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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
erfahren, dass die Israeliten sich in früheren Zeiten in nichts von den
zahlreichen anderen hebräischen Nachbarstämmen unterschieden, wir
gewahrten in den syrischen Hethitern eine zwar ausserordentlich zähe,
doch auffallend "anonyme", physiognomielose Menschengattung, an der
die Nase mehr auffiel als irgend etwas Anderes. Und die Judäer? Sie
waren so wenig kriegerisch, so unzuverlässige Soldaten, dass ihr König
fremden Söldnertruppen den Schutz des Landes und seiner Person
anvertrauen musste, so wenig unternehmungslustig, dass der blosse
Anblick des Meeres, auf welchem ihre Stammesvettern, die Phönicier,
zu so glänzenden Geschicken aufblühten, sie erschreckte, so wenig
industriell, dass man zu jedem Unternehmen die Künstler, die Werk-
führer und für alle feineren Arbeiten auch die Handwerker aus den be-
nachbarten Ländern verschreiben musste, so wenig zum Ackerbau
befähigt, dass (wie aus vielen Stellen der Bibel und des Talmuds her-
vorgeht) die Kanaaniter hierin nicht allein ihre Lehrmeister waren,
sondern bis zuletzt die arbeitende Kraft des Landes blieben;1) ja,
sogar in rein politischer Beziehung waren sie solche Gegner aller stabilen,
geordneten Zustände, dass keine vernünftige Regierungsform bei ihnen
Bestand hatte und sie von früh an stets unter dem Druck fremder
Herrschaft sich am wohlsten fühlten, was sie jedoch nicht verhinderte,
auch diese zu unterwühlen -- -- --. Ein solches Volk scheint zum
schnellen Verschwinden aus der Weltgeschichte wie prädestiniert, und
in der That, von den übrigen, viel tüchtigeren halbsemitischen Stämmen
Jener Zeit sind nur noch die Namen bekannt. Was schützte das
kleine Volk der Juden vor demselben Schicksal? was hielt es noch
fest zusammen, als es über die Erde zerstreut war? was machte es
möglich, dass aus seiner Mitte heraus das neue Weltprinzip des Christen-
tums hervorging? Einzig dieses Buch. Es würde zu weit führen, wollte
man die Eigenschaften dieses für die Weltgeschichte so wichtigen
Werkes analysieren. Goethe schreibt einmal: "Diese Schriften stehen
so glücklich beisammen, dass aus den fremdesten Elementen ein
täuschendes Ganzes entgegentritt. Sie sind vollständig genug, um zu
befriedigen, fragmentarisch genug, um anzureizen, hinlänglich barbarisch,
um aufzufordern, hinlänglich zart, um zu besänftigen." Herder er-

1) Darum bildet es eine der schlimmsten Drohungen gegen die Juden,
falls sie Jahve's Gebote nicht hielten, würden sie "ihre Arbeiten selber verrichten
müssen, anstatt sie durch Andere verrichten zu lassen" (Talmud, Traktat Berachoth,
Kap. VI, nach Seligmann Grünwald). Die Vorstellung, dass "Ausländer die Acker-
leute und Weingärtner seien", findet man ebenfalls (als Prophezeiung) in Jesaia LXI, 5.

Die Erben.
erfahren, dass die Israeliten sich in früheren Zeiten in nichts von den
zahlreichen anderen hebräischen Nachbarstämmen unterschieden, wir
gewahrten in den syrischen Hethitern eine zwar ausserordentlich zähe,
doch auffallend »anonyme«, physiognomielose Menschengattung, an der
die Nase mehr auffiel als irgend etwas Anderes. Und die Judäer? Sie
waren so wenig kriegerisch, so unzuverlässige Soldaten, dass ihr König
fremden Söldnertruppen den Schutz des Landes und seiner Person
anvertrauen musste, so wenig unternehmungslustig, dass der blosse
Anblick des Meeres, auf welchem ihre Stammesvettern, die Phönicier,
zu so glänzenden Geschicken aufblühten, sie erschreckte, so wenig
industriell, dass man zu jedem Unternehmen die Künstler, die Werk-
führer und für alle feineren Arbeiten auch die Handwerker aus den be-
nachbarten Ländern verschreiben musste, so wenig zum Ackerbau
befähigt, dass (wie aus vielen Stellen der Bibel und des Talmuds her-
vorgeht) die Kanaaniter hierin nicht allein ihre Lehrmeister waren,
sondern bis zuletzt die arbeitende Kraft des Landes blieben;1) ja,
sogar in rein politischer Beziehung waren sie solche Gegner aller stabilen,
geordneten Zustände, dass keine vernünftige Regierungsform bei ihnen
Bestand hatte und sie von früh an stets unter dem Druck fremder
Herrschaft sich am wohlsten fühlten, was sie jedoch nicht verhinderte,
auch diese zu unterwühlen — — —. Ein solches Volk scheint zum
schnellen Verschwinden aus der Weltgeschichte wie prädestiniert, und
in der That, von den übrigen, viel tüchtigeren halbsemitischen Stämmen
Jener Zeit sind nur noch die Namen bekannt. Was schützte das
kleine Volk der Juden vor demselben Schicksal? was hielt es noch
fest zusammen, als es über die Erde zerstreut war? was machte es
möglich, dass aus seiner Mitte heraus das neue Weltprinzip des Christen-
tums hervorging? Einzig dieses Buch. Es würde zu weit führen, wollte
man die Eigenschaften dieses für die Weltgeschichte so wichtigen
Werkes analysieren. Goethe schreibt einmal: »Diese Schriften stehen
so glücklich beisammen, dass aus den fremdesten Elementen ein
täuschendes Ganzes entgegentritt. Sie sind vollständig genug, um zu
befriedigen, fragmentarisch genug, um anzureizen, hinlänglich barbarisch,
um aufzufordern, hinlänglich zart, um zu besänftigen.« Herder er-

1) Darum bildet es eine der schlimmsten Drohungen gegen die Juden,
falls sie Jahve’s Gebote nicht hielten, würden sie »ihre Arbeiten selber verrichten
müssen, anstatt sie durch Andere verrichten zu lassen« (Talmud, Traktat Berachoth,
Kap. VI, nach Seligmann Grünwald). Die Vorstellung, dass »Ausländer die Acker-
leute und Weingärtner seien«, findet man ebenfalls (als Prophezeiung) in Jesaia LXI, 5.
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[454/0477] Die Erben. erfahren, dass die Israeliten sich in früheren Zeiten in nichts von den zahlreichen anderen hebräischen Nachbarstämmen unterschieden, wir gewahrten in den syrischen Hethitern eine zwar ausserordentlich zähe, doch auffallend »anonyme«, physiognomielose Menschengattung, an der die Nase mehr auffiel als irgend etwas Anderes. Und die Judäer? Sie waren so wenig kriegerisch, so unzuverlässige Soldaten, dass ihr König fremden Söldnertruppen den Schutz des Landes und seiner Person anvertrauen musste, so wenig unternehmungslustig, dass der blosse Anblick des Meeres, auf welchem ihre Stammesvettern, die Phönicier, zu so glänzenden Geschicken aufblühten, sie erschreckte, so wenig industriell, dass man zu jedem Unternehmen die Künstler, die Werk- führer und für alle feineren Arbeiten auch die Handwerker aus den be- nachbarten Ländern verschreiben musste, so wenig zum Ackerbau befähigt, dass (wie aus vielen Stellen der Bibel und des Talmuds her- vorgeht) die Kanaaniter hierin nicht allein ihre Lehrmeister waren, sondern bis zuletzt die arbeitende Kraft des Landes blieben; 1) ja, sogar in rein politischer Beziehung waren sie solche Gegner aller stabilen, geordneten Zustände, dass keine vernünftige Regierungsform bei ihnen Bestand hatte und sie von früh an stets unter dem Druck fremder Herrschaft sich am wohlsten fühlten, was sie jedoch nicht verhinderte, auch diese zu unterwühlen — — —. Ein solches Volk scheint zum schnellen Verschwinden aus der Weltgeschichte wie prädestiniert, und in der That, von den übrigen, viel tüchtigeren halbsemitischen Stämmen Jener Zeit sind nur noch die Namen bekannt. Was schützte das kleine Volk der Juden vor demselben Schicksal? was hielt es noch fest zusammen, als es über die Erde zerstreut war? was machte es möglich, dass aus seiner Mitte heraus das neue Weltprinzip des Christen- tums hervorging? Einzig dieses Buch. Es würde zu weit führen, wollte man die Eigenschaften dieses für die Weltgeschichte so wichtigen Werkes analysieren. Goethe schreibt einmal: »Diese Schriften stehen so glücklich beisammen, dass aus den fremdesten Elementen ein täuschendes Ganzes entgegentritt. Sie sind vollständig genug, um zu befriedigen, fragmentarisch genug, um anzureizen, hinlänglich barbarisch, um aufzufordern, hinlänglich zart, um zu besänftigen.« Herder er- 1) Darum bildet es eine der schlimmsten Drohungen gegen die Juden, falls sie Jahve’s Gebote nicht hielten, würden sie »ihre Arbeiten selber verrichten müssen, anstatt sie durch Andere verrichten zu lassen« (Talmud, Traktat Berachoth, Kap. VI, nach Seligmann Grünwald). Die Vorstellung, dass »Ausländer die Acker- leute und Weingärtner seien«, findet man ebenfalls (als Prophezeiung) in Jesaia LXI, 5.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/477>, abgerufen am 12.09.2024.