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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nommen, auch über Engel und Teufel, über Himmel und Hölle.1)
Auf dieser Grundlage entstand nun eine unermessliche apokalyptische
Litteratur (von der das Buch Daniel eine allzugünstige Vorstellung
geben würde, trotz seiner sinnlosen Geheimthuerei), welche sich mit
dem Ende der Welt, der Auferstehung der Gerechten, u. s. w. be-
schäftigte, ohne dass aber dadurch die messianischen Hoffnungen
irgendwie wesentlich idealisiert worden wären; im besten Fall handelt es
sich um eine Wiederauferstehung des Leibes, welche der schwankenden
Zuversicht aufhelfen soll: "heute musst du das Gesetz üben, später
wirst du den Lohn erhalten" (Talmud, Trak. Erubin, Abschn. 2),
und dieses jüdische "Reich Gottes" wird, wie einer der bedeutendsten
israelitischen Denker, Saadia (10. Jahrhundert) versichert: "auf Erden
vor sich gehen". Das Citat aus der Apok. Baruch's auf S. 403 zeigt,
wie die Juden sich diese zukünftige Welt dachten; sie unterschied
sich von der jetzigen fast lediglich durch die weltbeherrschende Stellung
der jüdischen Nation. Von dieser Auffassung hat sich sogar eine
interessante Spur in das Neue Testament hineinverirrt. Laut Matthäus
werden die zwölf Apostel, auf zwölf Thronen sitzend, die zwölf Stämme
Israels richten, was ohne Frage die Vorstellung einschliesst, dass keine
andere Menschen als Juden in den Himmel aufgenommen werden.2)

So wird die erdichtete, durch und durch verfälschte Vergangen-
heit durch eine eben so erdichtete, utopische Zukunft ergänzt, und so
schwebt der Jude, trotz des Materialismus seiner Religion, zwischen
Träumen und Trugbildern. Die fata morgana der urväterlichen Wüste
zaubert diesem Halbsemiten süssen Trost für die Tragik seines Schicksals
vor, einen luftigen, gehaltlosen, betrügerischen Trost, doch durch die
Gewalt des Willens -- genannt Glauben -- eine genügende, für
Andere oft gar gefährliche Lebenskraft. Hier triumphiert die Macht
der Idee in einer erschreckenden Weise: in einem gut beanlagten,

1) Über die unmittelbare Entlehnung zoroastrischer (halbverstandener) Vor-
stellungen durch die Begründer des Judentums, siehe Montefiore: Religion of the
ancient Hebrews,
p. 373, 429, 453 etc.
2) Matthäus XIX, 28, Lukas XXII, 30. Dieser Christo in den Mund gelegten
Behauptung widerspricht schnurstracks das Matthäus XX, 23 Gesagte. Auch das
Festhalten an den zwölf Stämmen, trotzdem es seit mehr als einem halben Jahr-
tausend nur noch zwei gab, ist echt rabbinisch. Von den Rabbinern wird ja aus-
drücklich gelehrt, "die Nichtjuden sind als solche vom Anteil an der zukünftigen
Welt ausgeschlossen" (vergl. Laible: Jesus Christus im Talmud, S. 53). -- Über
die messianischen Erwartungen siehe auch die Ausführungen im dritten Kapitel,
S. 238, Anm.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 29

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nommen, auch über Engel und Teufel, über Himmel und Hölle.1)
Auf dieser Grundlage entstand nun eine unermessliche apokalyptische
Litteratur (von der das Buch Daniel eine allzugünstige Vorstellung
geben würde, trotz seiner sinnlosen Geheimthuerei), welche sich mit
dem Ende der Welt, der Auferstehung der Gerechten, u. s. w. be-
schäftigte, ohne dass aber dadurch die messianischen Hoffnungen
irgendwie wesentlich idealisiert worden wären; im besten Fall handelt es
sich um eine Wiederauferstehung des Leibes, welche der schwankenden
Zuversicht aufhelfen soll: »heute musst du das Gesetz üben, später
wirst du den Lohn erhalten« (Talmud, Trak. Erubin, Abschn. 2),
und dieses jüdische »Reich Gottes« wird, wie einer der bedeutendsten
israelitischen Denker, Saadia (10. Jahrhundert) versichert: »auf Erden
vor sich gehen«. Das Citat aus der Apok. Baruch’s auf S. 403 zeigt,
wie die Juden sich diese zukünftige Welt dachten; sie unterschied
sich von der jetzigen fast lediglich durch die weltbeherrschende Stellung
der jüdischen Nation. Von dieser Auffassung hat sich sogar eine
interessante Spur in das Neue Testament hineinverirrt. Laut Matthäus
werden die zwölf Apostel, auf zwölf Thronen sitzend, die zwölf Stämme
Israels richten, was ohne Frage die Vorstellung einschliesst, dass keine
andere Menschen als Juden in den Himmel aufgenommen werden.2)

So wird die erdichtete, durch und durch verfälschte Vergangen-
heit durch eine eben so erdichtete, utopische Zukunft ergänzt, und so
schwebt der Jude, trotz des Materialismus seiner Religion, zwischen
Träumen und Trugbildern. Die fata morgana der urväterlichen Wüste
zaubert diesem Halbsemiten süssen Trost für die Tragik seines Schicksals
vor, einen luftigen, gehaltlosen, betrügerischen Trost, doch durch die
Gewalt des Willens — genannt Glauben — eine genügende, für
Andere oft gar gefährliche Lebenskraft. Hier triumphiert die Macht
der Idee in einer erschreckenden Weise: in einem gut beanlagten,

1) Über die unmittelbare Entlehnung zoroastrischer (halbverstandener) Vor-
stellungen durch die Begründer des Judentums, siehe Montefiore: Religion of the
ancient Hebrews,
p. 373, 429, 453 etc.
2) Matthäus XIX, 28, Lukas XXII, 30. Dieser Christo in den Mund gelegten
Behauptung widerspricht schnurstracks das Matthäus XX, 23 Gesagte. Auch das
Festhalten an den zwölf Stämmen, trotzdem es seit mehr als einem halben Jahr-
tausend nur noch zwei gab, ist echt rabbinisch. Von den Rabbinern wird ja aus-
drücklich gelehrt, »die Nichtjuden sind als solche vom Anteil an der zukünftigen
Welt ausgeschlossen« (vergl. Laible: Jesus Christus im Talmud, S. 53). — Über
die messianischen Erwartungen siehe auch die Ausführungen im dritten Kapitel,
S. 238, Anm.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 29
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[449/0472] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. nommen, auch über Engel und Teufel, über Himmel und Hölle. 1) Auf dieser Grundlage entstand nun eine unermessliche apokalyptische Litteratur (von der das Buch Daniel eine allzugünstige Vorstellung geben würde, trotz seiner sinnlosen Geheimthuerei), welche sich mit dem Ende der Welt, der Auferstehung der Gerechten, u. s. w. be- schäftigte, ohne dass aber dadurch die messianischen Hoffnungen irgendwie wesentlich idealisiert worden wären; im besten Fall handelt es sich um eine Wiederauferstehung des Leibes, welche der schwankenden Zuversicht aufhelfen soll: »heute musst du das Gesetz üben, später wirst du den Lohn erhalten« (Talmud, Trak. Erubin, Abschn. 2), und dieses jüdische »Reich Gottes« wird, wie einer der bedeutendsten israelitischen Denker, Saadia (10. Jahrhundert) versichert: »auf Erden vor sich gehen«. Das Citat aus der Apok. Baruch’s auf S. 403 zeigt, wie die Juden sich diese zukünftige Welt dachten; sie unterschied sich von der jetzigen fast lediglich durch die weltbeherrschende Stellung der jüdischen Nation. Von dieser Auffassung hat sich sogar eine interessante Spur in das Neue Testament hineinverirrt. Laut Matthäus werden die zwölf Apostel, auf zwölf Thronen sitzend, die zwölf Stämme Israels richten, was ohne Frage die Vorstellung einschliesst, dass keine andere Menschen als Juden in den Himmel aufgenommen werden. 2) So wird die erdichtete, durch und durch verfälschte Vergangen- heit durch eine eben so erdichtete, utopische Zukunft ergänzt, und so schwebt der Jude, trotz des Materialismus seiner Religion, zwischen Träumen und Trugbildern. Die fata morgana der urväterlichen Wüste zaubert diesem Halbsemiten süssen Trost für die Tragik seines Schicksals vor, einen luftigen, gehaltlosen, betrügerischen Trost, doch durch die Gewalt des Willens — genannt Glauben — eine genügende, für Andere oft gar gefährliche Lebenskraft. Hier triumphiert die Macht der Idee in einer erschreckenden Weise: in einem gut beanlagten, 1) Über die unmittelbare Entlehnung zoroastrischer (halbverstandener) Vor- stellungen durch die Begründer des Judentums, siehe Montefiore: Religion of the ancient Hebrews, p. 373, 429, 453 etc. 2) Matthäus XIX, 28, Lukas XXII, 30. Dieser Christo in den Mund gelegten Behauptung widerspricht schnurstracks das Matthäus XX, 23 Gesagte. Auch das Festhalten an den zwölf Stämmen, trotzdem es seit mehr als einem halben Jahr- tausend nur noch zwei gab, ist echt rabbinisch. Von den Rabbinern wird ja aus- drücklich gelehrt, »die Nichtjuden sind als solche vom Anteil an der zukünftigen Welt ausgeschlossen« (vergl. Laible: Jesus Christus im Talmud, S. 53). — Über die messianischen Erwartungen siehe auch die Ausführungen im dritten Kapitel, S. 238, Anm. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 29

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/472>, abgerufen am 22.11.2024.