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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
welcher, wie schon der alte Widukind sagt, zuerst aus den Deutschen
quasi una gens gemacht hat, und insofern ist er der wahre Urheber
des heutigen nicht mehr "heiligen römischen", sondern "heiligen
deutschen" Reiches. Die römische Kirche dagegen war von Hause
aus und notwendiger Weise die Schild- und Waffenträgerin aller anti-
germanischen Bestrebungen; sie war es von Anfang an, musste es
aber täglich mehr und offener werden, und war es daher nie deut-
licher als am heutigen Tage. Und dennoch verdankt sie ihre Existenz
den Germanen! Ich rede hier gar nicht von Glaubensdingen, sondern
von dem Papsttum als idealer Weltmacht; gläubige Katholiken, die
ich im Herzen verehre, haben dasselbe eingesehen und ausgesprochen.
Um nur ein einziges Beispiel zu geben, welches sich ausserdem an
vor Kurzem Gesagtes anschliesst: wir sahen, dass die religiöse Toleranz
dem Germanen, als einem freiheitlich gesinnten Manne, und als einem
Manne, dem die Religion ein inneres Erlebnis bedeutet, von Hause
aus natürlich ist; vor der Besitzergreifung des römischen Reiches durch
die Goten war die Verfolgung an der Tagesordnung gewesen, dann
aber unterblieb sie lange Zeit, denn die Germanen machten ihr ein
Ende. Erst als die Lehren und die Leidenschaften des Völkerchaos
den Germanen seinem eignen Selbst entfremdet hatten, begann der
Franke den Sachsen das Christentum mit dem Schwerte zu predigen.
Aus dem De civitate Dei entnahm Karl seine Pflicht zur gewaltsamen
Bekehrung,1) wozu er von dem Papst, der ihm den Titel Christianissimus
Rex
verlieh, unaufhörlich angetrieben wurde; und so wütete jener
erste Dreissigjährige Krieg unter germanischen Brüdern, verheerend,
zerstörend, unauslöschbaren Hass säend, nicht aus eigenem Antrieb,
sondern dank dem Einfluss Roms, genau ebenso, wie neunhundert
Jahre später der zweite Dreissigjährige Krieg, den in manchen Teilen
Deutschlands nur ein Fünfzigstel der Einwohner überlebte -- jeden-
falls eine praktische Art, die Germanen los zu werden, sie unter
einander sich vertilgen zu lassen! Und inzwischen war die Lehre
des Augustinus, des afrikanischen Mestizen, das Dogma der prinzipiellen
Intoleranz und der Bestrafung der Häresie mit dem Tode in die
Kirche eingedrungen und wurde, sobald das germanische Element
genügend geschwächt, das antigermanische Element genügend gestärkt
war, feierlich zum Gesetz erklärt und während einem halben Jahr-
tausend, inmitten einer sonst auf allen Gebieten fortschreitenden

1) Hodgkin: Charles the Great, 1897, p. 107, 248.
33 *

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
welcher, wie schon der alte Widukind sagt, zuerst aus den Deutschen
quasi una gens gemacht hat, und insofern ist er der wahre Urheber
des heutigen nicht mehr »heiligen römischen«, sondern »heiligen
deutschen« Reiches. Die römische Kirche dagegen war von Hause
aus und notwendiger Weise die Schild- und Waffenträgerin aller anti-
germanischen Bestrebungen; sie war es von Anfang an, musste es
aber täglich mehr und offener werden, und war es daher nie deut-
licher als am heutigen Tage. Und dennoch verdankt sie ihre Existenz
den Germanen! Ich rede hier gar nicht von Glaubensdingen, sondern
von dem Papsttum als idealer Weltmacht; gläubige Katholiken, die
ich im Herzen verehre, haben dasselbe eingesehen und ausgesprochen.
Um nur ein einziges Beispiel zu geben, welches sich ausserdem an
vor Kurzem Gesagtes anschliesst: wir sahen, dass die religiöse Toleranz
dem Germanen, als einem freiheitlich gesinnten Manne, und als einem
Manne, dem die Religion ein inneres Erlebnis bedeutet, von Hause
aus natürlich ist; vor der Besitzergreifung des römischen Reiches durch
die Goten war die Verfolgung an der Tagesordnung gewesen, dann
aber unterblieb sie lange Zeit, denn die Germanen machten ihr ein
Ende. Erst als die Lehren und die Leidenschaften des Völkerchaos
den Germanen seinem eignen Selbst entfremdet hatten, begann der
Franke den Sachsen das Christentum mit dem Schwerte zu predigen.
Aus dem De civitate Dei entnahm Karl seine Pflicht zur gewaltsamen
Bekehrung,1) wozu er von dem Papst, der ihm den Titel Christianissimus
Rex
verlieh, unaufhörlich angetrieben wurde; und so wütete jener
erste Dreissigjährige Krieg unter germanischen Brüdern, verheerend,
zerstörend, unauslöschbaren Hass säend, nicht aus eigenem Antrieb,
sondern dank dem Einfluss Roms, genau ebenso, wie neunhundert
Jahre später der zweite Dreissigjährige Krieg, den in manchen Teilen
Deutschlands nur ein Fünfzigstel der Einwohner überlebte — jeden-
falls eine praktische Art, die Germanen los zu werden, sie unter
einander sich vertilgen zu lassen! Und inzwischen war die Lehre
des Augustinus, des afrikanischen Mestizen, das Dogma der prinzipiellen
Intoleranz und der Bestrafung der Häresie mit dem Tode in die
Kirche eingedrungen und wurde, sobald das germanische Element
genügend geschwächt, das antigermanische Element genügend gestärkt
war, feierlich zum Gesetz erklärt und während einem halben Jahr-
tausend, inmitten einer sonst auf allen Gebieten fortschreitenden

1) Hodgkin: Charles the Great, 1897, p. 107, 248.
33 *
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[515/0538] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. welcher, wie schon der alte Widukind sagt, zuerst aus den Deutschen quasi una gens gemacht hat, und insofern ist er der wahre Urheber des heutigen nicht mehr »heiligen römischen«, sondern »heiligen deutschen« Reiches. Die römische Kirche dagegen war von Hause aus und notwendiger Weise die Schild- und Waffenträgerin aller anti- germanischen Bestrebungen; sie war es von Anfang an, musste es aber täglich mehr und offener werden, und war es daher nie deut- licher als am heutigen Tage. Und dennoch verdankt sie ihre Existenz den Germanen! Ich rede hier gar nicht von Glaubensdingen, sondern von dem Papsttum als idealer Weltmacht; gläubige Katholiken, die ich im Herzen verehre, haben dasselbe eingesehen und ausgesprochen. Um nur ein einziges Beispiel zu geben, welches sich ausserdem an vor Kurzem Gesagtes anschliesst: wir sahen, dass die religiöse Toleranz dem Germanen, als einem freiheitlich gesinnten Manne, und als einem Manne, dem die Religion ein inneres Erlebnis bedeutet, von Hause aus natürlich ist; vor der Besitzergreifung des römischen Reiches durch die Goten war die Verfolgung an der Tagesordnung gewesen, dann aber unterblieb sie lange Zeit, denn die Germanen machten ihr ein Ende. Erst als die Lehren und die Leidenschaften des Völkerchaos den Germanen seinem eignen Selbst entfremdet hatten, begann der Franke den Sachsen das Christentum mit dem Schwerte zu predigen. Aus dem De civitate Dei entnahm Karl seine Pflicht zur gewaltsamen Bekehrung, 1) wozu er von dem Papst, der ihm den Titel Christianissimus Rex verlieh, unaufhörlich angetrieben wurde; und so wütete jener erste Dreissigjährige Krieg unter germanischen Brüdern, verheerend, zerstörend, unauslöschbaren Hass säend, nicht aus eigenem Antrieb, sondern dank dem Einfluss Roms, genau ebenso, wie neunhundert Jahre später der zweite Dreissigjährige Krieg, den in manchen Teilen Deutschlands nur ein Fünfzigstel der Einwohner überlebte — jeden- falls eine praktische Art, die Germanen los zu werden, sie unter einander sich vertilgen zu lassen! Und inzwischen war die Lehre des Augustinus, des afrikanischen Mestizen, das Dogma der prinzipiellen Intoleranz und der Bestrafung der Häresie mit dem Tode in die Kirche eingedrungen und wurde, sobald das germanische Element genügend geschwächt, das antigermanische Element genügend gestärkt war, feierlich zum Gesetz erklärt und während einem halben Jahr- tausend, inmitten einer sonst auf allen Gebieten fortschreitenden 1) Hodgkin: Charles the Great, 1897, p. 107, 248. 33 *

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/538>, abgerufen am 17.06.2024.