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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
diese germanische Treue ist, was aber nur gelingen kann, wenn man
vorher die Freiheit als den intellektuellen Untergrund des gesamten
Wesens erfasst hat. Denn das Kennzeichen dieser Treue ist ihre freie
Selbstbestimmung; das ist es, was sie unterscheidet. Ein menschlicher
Charakter gleicht dem Wesen Gottes wie es die Theologen darstellen:
mannigfaltig und doch ununterscheidbar, untrennbar einheitlich. Diese
Treue und jene Freiheit wachsen nicht eine aus der anderen, sondern
sind zwei Erscheinungsformen desselben Charakters, welcher sich uns
einmal mehr von der intellektuellen, das andere Mal mehr von der
moralischen Seite zeigt. Der Neger und der Hund dienen ihrem
Herrn, wer er auch sei: das ist die Moral des Schwachen, oder wie
Aristoteles sagt, des von Natur zum Sklaven geborenen; der Germane
wählt sich seinen Herrn, und seine Treue ist daher Treue gegen
sich selbst: das ist die Moral des Freigeborenen. Doch hatte sie die
Welt noch niemals in der Art erblickt wie beim Germanen. Die
Untreue des übermässig begabten Verkünders der poetischen und
politischen Freiheit, nämlich des Hellenen, war von jeher sprich-
wörtlich; der Römer war nur treu in der Verteidigung des Seinen,
deutsche Treue blieb ihm, wie Lamprecht sagt, "unverstanden"; näher
scheint hier (wie überhaupt auf moralischem Gebiete) die Verwandt-
schaft mit den Indoeraniern, doch fehlte diesen so auffällig der
künstlerische Zug ins Abenteuerliche, das Leben frei Gestaltende, dass
auch ihre Treue jene schöpferische, weltgeschichtliche Bedeutung nicht
erlangte, welche germanische Sinnesart ihr verlieh. Hier wieder, wie
vorhin bei der Betrachtung des Freiheitsgefühles, finden wir bei dem
Germanen eine höhere Harmonie des Charakters; daher dürfen wir
sagen, dass auf dem Erdenrund kein Mensch, auch die grössten nicht,
ihn übertroffen hat. Eines ist sicher: will man die geschichtliche
Grösse des Germanen erklären, indem man sie in ein einziges Wort
zusammenfasst -- immer ein bedenkliches Unternehmen, da alles
Lebendige Proteus-artig ist -- so muss man seine Treue nennen.
Das ist der Mittelpunkt, von wo aus der gesamte Charakter, oder
besser die gesamte Persönlichkeit sich überblicken lässt. Nur muss
man wohl verstehen, dass diese Treue nicht der Urgrund ist, wie
Lamprecht meint, nicht die Wurzel, sondern die Blüte, die Frucht,
an welcher wir den Baum erkennen. Daher ist gerade diese Treue
der feinste Prüfstein, um echtes germanisches Wesen von unechtem
zu scheiden, denn nicht an den Wurzeln, sondern an den Früchten
erkennt man die Arten; doch bedenke man, dass bei schlechter

Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte.
diese germanische Treue ist, was aber nur gelingen kann, wenn man
vorher die Freiheit als den intellektuellen Untergrund des gesamten
Wesens erfasst hat. Denn das Kennzeichen dieser Treue ist ihre freie
Selbstbestimmung; das ist es, was sie unterscheidet. Ein menschlicher
Charakter gleicht dem Wesen Gottes wie es die Theologen darstellen:
mannigfaltig und doch ununterscheidbar, untrennbar einheitlich. Diese
Treue und jene Freiheit wachsen nicht eine aus der anderen, sondern
sind zwei Erscheinungsformen desselben Charakters, welcher sich uns
einmal mehr von der intellektuellen, das andere Mal mehr von der
moralischen Seite zeigt. Der Neger und der Hund dienen ihrem
Herrn, wer er auch sei: das ist die Moral des Schwachen, oder wie
Aristoteles sagt, des von Natur zum Sklaven geborenen; der Germane
wählt sich seinen Herrn, und seine Treue ist daher Treue gegen
sich selbst: das ist die Moral des Freigeborenen. Doch hatte sie die
Welt noch niemals in der Art erblickt wie beim Germanen. Die
Untreue des übermässig begabten Verkünders der poetischen und
politischen Freiheit, nämlich des Hellenen, war von jeher sprich-
wörtlich; der Römer war nur treu in der Verteidigung des Seinen,
deutsche Treue blieb ihm, wie Lamprecht sagt, »unverstanden«; näher
scheint hier (wie überhaupt auf moralischem Gebiete) die Verwandt-
schaft mit den Indoeraniern, doch fehlte diesen so auffällig der
künstlerische Zug ins Abenteuerliche, das Leben frei Gestaltende, dass
auch ihre Treue jene schöpferische, weltgeschichtliche Bedeutung nicht
erlangte, welche germanische Sinnesart ihr verlieh. Hier wieder, wie
vorhin bei der Betrachtung des Freiheitsgefühles, finden wir bei dem
Germanen eine höhere Harmonie des Charakters; daher dürfen wir
sagen, dass auf dem Erdenrund kein Mensch, auch die grössten nicht,
ihn übertroffen hat. Eines ist sicher: will man die geschichtliche
Grösse des Germanen erklären, indem man sie in ein einziges Wort
zusammenfasst — immer ein bedenkliches Unternehmen, da alles
Lebendige Proteus-artig ist — so muss man seine Treue nennen.
Das ist der Mittelpunkt, von wo aus der gesamte Charakter, oder
besser die gesamte Persönlichkeit sich überblicken lässt. Nur muss
man wohl verstehen, dass diese Treue nicht der Urgrund ist, wie
Lamprecht meint, nicht die Wurzel, sondern die Blüte, die Frucht,
an welcher wir den Baum erkennen. Daher ist gerade diese Treue
der feinste Prüfstein, um echtes germanisches Wesen von unechtem
zu scheiden, denn nicht an den Wurzeln, sondern an den Früchten
erkennt man die Arten; doch bedenke man, dass bei schlechter

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[507/0530] Der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. diese germanische Treue ist, was aber nur gelingen kann, wenn man vorher die Freiheit als den intellektuellen Untergrund des gesamten Wesens erfasst hat. Denn das Kennzeichen dieser Treue ist ihre freie Selbstbestimmung; das ist es, was sie unterscheidet. Ein menschlicher Charakter gleicht dem Wesen Gottes wie es die Theologen darstellen: mannigfaltig und doch ununterscheidbar, untrennbar einheitlich. Diese Treue und jene Freiheit wachsen nicht eine aus der anderen, sondern sind zwei Erscheinungsformen desselben Charakters, welcher sich uns einmal mehr von der intellektuellen, das andere Mal mehr von der moralischen Seite zeigt. Der Neger und der Hund dienen ihrem Herrn, wer er auch sei: das ist die Moral des Schwachen, oder wie Aristoteles sagt, des von Natur zum Sklaven geborenen; der Germane wählt sich seinen Herrn, und seine Treue ist daher Treue gegen sich selbst: das ist die Moral des Freigeborenen. Doch hatte sie die Welt noch niemals in der Art erblickt wie beim Germanen. Die Untreue des übermässig begabten Verkünders der poetischen und politischen Freiheit, nämlich des Hellenen, war von jeher sprich- wörtlich; der Römer war nur treu in der Verteidigung des Seinen, deutsche Treue blieb ihm, wie Lamprecht sagt, »unverstanden«; näher scheint hier (wie überhaupt auf moralischem Gebiete) die Verwandt- schaft mit den Indoeraniern, doch fehlte diesen so auffällig der künstlerische Zug ins Abenteuerliche, das Leben frei Gestaltende, dass auch ihre Treue jene schöpferische, weltgeschichtliche Bedeutung nicht erlangte, welche germanische Sinnesart ihr verlieh. Hier wieder, wie vorhin bei der Betrachtung des Freiheitsgefühles, finden wir bei dem Germanen eine höhere Harmonie des Charakters; daher dürfen wir sagen, dass auf dem Erdenrund kein Mensch, auch die grössten nicht, ihn übertroffen hat. Eines ist sicher: will man die geschichtliche Grösse des Germanen erklären, indem man sie in ein einziges Wort zusammenfasst — immer ein bedenkliches Unternehmen, da alles Lebendige Proteus-artig ist — so muss man seine Treue nennen. Das ist der Mittelpunkt, von wo aus der gesamte Charakter, oder besser die gesamte Persönlichkeit sich überblicken lässt. Nur muss man wohl verstehen, dass diese Treue nicht der Urgrund ist, wie Lamprecht meint, nicht die Wurzel, sondern die Blüte, die Frucht, an welcher wir den Baum erkennen. Daher ist gerade diese Treue der feinste Prüfstein, um echtes germanisches Wesen von unechtem zu scheiden, denn nicht an den Wurzeln, sondern an den Früchten erkennt man die Arten; doch bedenke man, dass bei schlechter

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/530>, abgerufen am 24.11.2024.