Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
bestimmter auszusprechen als es in diesen Worten geschieht: dort
sonnige, übermütige, tollkühne Schaffenslust, Menschen, welche un-
erschrocken die rechte Hand des Gottes, zu dem sie beten, ergreifen
(S. 245), hier ein Leichnam, dem "die Vernichtung jedes eigenen
Urteils" als erste Lebensregel beigebracht worden und für den "die
schlotternde, knechtische Furcht" die Grundlage aller Religion ist.



Manchmal empfinde ich es schmerzlich, dass der gute GeschmackAusblick.
das Moralisieren in einem Buch wie dem vorliegenden verbietet. Denn
sieht man jene prächtigen "Barbaren" jugendfrisch, frei, zu allem
Höchsten befähigt in die Weltgeschichte eintreten, gewahrt man
sodann, wie sie, die Sieger, die echten Freigeborenen des Aristoteles,
ihr reines Blut mit dem unreinen der Knechtgeborenen vermengen,
wie sie bei den unwürdigen Epigonen grosser Geschlechter in die
Lehre gehen müssen und sich nur unter unsäglichen Mühsalen aus
der Nacht dieses Chaos zu einem neuen Tage hindurchringen, muss
man des Weiteren erkennen, dass zu den alten Feinden und Gefahren
alle Tage neue hinzutreten, dass diese wie die früheren von den
Germanen mit offenen Armen aufgenommen, die warnenden Stimmen
mit leichtem Sinn belächelt werden, dass während jeder Feind unserer
Rasse mit vollem Bewusstsein und vollendeter List seine Absichten
verfolgt, wir -- noch immer grosse, harmlose Barbaren, das ganze
Sinnen auf irdische und himmlische Ideale gerichtet, auf Besitz, auf
Entdeckungen, auf Erfindungen, auf Bierbrauen, auf Kunst und Meta-
physik, auf Liebe, und was weiss ich alles, doch jedes immer mit einem
Stich ins Unmögliche, ins nie zu Vollendende, ins Jenseitige, denn
sonst blieben wir lieber auf unseren Bärenhäuten liegen -- wer es
beobachtet, sage ich, wie wir ohne Waffe, ohne Abwehr, ohne Be-
wusstsein irgend einer Gefahr unseren Weg gehen, immer von Neuem
bethört, immer bereit, das Fremde hochzuschätzen und das Eigene
gering zu achten, die gelehrtesten aller Menschen und doch so wenig
wissend über die uns zunächst umgebende Welt wie sonst keiner,
die grössten Entdecker und doch mit chronischer Blindheit geschlagen:
wer möchte da nicht moralisieren und etwa mit Ulrich von Hutten
ausrufen: "O, freiwillig unglückliches Deutschland, der du mit sehenden
Augen nicht siehst, und mit offenem Verstande nicht verstehst!" Doch
ich werde es nicht thun; ich fühle, dass dieses Amt mir nicht zukommt,
und diese hochmütige Nichtbeachtung, ich muss es gestehen, ist ein zu

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 34

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
bestimmter auszusprechen als es in diesen Worten geschieht: dort
sonnige, übermütige, tollkühne Schaffenslust, Menschen, welche un-
erschrocken die rechte Hand des Gottes, zu dem sie beten, ergreifen
(S. 245), hier ein Leichnam, dem »die Vernichtung jedes eigenen
Urteils« als erste Lebensregel beigebracht worden und für den »die
schlotternde, knechtische Furcht« die Grundlage aller Religion ist.



Manchmal empfinde ich es schmerzlich, dass der gute GeschmackAusblick.
das Moralisieren in einem Buch wie dem vorliegenden verbietet. Denn
sieht man jene prächtigen »Barbaren« jugendfrisch, frei, zu allem
Höchsten befähigt in die Weltgeschichte eintreten, gewahrt man
sodann, wie sie, die Sieger, die echten Freigeborenen des Aristoteles,
ihr reines Blut mit dem unreinen der Knechtgeborenen vermengen,
wie sie bei den unwürdigen Epigonen grosser Geschlechter in die
Lehre gehen müssen und sich nur unter unsäglichen Mühsalen aus
der Nacht dieses Chaos zu einem neuen Tage hindurchringen, muss
man des Weiteren erkennen, dass zu den alten Feinden und Gefahren
alle Tage neue hinzutreten, dass diese wie die früheren von den
Germanen mit offenen Armen aufgenommen, die warnenden Stimmen
mit leichtem Sinn belächelt werden, dass während jeder Feind unserer
Rasse mit vollem Bewusstsein und vollendeter List seine Absichten
verfolgt, wir — noch immer grosse, harmlose Barbaren, das ganze
Sinnen auf irdische und himmlische Ideale gerichtet, auf Besitz, auf
Entdeckungen, auf Erfindungen, auf Bierbrauen, auf Kunst und Meta-
physik, auf Liebe, und was weiss ich alles, doch jedes immer mit einem
Stich ins Unmögliche, ins nie zu Vollendende, ins Jenseitige, denn
sonst blieben wir lieber auf unseren Bärenhäuten liegen — wer es
beobachtet, sage ich, wie wir ohne Waffe, ohne Abwehr, ohne Be-
wusstsein irgend einer Gefahr unseren Weg gehen, immer von Neuem
bethört, immer bereit, das Fremde hochzuschätzen und das Eigene
gering zu achten, die gelehrtesten aller Menschen und doch so wenig
wissend über die uns zunächst umgebende Welt wie sonst keiner,
die grössten Entdecker und doch mit chronischer Blindheit geschlagen:
wer möchte da nicht moralisieren und etwa mit Ulrich von Hutten
ausrufen: »O, freiwillig unglückliches Deutschland, der du mit sehenden
Augen nicht siehst, und mit offenem Verstande nicht verstehst!« Doch
ich werde es nicht thun; ich fühle, dass dieses Amt mir nicht zukommt,
und diese hochmütige Nichtbeachtung, ich muss es gestehen, ist ein zu

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 34
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0552" n="529"/><fw place="top" type="header">Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.</fw><lb/>
bestimmter auszusprechen als es in diesen Worten geschieht: dort<lb/>
sonnige, übermütige, tollkühne Schaffenslust, Menschen, welche un-<lb/>
erschrocken die rechte Hand des Gottes, zu dem sie beten, ergreifen<lb/>
(S. 245), hier ein Leichnam, dem »die Vernichtung jedes eigenen<lb/>
Urteils« als erste Lebensregel beigebracht worden und für den »die<lb/>
schlotternde, knechtische Furcht« die Grundlage aller Religion ist.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p>Manchmal empfinde ich es schmerzlich, dass der gute Geschmack<note place="right">Ausblick.</note><lb/>
das Moralisieren in einem Buch wie dem vorliegenden verbietet. Denn<lb/>
sieht man jene prächtigen »Barbaren« jugendfrisch, frei, zu allem<lb/>
Höchsten befähigt in die Weltgeschichte eintreten, gewahrt man<lb/>
sodann, wie sie, die Sieger, die echten Freigeborenen des Aristoteles,<lb/>
ihr reines Blut mit dem unreinen der Knechtgeborenen vermengen,<lb/>
wie sie bei den unwürdigen Epigonen grosser Geschlechter in die<lb/>
Lehre gehen müssen und sich nur unter unsäglichen Mühsalen aus<lb/>
der Nacht dieses Chaos zu einem neuen Tage hindurchringen, muss<lb/>
man des Weiteren erkennen, dass zu den alten Feinden und Gefahren<lb/>
alle Tage neue hinzutreten, dass diese wie die früheren von den<lb/>
Germanen mit offenen Armen aufgenommen, die warnenden Stimmen<lb/>
mit leichtem Sinn belächelt werden, dass während jeder Feind unserer<lb/>
Rasse mit vollem Bewusstsein und vollendeter List seine Absichten<lb/>
verfolgt, wir &#x2014; noch immer grosse, harmlose Barbaren, das ganze<lb/>
Sinnen auf irdische und himmlische Ideale gerichtet, auf Besitz, auf<lb/>
Entdeckungen, auf Erfindungen, auf Bierbrauen, auf Kunst und Meta-<lb/>
physik, auf Liebe, und was weiss ich alles, doch jedes immer mit einem<lb/>
Stich ins Unmögliche, ins nie zu Vollendende, ins Jenseitige, denn<lb/>
sonst blieben wir lieber auf unseren Bärenhäuten liegen &#x2014; wer es<lb/>
beobachtet, sage ich, wie wir ohne Waffe, ohne Abwehr, ohne Be-<lb/>
wusstsein irgend einer Gefahr unseren Weg gehen, immer von Neuem<lb/>
bethört, immer bereit, das Fremde hochzuschätzen und das Eigene<lb/>
gering zu achten, die gelehrtesten aller Menschen und doch so wenig<lb/>
wissend über die uns zunächst umgebende Welt wie sonst keiner,<lb/>
die grössten Entdecker und doch mit chronischer Blindheit geschlagen:<lb/>
wer möchte da nicht moralisieren und etwa mit Ulrich von Hutten<lb/>
ausrufen: »O, freiwillig unglückliches Deutschland, der du mit sehenden<lb/>
Augen nicht siehst, und mit offenem Verstande nicht verstehst!« Doch<lb/>
ich werde es nicht thun; ich fühle, dass dieses Amt mir nicht zukommt,<lb/>
und diese hochmütige Nichtbeachtung, ich muss es gestehen, ist ein zu<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 34</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[529/0552] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. bestimmter auszusprechen als es in diesen Worten geschieht: dort sonnige, übermütige, tollkühne Schaffenslust, Menschen, welche un- erschrocken die rechte Hand des Gottes, zu dem sie beten, ergreifen (S. 245), hier ein Leichnam, dem »die Vernichtung jedes eigenen Urteils« als erste Lebensregel beigebracht worden und für den »die schlotternde, knechtische Furcht« die Grundlage aller Religion ist. Manchmal empfinde ich es schmerzlich, dass der gute Geschmack das Moralisieren in einem Buch wie dem vorliegenden verbietet. Denn sieht man jene prächtigen »Barbaren« jugendfrisch, frei, zu allem Höchsten befähigt in die Weltgeschichte eintreten, gewahrt man sodann, wie sie, die Sieger, die echten Freigeborenen des Aristoteles, ihr reines Blut mit dem unreinen der Knechtgeborenen vermengen, wie sie bei den unwürdigen Epigonen grosser Geschlechter in die Lehre gehen müssen und sich nur unter unsäglichen Mühsalen aus der Nacht dieses Chaos zu einem neuen Tage hindurchringen, muss man des Weiteren erkennen, dass zu den alten Feinden und Gefahren alle Tage neue hinzutreten, dass diese wie die früheren von den Germanen mit offenen Armen aufgenommen, die warnenden Stimmen mit leichtem Sinn belächelt werden, dass während jeder Feind unserer Rasse mit vollem Bewusstsein und vollendeter List seine Absichten verfolgt, wir — noch immer grosse, harmlose Barbaren, das ganze Sinnen auf irdische und himmlische Ideale gerichtet, auf Besitz, auf Entdeckungen, auf Erfindungen, auf Bierbrauen, auf Kunst und Meta- physik, auf Liebe, und was weiss ich alles, doch jedes immer mit einem Stich ins Unmögliche, ins nie zu Vollendende, ins Jenseitige, denn sonst blieben wir lieber auf unseren Bärenhäuten liegen — wer es beobachtet, sage ich, wie wir ohne Waffe, ohne Abwehr, ohne Be- wusstsein irgend einer Gefahr unseren Weg gehen, immer von Neuem bethört, immer bereit, das Fremde hochzuschätzen und das Eigene gering zu achten, die gelehrtesten aller Menschen und doch so wenig wissend über die uns zunächst umgebende Welt wie sonst keiner, die grössten Entdecker und doch mit chronischer Blindheit geschlagen: wer möchte da nicht moralisieren und etwa mit Ulrich von Hutten ausrufen: »O, freiwillig unglückliches Deutschland, der du mit sehenden Augen nicht siehst, und mit offenem Verstande nicht verstehst!« Doch ich werde es nicht thun; ich fühle, dass dieses Amt mir nicht zukommt, und diese hochmütige Nichtbeachtung, ich muss es gestehen, ist ein zu Ausblick. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 34

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/552
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/552>, abgerufen am 23.11.2024.