religiöse Wiedergeburt, welche zu
unserer neuen Kunst der Malerei den ersten Anstoss gab, oder wie
das allmähliche Erwachen des deutschen Gemütes, dem wir die herr-
liche neue Kunst, die deutsche Musik, verdanken. Was ist aber aus
den Bildern geworden? Die Wandgemälde überkalkte man, weil
man sie hässlich fand; die Tafelbilder entriss man den geheiligten
Stätten der Andacht und hing sie alle nebeneinander an den Wänden
der Museen auf; und dann -- weil man sonst die "Entwickelung"
bis zu diesen gepriesensten Meisterwerken nicht wissenschaftlich hätte
auseinandersetzen können -- kratzte man dort den Kalk ab, so gut
und so schlecht es ging, warf die frommen Mönche hinaus und
machte aus Klöstern und campi santi eine zweite Klasse von
Museen. Mit der Musik ging es nicht viel anders; ich habe selber
in einer -- noch dazu wegen ihres geläuterten Musiksinnes be-
sonders gerühmten Hauptstadt Europas -- eine Konzertaufführung
von J. S. Bach's Matthäuspassion erlebt, in welcher nach jeder
"Nummer" geklatscht und der Choral "O Haupt voll Blut und
Wunden!" sogar da capo verlangt wurde! Wir haben vieles, was
die Griechen nicht hatten, solche Beispiele lassen aber deutlich und
schmerzlich empfinden, was uns abgeht und was jene besassen. Man
begreift, dass Hölderlin dem heutigen Künstler zurufen konnte:

Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde,
Edler Geist, umsonst dein Element!

Es ist nicht Mangel an innerer Kraft, an Originalität, was des heutigen
Künstlers Herz nach Griechenland zieht, wohl aber das Bewusstsein

Das Erbe der alten Welt.
Element, die künstlerische Kultur. Die Grundlage des europäischen
Lebens war seit den Römern eine politische; jetzt geht sie nach und
nach in eine wirtschaftliche über. Bei den Griechen durfte kein freier
Mann Handel treiben, bei uns ist jeder Künstler ein geborener Sklave;
die Kunst ist für uns ein Luxus, ein Reich der Willkür, sie ist
unserem Staat kein Bedürfnis und unserem öffentlichen Leben nicht
der Gesetzgeber eines alles durchdringenden Schönheitsgefühls. Schon
in Rom war es. die Laune eines einzelnen Maecenas, welche die
Blüte der Dichtkunst hervorrief; seither hingen die höchsten Thaten
der herrlichsten Geister zumeist von der Baulust eines Papstes, der
Eitelkeit eines klassisch gebildeten Fürsten, der Prachtliebe einer prunk-
süchtigen Kaufmannschaft ab, oder hin und wieder wehte ein be-
lebender Hauch aus höheren Regionen, wie die von dem grossen
und heiligen Franziskus versuchte religiöse Wiedergeburt, welche zu
unserer neuen Kunst der Malerei den ersten Anstoss gab, oder wie
das allmähliche Erwachen des deutschen Gemütes, dem wir die herr-
liche neue Kunst, die deutsche Musik, verdanken. Was ist aber aus
den Bildern geworden? Die Wandgemälde überkalkte man, weil
man sie hässlich fand; die Tafelbilder entriss man den geheiligten
Stätten der Andacht und hing sie alle nebeneinander an den Wänden
der Museen auf; und dann — weil man sonst die »Entwickelung«
bis zu diesen gepriesensten Meisterwerken nicht wissenschaftlich hätte
auseinandersetzen können — kratzte man dort den Kalk ab, so gut
und so schlecht es ging, warf die frommen Mönche hinaus und
machte aus Klöstern und campi santi eine zweite Klasse von
Museen. Mit der Musik ging es nicht viel anders; ich habe selber
in einer — noch dazu wegen ihres geläuterten Musiksinnes be-
sonders gerühmten Hauptstadt Europas — eine Konzertaufführung
von J. S. Bach’s Matthäuspassion erlebt, in welcher nach jeder
»Nummer« geklatscht und der Choral »O Haupt voll Blut und
Wunden!« sogar da capo verlangt wurde! Wir haben vieles, was
die Griechen nicht hatten, solche Beispiele lassen aber deutlich und
schmerzlich empfinden, was uns abgeht und was jene besassen. Man
begreift, dass Hölderlin dem heutigen Künstler zurufen konnte:

Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde,
Edler Geist, umsonst dein Element!

Es ist nicht Mangel an innerer Kraft, an Originalität, was des heutigen
Künstlers Herz nach Griechenland zieht, wohl aber das Bewusstsein

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[74/0097] Das Erbe der alten Welt. Element, die künstlerische Kultur. Die Grundlage des europäischen Lebens war seit den Römern eine politische; jetzt geht sie nach und nach in eine wirtschaftliche über. Bei den Griechen durfte kein freier Mann Handel treiben, bei uns ist jeder Künstler ein geborener Sklave; die Kunst ist für uns ein Luxus, ein Reich der Willkür, sie ist unserem Staat kein Bedürfnis und unserem öffentlichen Leben nicht der Gesetzgeber eines alles durchdringenden Schönheitsgefühls. Schon in Rom war es. die Laune eines einzelnen Maecenas, welche die Blüte der Dichtkunst hervorrief; seither hingen die höchsten Thaten der herrlichsten Geister zumeist von der Baulust eines Papstes, der Eitelkeit eines klassisch gebildeten Fürsten, der Prachtliebe einer prunk- süchtigen Kaufmannschaft ab, oder hin und wieder wehte ein be- lebender Hauch aus höheren Regionen, wie die von dem grossen und heiligen Franziskus versuchte religiöse Wiedergeburt, welche zu unserer neuen Kunst der Malerei den ersten Anstoss gab, oder wie das allmähliche Erwachen des deutschen Gemütes, dem wir die herr- liche neue Kunst, die deutsche Musik, verdanken. Was ist aber aus den Bildern geworden? Die Wandgemälde überkalkte man, weil man sie hässlich fand; die Tafelbilder entriss man den geheiligten Stätten der Andacht und hing sie alle nebeneinander an den Wänden der Museen auf; und dann — weil man sonst die »Entwickelung« bis zu diesen gepriesensten Meisterwerken nicht wissenschaftlich hätte auseinandersetzen können — kratzte man dort den Kalk ab, so gut und so schlecht es ging, warf die frommen Mönche hinaus und machte aus Klöstern und campi santi eine zweite Klasse von Museen. Mit der Musik ging es nicht viel anders; ich habe selber in einer — noch dazu wegen ihres geläuterten Musiksinnes be- sonders gerühmten Hauptstadt Europas — eine Konzertaufführung von J. S. Bach’s Matthäuspassion erlebt, in welcher nach jeder »Nummer« geklatscht und der Choral »O Haupt voll Blut und Wunden!« sogar da capo verlangt wurde! Wir haben vieles, was die Griechen nicht hatten, solche Beispiele lassen aber deutlich und schmerzlich empfinden, was uns abgeht und was jene besassen. Man begreift, dass Hölderlin dem heutigen Künstler zurufen konnte: Stirb! du suchst auf diesem Erdenrunde, Edler Geist, umsonst dein Element! Es ist nicht Mangel an innerer Kraft, an Originalität, was des heutigen Künstlers Herz nach Griechenland zieht, wohl aber das Bewusstsein

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/97>, abgerufen am 24.11.2024.