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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
"Natur" zu einem den Menschen umfassenden Ganzen erstrebte, seitens
des anderen, weil er als Metaphysiker und Moralist sich die Vor-
stellung der Perfektibilität nicht konnte rauben lassen, während der Dritte
mit dem Auge des Poeten auf allen Seiten Züge entdeckte, die ihm
auf Wesensverwandtschaft aller lebenden Organismen zu weisen
schienen, und er fürchten musste, seine tiefe Einsicht in ein abstraktes
Nichts sich verflüchtigen zu sehen, sobald diese Verwandtschaft nicht
als eine auf unmittelbarer Abstammung beruhende aufgefasst würde.
Das sind die Anfänge solcher Gedanken. In Geistern so phänome-
nalen Umfanges wie Goethe, Herder und Kant ist für sehr verschiedene
Anschauungen nebeneinander Platz; sie sind dem Gotte Spinoza's zu
vergleichen, dessen eine Substanz sich zu gleicher Zeit in verschiedenen
Formen äussert; in ihren Ideen über Metamorphose, Homologien und
Entwickelung kann ich keinen Widerspruch mit anderen Einsichten
finden und ich glaube, sie hätten unser heutiges Evolutionsdogma
ebenso verworfen wie dasjenige der Unveränderlichkeit.1) Ich komme
an anderem Orte hierauf zurück. Die überwiegende Mehrzahl der
ameisenartig emsigen Menschen ist nun gänzlich unfähig, sich zu solcher
genialen Anschauungsweise zu erheben; produktive Kraft kann in
weiten Schichten nur durch die Einfachheit gesunder Einseitigkeit er-
zeugt werden. Ein handgreiflich unhaltbares System wie dasjenige
Darwin's übt eine weit mächtigere Wirkung aus als die tiefsten Speku-
lationen, und zwar gerade seiner "Handgreiflichkeit" wegen. Und so
haben wir den Entwickelungsgedanken sich selbst "entwickeln" sehen,
bis er sich von der Biologie und Geologie aus auf alle Gebiete des

1) Man vergleiche hierzu die klassisch vollendete Ausführung Kant's,
welcher den Schlussabsatz des Abschnittes "Von dem regulativen Gebrauche der
Ideen der reinen Vernunft" in der Kritik der reinen Vernunft bildet. Der grosse
Denker weist hier darauf hin, wie so die Annahme einer "kontinuierlichen Stufen-
leiter der Geschöpfe" aus einem Interesse der Vernunft, doch nie und nimmer
aus der Beobachtung hervorgehe. "Die Sprossen einer solchen Leiter, so wie
sie uns Erfahrung angeben kann, stehen viel zu weit auseinander, und unsere
vermeintlich kleinen Unterschiede sind gemeiniglich in der Natur
selbst so weite Klüfte,
dass auf solche Beobachtungen (vornehmlich bei einer
grossen Mannigfaltigkeit von Dingen, da es immer leicht sein muss, gewisse Ähn-
lichkeiten und Annäherungen zu finden), als Absichten der Natur gar nichts zu
rechnen ist
" u. s. w. In seinen Recensionen über Herder wirft er der Evolutions-
hypothese vor, sie sei eine jener Ideen, "bei denen sich gar nichts denken lässt".
Kant, den selbst ein Haeckel "den bedeutendsten Vorläufer" Darwin's nennt, hatte
also zugleich das Antidot gegen den dogmatischen Missbrauch einer derartigen
Hypothese gereicht.

Allgemeine Einleitung.
»Natur« zu einem den Menschen umfassenden Ganzen erstrebte, seitens
des anderen, weil er als Metaphysiker und Moralist sich die Vor-
stellung der Perfektibilität nicht konnte rauben lassen, während der Dritte
mit dem Auge des Poeten auf allen Seiten Züge entdeckte, die ihm
auf Wesensverwandtschaft aller lebenden Organismen zu weisen
schienen, und er fürchten musste, seine tiefe Einsicht in ein abstraktes
Nichts sich verflüchtigen zu sehen, sobald diese Verwandtschaft nicht
als eine auf unmittelbarer Abstammung beruhende aufgefasst würde.
Das sind die Anfänge solcher Gedanken. In Geistern so phänome-
nalen Umfanges wie Goethe, Herder und Kant ist für sehr verschiedene
Anschauungen nebeneinander Platz; sie sind dem Gotte Spinoza’s zu
vergleichen, dessen eine Substanz sich zu gleicher Zeit in verschiedenen
Formen äussert; in ihren Ideen über Metamorphose, Homologien und
Entwickelung kann ich keinen Widerspruch mit anderen Einsichten
finden und ich glaube, sie hätten unser heutiges Evolutionsdogma
ebenso verworfen wie dasjenige der Unveränderlichkeit.1) Ich komme
an anderem Orte hierauf zurück. Die überwiegende Mehrzahl der
ameisenartig emsigen Menschen ist nun gänzlich unfähig, sich zu solcher
genialen Anschauungsweise zu erheben; produktive Kraft kann in
weiten Schichten nur durch die Einfachheit gesunder Einseitigkeit er-
zeugt werden. Ein handgreiflich unhaltbares System wie dasjenige
Darwin’s übt eine weit mächtigere Wirkung aus als die tiefsten Speku-
lationen, und zwar gerade seiner »Handgreiflichkeit« wegen. Und so
haben wir den Entwickelungsgedanken sich selbst »entwickeln« sehen,
bis er sich von der Biologie und Geologie aus auf alle Gebiete des

1) Man vergleiche hierzu die klassisch vollendete Ausführung Kant’s,
welcher den Schlussabsatz des Abschnittes »Von dem regulativen Gebrauche der
Ideen der reinen Vernunft« in der Kritik der reinen Vernunft bildet. Der grosse
Denker weist hier darauf hin, wie so die Annahme einer »kontinuierlichen Stufen-
leiter der Geschöpfe« aus einem Interesse der Vernunft, doch nie und nimmer
aus der Beobachtung hervorgehe. »Die Sprossen einer solchen Leiter, so wie
sie uns Erfahrung angeben kann, stehen viel zu weit auseinander, und unsere
vermeintlich kleinen Unterschiede sind gemeiniglich in der Natur
selbst so weite Klüfte,
dass auf solche Beobachtungen (vornehmlich bei einer
grossen Mannigfaltigkeit von Dingen, da es immer leicht sein muss, gewisse Ähn-
lichkeiten und Annäherungen zu finden), als Absichten der Natur gar nichts zu
rechnen ist
« u. s. w. In seinen Recensionen über Herder wirft er der Evolutions-
hypothese vor, sie sei eine jener Ideen, »bei denen sich gar nichts denken lässt«.
Kant, den selbst ein Haeckel »den bedeutendsten Vorläufer« Darwin’s nennt, hatte
also zugleich das Antidot gegen den dogmatischen Missbrauch einer derartigen
Hypothese gereicht.
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[25/0048] Allgemeine Einleitung. »Natur« zu einem den Menschen umfassenden Ganzen erstrebte, seitens des anderen, weil er als Metaphysiker und Moralist sich die Vor- stellung der Perfektibilität nicht konnte rauben lassen, während der Dritte mit dem Auge des Poeten auf allen Seiten Züge entdeckte, die ihm auf Wesensverwandtschaft aller lebenden Organismen zu weisen schienen, und er fürchten musste, seine tiefe Einsicht in ein abstraktes Nichts sich verflüchtigen zu sehen, sobald diese Verwandtschaft nicht als eine auf unmittelbarer Abstammung beruhende aufgefasst würde. Das sind die Anfänge solcher Gedanken. In Geistern so phänome- nalen Umfanges wie Goethe, Herder und Kant ist für sehr verschiedene Anschauungen nebeneinander Platz; sie sind dem Gotte Spinoza’s zu vergleichen, dessen eine Substanz sich zu gleicher Zeit in verschiedenen Formen äussert; in ihren Ideen über Metamorphose, Homologien und Entwickelung kann ich keinen Widerspruch mit anderen Einsichten finden und ich glaube, sie hätten unser heutiges Evolutionsdogma ebenso verworfen wie dasjenige der Unveränderlichkeit. 1) Ich komme an anderem Orte hierauf zurück. Die überwiegende Mehrzahl der ameisenartig emsigen Menschen ist nun gänzlich unfähig, sich zu solcher genialen Anschauungsweise zu erheben; produktive Kraft kann in weiten Schichten nur durch die Einfachheit gesunder Einseitigkeit er- zeugt werden. Ein handgreiflich unhaltbares System wie dasjenige Darwin’s übt eine weit mächtigere Wirkung aus als die tiefsten Speku- lationen, und zwar gerade seiner »Handgreiflichkeit« wegen. Und so haben wir den Entwickelungsgedanken sich selbst »entwickeln« sehen, bis er sich von der Biologie und Geologie aus auf alle Gebiete des 1) Man vergleiche hierzu die klassisch vollendete Ausführung Kant’s, welcher den Schlussabsatz des Abschnittes »Von dem regulativen Gebrauche der Ideen der reinen Vernunft« in der Kritik der reinen Vernunft bildet. Der grosse Denker weist hier darauf hin, wie so die Annahme einer »kontinuierlichen Stufen- leiter der Geschöpfe« aus einem Interesse der Vernunft, doch nie und nimmer aus der Beobachtung hervorgehe. »Die Sprossen einer solchen Leiter, so wie sie uns Erfahrung angeben kann, stehen viel zu weit auseinander, und unsere vermeintlich kleinen Unterschiede sind gemeiniglich in der Natur selbst so weite Klüfte, dass auf solche Beobachtungen (vornehmlich bei einer grossen Mannigfaltigkeit von Dingen, da es immer leicht sein muss, gewisse Ähn- lichkeiten und Annäherungen zu finden), als Absichten der Natur gar nichts zu rechnen ist« u. s. w. In seinen Recensionen über Herder wirft er der Evolutions- hypothese vor, sie sei eine jener Ideen, »bei denen sich gar nichts denken lässt«. Kant, den selbst ein Haeckel »den bedeutendsten Vorläufer« Darwin’s nennt, hatte also zugleich das Antidot gegen den dogmatischen Missbrauch einer derartigen Hypothese gereicht.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/48>, abgerufen am 23.11.2024.