alten Gewohnheit gemäss, unter den Schutz hochverehrter Männer stellen.
Lessing schreibt in seinen Briefen, die neueste Litteratur be- treffend, die Geschichte solle sich "nicht bei unwichtigen Thatsachen aufhalten, nicht das Gedächtnis beschweren, sondern den Ver- stand erleuchten". In dieser Allgemeinheit besagt wohl der Satz zu viel. Für ein Buch aber, welches sich nicht an Historiker, sondern an die gebildete Laienwelt wendet, gilt er uneingeschränkt. Den Ver- stand erleuchten, nicht eigentlich belehren, sondern anregend wirken, Gedanken und Entschlüsse wecken, das wäre es, was ich gern leisten möchte.
Goethe fasst die Aufgabe der Geschichtsschreibung etwas ab- weichend von Lessing auf; er sagt: "Das Beste, was wir aus der Ge- schichte gewinnen, ist der Enthusiasmus". Auch dieser Worte bin ich bei meiner Arbeit eingedenk geblieben; denn ich bin der Über- zeugung, dass Verstand, und sei er noch so hell erleuchtet, wenig ausrichtet, ist er nicht mit Enthusiasmus gepaart. Der Verstand ist die Maschine; je vollkommener jede Einzelheit an ihr, je zielbewusster alle Teile in einander greifen, um so leistungsfähiger wird sie sein, -- aber doch nur virtualiter, denn, um getrieben zu werden, bedarf sie noch der treibenden Kraft, und diese ist die Begeisterung. Es dürfte nun zunächst schwer fallen, dem Winke Goethe's folgend, sich für unser 19. Jahrhundert speziell zu erwärmen, schon deswegen, weil die Eigenliebe etwas so Verächtliches ist; wir wollen uns streng prüfen und uns lieber unter- als überschätzen; mag die Zukunft milder ur- teilen. Ich finde es auch deswegen schwer, mich dafür zu begeistern, weil das Stoffliche in unserem Jahrhundert so sehr vorwiegt. Genau so wie unsere Schlachten zumeist nicht mehr durch die persönliche Vortrefflichkeit Einzelner, sondern durch die Zahl der Soldaten, oder noch einfacher gesagt, durch die Menge des Kanonenfutters gewonnen worden sind, genau ebenso hat man Schätze an Gold und Wissen und Erfindungen zusammengetragen. Alles ist immer zahlreicher, massiger, vollständiger, unübersichtlicher geworden, man hat gesammelt, aber nicht gesichtet; d. h., es ist dies die allgemeine Tendenz gewesen. Unser Jahrhundert ist wesentlich ein Jahrhundert des Anhäufens von Material, des Durchgangsstadiums, des Provisorischen; in anderen Be- ziehungen ist es weder Fisch noch Fleisch, es pendelt zwischen Empirismus und Spiritismus, zwischen dem Liberalismus vulgaris, wie man es witzig genannt hat, und den impotenten Versuchen seniler
Allgemeine Einleitung.
alten Gewohnheit gemäss, unter den Schutz hochverehrter Männer stellen.
Lessing schreibt in seinen Briefen, die neueste Litteratur be- treffend, die Geschichte solle sich »nicht bei unwichtigen Thatsachen aufhalten, nicht das Gedächtnis beschweren, sondern den Ver- stand erleuchten«. In dieser Allgemeinheit besagt wohl der Satz zu viel. Für ein Buch aber, welches sich nicht an Historiker, sondern an die gebildete Laienwelt wendet, gilt er uneingeschränkt. Den Ver- stand erleuchten, nicht eigentlich belehren, sondern anregend wirken, Gedanken und Entschlüsse wecken, das wäre es, was ich gern leisten möchte.
Goethe fasst die Aufgabe der Geschichtsschreibung etwas ab- weichend von Lessing auf; er sagt: »Das Beste, was wir aus der Ge- schichte gewinnen, ist der Enthusiasmus«. Auch dieser Worte bin ich bei meiner Arbeit eingedenk geblieben; denn ich bin der Über- zeugung, dass Verstand, und sei er noch so hell erleuchtet, wenig ausrichtet, ist er nicht mit Enthusiasmus gepaart. Der Verstand ist die Maschine; je vollkommener jede Einzelheit an ihr, je zielbewusster alle Teile in einander greifen, um so leistungsfähiger wird sie sein, — aber doch nur virtualiter, denn, um getrieben zu werden, bedarf sie noch der treibenden Kraft, und diese ist die Begeisterung. Es dürfte nun zunächst schwer fallen, dem Winke Goethe’s folgend, sich für unser 19. Jahrhundert speziell zu erwärmen, schon deswegen, weil die Eigenliebe etwas so Verächtliches ist; wir wollen uns streng prüfen und uns lieber unter- als überschätzen; mag die Zukunft milder ur- teilen. Ich finde es auch deswegen schwer, mich dafür zu begeistern, weil das Stoffliche in unserem Jahrhundert so sehr vorwiegt. Genau so wie unsere Schlachten zumeist nicht mehr durch die persönliche Vortrefflichkeit Einzelner, sondern durch die Zahl der Soldaten, oder noch einfacher gesagt, durch die Menge des Kanonenfutters gewonnen worden sind, genau ebenso hat man Schätze an Gold und Wissen und Erfindungen zusammengetragen. Alles ist immer zahlreicher, massiger, vollständiger, unübersichtlicher geworden, man hat gesammelt, aber nicht gesichtet; d. h., es ist dies die allgemeine Tendenz gewesen. Unser Jahrhundert ist wesentlich ein Jahrhundert des Anhäufens von Material, des Durchgangsstadiums, des Provisorischen; in anderen Be- ziehungen ist es weder Fisch noch Fleisch, es pendelt zwischen Empirismus und Spiritismus, zwischen dem Liberalismus vulgaris, wie man es witzig genannt hat, und den impotenten Versuchen seniler
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Allgemeine Einleitung.
alten Gewohnheit gemäss, unter den Schutz hochverehrter Männer
stellen.
Lessing schreibt in seinen Briefen, die neueste Litteratur be-
treffend, die Geschichte solle sich »nicht bei unwichtigen Thatsachen
aufhalten, nicht das Gedächtnis beschweren, sondern den Ver-
stand erleuchten«. In dieser Allgemeinheit besagt wohl der Satz
zu viel. Für ein Buch aber, welches sich nicht an Historiker, sondern
an die gebildete Laienwelt wendet, gilt er uneingeschränkt. Den Ver-
stand erleuchten, nicht eigentlich belehren, sondern anregend wirken,
Gedanken und Entschlüsse wecken, das wäre es, was ich gern leisten
möchte.
Goethe fasst die Aufgabe der Geschichtsschreibung etwas ab-
weichend von Lessing auf; er sagt: »Das Beste, was wir aus der Ge-
schichte gewinnen, ist der Enthusiasmus«. Auch dieser Worte bin
ich bei meiner Arbeit eingedenk geblieben; denn ich bin der Über-
zeugung, dass Verstand, und sei er noch so hell erleuchtet, wenig
ausrichtet, ist er nicht mit Enthusiasmus gepaart. Der Verstand ist
die Maschine; je vollkommener jede Einzelheit an ihr, je zielbewusster
alle Teile in einander greifen, um so leistungsfähiger wird sie sein, —
aber doch nur virtualiter, denn, um getrieben zu werden, bedarf sie
noch der treibenden Kraft, und diese ist die Begeisterung. Es dürfte
nun zunächst schwer fallen, dem Winke Goethe’s folgend, sich für
unser 19. Jahrhundert speziell zu erwärmen, schon deswegen, weil
die Eigenliebe etwas so Verächtliches ist; wir wollen uns streng prüfen
und uns lieber unter- als überschätzen; mag die Zukunft milder ur-
teilen. Ich finde es auch deswegen schwer, mich dafür zu begeistern,
weil das Stoffliche in unserem Jahrhundert so sehr vorwiegt. Genau
so wie unsere Schlachten zumeist nicht mehr durch die persönliche
Vortrefflichkeit Einzelner, sondern durch die Zahl der Soldaten, oder
noch einfacher gesagt, durch die Menge des Kanonenfutters gewonnen
worden sind, genau ebenso hat man Schätze an Gold und Wissen und
Erfindungen zusammengetragen. Alles ist immer zahlreicher, massiger,
vollständiger, unübersichtlicher geworden, man hat gesammelt, aber
nicht gesichtet; d. h., es ist dies die allgemeine Tendenz gewesen.
Unser Jahrhundert ist wesentlich ein Jahrhundert des Anhäufens von
Material, des Durchgangsstadiums, des Provisorischen; in anderen Be-
ziehungen ist es weder Fisch noch Fleisch, es pendelt zwischen
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wie man es witzig genannt hat, und den impotenten Versuchen seniler
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/54>, abgerufen am 23.11.2024.
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