Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Allgemeine Einleitung.
gewiss unmöglich ist, durch ein einziges Wort uns selber und der
Vergangenheit gerecht zu werden. Eine derartige fixe Idee genügt,
um das Verständnis des geschichtlichen Werdens unmöglich zu machen.

Ganz allgemein wird z. B. das 19. Jahrhundert das "Jahr-
hundert der Naturwissenschaft"
genannt. Wer nun sich ver-
gegenwärtigt, was das 16., 17. und 18. Jahrhundert gerade auf diesem
Gebiete geleistet haben, wird sich wohl bedenken, ehe er so ohne
Weiteres dem unseren den Titel: "das naturwissenschaftliche Jahr-
hundert" verleiht. Wir haben nur weiter ausgebaut und durch Fleiss
gar vieles entdeckt; ob wir aber auf einen Kopernikus und einen Galileo,
auf einen Kepler und einen Newton, auf einen Lavoisier und einen
Bichat1) hinweisen können, erscheint mir mindestens zweifelhaft. Cuvier's
Thätigkeit erreicht freilich die Würde philosophischer Bedeutung, und
die Beobachtungs- und Erfindungsgabe von Männern wie Bunsen
(der Chemiker) und Pasteur streift an das Geniale; man wird aber
mindestens zugeben müssen, dass ihre Leistungen die ihrer Vorgänger
nicht übertreffen. Vor etlichen Jahren sagte mir ein sowohl durch
theoretische wie durch praktische Arbeiten rühmlichst bekannter
Hochschullehrer der medizinischen Fakultät: "Bei uns Gelehrten
kommt es nunmehr viel weniger auf die Gehirnwindungen an als
auf das Sitzfleisch." Es hiesse nun wirklich zu bescheiden sein
und den Nachdruck auf das Nebensächliche legen, wenn wir unser
Jahrhundert als das Jahrhundert des Sitzfleisches bezeichnen
wollten! Um so mehr, als die Benennung als Jahrhundert des
rollenden Rades
jedenfalls mindestens ebenso berechtigt wäre für
eine Zeit, welche die Eisenbahn und das Zweirad hervorgebracht hat.
Besser wäre jedenfalls der allgemein gehaltene Name: Jahrhundert
der Wissenschaft,
worunter man zu verstehen hätte, dass der Geist
exakter Forschung, von Roger Bacon zuerst kategorisch gefordert, nun-
nunmehr alle Disziplinen unterjocht hat. Dieser Geist hat aber, wohl
betrachtet, zu weniger überraschenden Resultaten auf dem Gebiete der
Naturwissenschaft geführt, wo ja seit uralten Zeiten die exakte Beob-
achtung der Gestirne die Grundlage alles Wissens bildete, als auf anderen
Gebieten, wo bisher die Willkür ziemlich unumschränkt geherrscht hatte.
Vielleicht hiesse es etwas sehr Wahres, für unser Jahrhundert speziell
Kennzeichnendes sagen, zugleich etwas den meisten Gebildeten nicht
recht Bewusstes, wenn man von einem Jahrhundert der Philo-

1) Er starb 1802.

Allgemeine Einleitung.
gewiss unmöglich ist, durch ein einziges Wort uns selber und der
Vergangenheit gerecht zu werden. Eine derartige fixe Idee genügt,
um das Verständnis des geschichtlichen Werdens unmöglich zu machen.

Ganz allgemein wird z. B. das 19. Jahrhundert das »Jahr-
hundert der Naturwissenschaft«
genannt. Wer nun sich ver-
gegenwärtigt, was das 16., 17. und 18. Jahrhundert gerade auf diesem
Gebiete geleistet haben, wird sich wohl bedenken, ehe er so ohne
Weiteres dem unseren den Titel: »das naturwissenschaftliche Jahr-
hundert« verleiht. Wir haben nur weiter ausgebaut und durch Fleiss
gar vieles entdeckt; ob wir aber auf einen Kopernikus und einen Galileo,
auf einen Kepler und einen Newton, auf einen Lavoisier und einen
Bichat1) hinweisen können, erscheint mir mindestens zweifelhaft. Cuvier’s
Thätigkeit erreicht freilich die Würde philosophischer Bedeutung, und
die Beobachtungs- und Erfindungsgabe von Männern wie Bunsen
(der Chemiker) und Pasteur streift an das Geniale; man wird aber
mindestens zugeben müssen, dass ihre Leistungen die ihrer Vorgänger
nicht übertreffen. Vor etlichen Jahren sagte mir ein sowohl durch
theoretische wie durch praktische Arbeiten rühmlichst bekannter
Hochschullehrer der medizinischen Fakultät: »Bei uns Gelehrten
kommt es nunmehr viel weniger auf die Gehirnwindungen an als
auf das Sitzfleisch.« Es hiesse nun wirklich zu bescheiden sein
und den Nachdruck auf das Nebensächliche legen, wenn wir unser
Jahrhundert als das Jahrhundert des Sitzfleisches bezeichnen
wollten! Um so mehr, als die Benennung als Jahrhundert des
rollenden Rades
jedenfalls mindestens ebenso berechtigt wäre für
eine Zeit, welche die Eisenbahn und das Zweirad hervorgebracht hat.
Besser wäre jedenfalls der allgemein gehaltene Name: Jahrhundert
der Wissenschaft,
worunter man zu verstehen hätte, dass der Geist
exakter Forschung, von Roger Bacon zuerst kategorisch gefordert, nun-
nunmehr alle Disziplinen unterjocht hat. Dieser Geist hat aber, wohl
betrachtet, zu weniger überraschenden Resultaten auf dem Gebiete der
Naturwissenschaft geführt, wo ja seit uralten Zeiten die exakte Beob-
achtung der Gestirne die Grundlage alles Wissens bildete, als auf anderen
Gebieten, wo bisher die Willkür ziemlich unumschränkt geherrscht hatte.
Vielleicht hiesse es etwas sehr Wahres, für unser Jahrhundert speziell
Kennzeichnendes sagen, zugleich etwas den meisten Gebildeten nicht
recht Bewusstes, wenn man von einem Jahrhundert der Philo-

1) Er starb 1802.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0051" n="28"/><fw place="top" type="header">Allgemeine Einleitung.</fw><lb/>
gewiss unmöglich ist, durch ein einziges Wort uns selber und der<lb/>
Vergangenheit gerecht zu werden. Eine derartige fixe Idee genügt,<lb/>
um das Verständnis des geschichtlichen Werdens unmöglich zu machen.</p><lb/>
        <p>Ganz allgemein wird z. B. das 19. Jahrhundert das <hi rendition="#g">»Jahr-<lb/>
hundert der Naturwissenschaft«</hi> genannt. Wer nun sich ver-<lb/>
gegenwärtigt, was das 16., 17. und 18. Jahrhundert gerade auf diesem<lb/>
Gebiete geleistet haben, wird sich wohl bedenken, ehe er so ohne<lb/>
Weiteres dem unseren den Titel: »das naturwissenschaftliche Jahr-<lb/>
hundert« verleiht. Wir haben nur weiter ausgebaut und durch Fleiss<lb/>
gar vieles entdeckt; ob wir aber auf einen Kopernikus und einen Galileo,<lb/>
auf einen Kepler und einen Newton, auf einen Lavoisier und einen<lb/>
Bichat<note place="foot" n="1)">Er starb 1802.</note> hinweisen können, erscheint mir mindestens zweifelhaft. Cuvier&#x2019;s<lb/>
Thätigkeit erreicht freilich die Würde philosophischer Bedeutung, und<lb/>
die Beobachtungs- und Erfindungsgabe von Männern wie Bunsen<lb/>
(der Chemiker) und Pasteur streift an das Geniale; man wird aber<lb/>
mindestens zugeben müssen, dass ihre Leistungen die ihrer Vorgänger<lb/>
nicht übertreffen. Vor etlichen Jahren sagte mir ein sowohl durch<lb/>
theoretische wie durch praktische Arbeiten rühmlichst bekannter<lb/>
Hochschullehrer der medizinischen Fakultät: »Bei uns Gelehrten<lb/>
kommt es nunmehr viel weniger auf die Gehirnwindungen an als<lb/>
auf das <hi rendition="#g">Sitzfleisch.</hi>« Es hiesse nun wirklich zu bescheiden sein<lb/>
und den Nachdruck auf das Nebensächliche legen, wenn wir unser<lb/>
Jahrhundert als das <hi rendition="#g">Jahrhundert des Sitzfleisches</hi> bezeichnen<lb/>
wollten! Um so mehr, als die Benennung als <hi rendition="#g">Jahrhundert des<lb/>
rollenden Rades</hi> jedenfalls mindestens ebenso berechtigt wäre für<lb/>
eine Zeit, welche die Eisenbahn und das Zweirad hervorgebracht hat.<lb/>
Besser wäre jedenfalls der allgemein gehaltene Name: <hi rendition="#g">Jahrhundert<lb/>
der Wissenschaft,</hi> worunter man zu verstehen hätte, dass der Geist<lb/>
exakter Forschung, von Roger Bacon zuerst kategorisch gefordert, nun-<lb/>
nunmehr alle Disziplinen unterjocht hat. Dieser Geist hat aber, wohl<lb/>
betrachtet, zu weniger überraschenden Resultaten auf dem Gebiete der<lb/>
Naturwissenschaft geführt, wo ja seit uralten Zeiten die exakte Beob-<lb/>
achtung der Gestirne die Grundlage alles Wissens bildete, als auf anderen<lb/>
Gebieten, wo bisher die Willkür ziemlich unumschränkt geherrscht hatte.<lb/>
Vielleicht hiesse es etwas sehr Wahres, für unser Jahrhundert speziell<lb/>
Kennzeichnendes sagen, zugleich etwas den meisten Gebildeten nicht<lb/>
recht Bewusstes, wenn man von einem <hi rendition="#g">Jahrhundert der Philo-</hi><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0051] Allgemeine Einleitung. gewiss unmöglich ist, durch ein einziges Wort uns selber und der Vergangenheit gerecht zu werden. Eine derartige fixe Idee genügt, um das Verständnis des geschichtlichen Werdens unmöglich zu machen. Ganz allgemein wird z. B. das 19. Jahrhundert das »Jahr- hundert der Naturwissenschaft« genannt. Wer nun sich ver- gegenwärtigt, was das 16., 17. und 18. Jahrhundert gerade auf diesem Gebiete geleistet haben, wird sich wohl bedenken, ehe er so ohne Weiteres dem unseren den Titel: »das naturwissenschaftliche Jahr- hundert« verleiht. Wir haben nur weiter ausgebaut und durch Fleiss gar vieles entdeckt; ob wir aber auf einen Kopernikus und einen Galileo, auf einen Kepler und einen Newton, auf einen Lavoisier und einen Bichat 1) hinweisen können, erscheint mir mindestens zweifelhaft. Cuvier’s Thätigkeit erreicht freilich die Würde philosophischer Bedeutung, und die Beobachtungs- und Erfindungsgabe von Männern wie Bunsen (der Chemiker) und Pasteur streift an das Geniale; man wird aber mindestens zugeben müssen, dass ihre Leistungen die ihrer Vorgänger nicht übertreffen. Vor etlichen Jahren sagte mir ein sowohl durch theoretische wie durch praktische Arbeiten rühmlichst bekannter Hochschullehrer der medizinischen Fakultät: »Bei uns Gelehrten kommt es nunmehr viel weniger auf die Gehirnwindungen an als auf das Sitzfleisch.« Es hiesse nun wirklich zu bescheiden sein und den Nachdruck auf das Nebensächliche legen, wenn wir unser Jahrhundert als das Jahrhundert des Sitzfleisches bezeichnen wollten! Um so mehr, als die Benennung als Jahrhundert des rollenden Rades jedenfalls mindestens ebenso berechtigt wäre für eine Zeit, welche die Eisenbahn und das Zweirad hervorgebracht hat. Besser wäre jedenfalls der allgemein gehaltene Name: Jahrhundert der Wissenschaft, worunter man zu verstehen hätte, dass der Geist exakter Forschung, von Roger Bacon zuerst kategorisch gefordert, nun- nunmehr alle Disziplinen unterjocht hat. Dieser Geist hat aber, wohl betrachtet, zu weniger überraschenden Resultaten auf dem Gebiete der Naturwissenschaft geführt, wo ja seit uralten Zeiten die exakte Beob- achtung der Gestirne die Grundlage alles Wissens bildete, als auf anderen Gebieten, wo bisher die Willkür ziemlich unumschränkt geherrscht hatte. Vielleicht hiesse es etwas sehr Wahres, für unser Jahrhundert speziell Kennzeichnendes sagen, zugleich etwas den meisten Gebildeten nicht recht Bewusstes, wenn man von einem Jahrhundert der Philo- 1) Er starb 1802.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/51
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/51>, abgerufen am 23.11.2024.