Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. nicht allein die Philosophie, sondern vor Allem die Religion des Be-kenners berührt wird: und alle diese Lehren, die sich in wesentlichen Punkten häufig direkt widersprechen, galten nichtsdestoweniger als orthodoxe, die eine ebenso wie die andere! Sie alle fussten ja auf denselben Schriften, gingen, mit anderen Worten, von den gleichen mythologischen Grundbildern der Hymnen aus und bekundeten dieselbe Verehrung für die tiefen Spekulationen der Kultusvorschriften und der Upanishad's: das genügte. Geschichtliche Daten, eine Chronik der Weltschöpfung und der Geschlechter, an die man blind glauben müsse, gab es nicht; denn was es derartiges gab, war von vornherein lediglich als Bild, als Symbol gegeben. So sagt z. B. der streng orthodoxe Kommentator der heiligen Schriften, Cankara, über verschiedene auf die Weltschöpfung angewandte Bilder und Spekulationen: "Die Schrift hat gar nicht die Absicht, über die mit der Schöpfung beginnende Weltausbreitung eine Belehrung zu erteilen, weil weder ersichtlich ist, noch auch irgendwo gesagt wird oder auch denkbar ist, dass irgend etwas, worauf es für den Menschen ankommt, hiervon abhängig sei."1) In derselben Weise war ein Jeder frei, über das Verhältnis zwischen Geist und Stoff zu denken, was er wollte. Der Monist war eben so orthodox wie der Dualist, der Idealist wie der Materialist. Man begreift, wie bei einer derartigen Auffassung der Religion und des Glaubens "in Indien zu allen Zeiten die absoluteste Gedankenfreiheit ge- herrscht hat",2) ich meine, wie es möglich war, Rechtgläubigkeit und unbehinderte metaphysische Spekulation nebeneinander bestehen zu lassen. Und doch nein! uns, die wir heute unter dem Einfluss der semitischen Glaubensauffassung leben, fällt es doch sehr schwer, diese Vorstellungen zusammenzureimen: die anerkannte Infallibilität heiliger Religionsbücher, und zugleich absoluteste Gedankenfreiheit! Nun merke man aber noch Folgendes wohl, denn erst hierdurch wird diese Illustration für die Frage über die Natur des Glaubens lehrreich: das Leben war in Indien weit religiöser als es bei uns jemals, selbst im kirchlichsten Zeitalter gewesen ist, und die indische Religion, als solche, hat Früchte ganz anderer Art getragen als z. B. das Judentum, 1) Die Sautra's des Vedanta (von Paul Deussen übersetzt, Brockhaus 1887) I, 4, 14. Wer denkt da nicht an das grosse Wort Goethe's: "Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit!" (siehe S. 234 und S. 270). Schön sagt Carlyle in seinem Aufsatz über Diderot: "jeder religiöse Glaube, der auf Ursprünge zurückgeht, ist unfruchtbar, unwirksam, unmöglich". 2) Richard Garbe: Die Samkhya-Philosophie, S. 121.
Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. nicht allein die Philosophie, sondern vor Allem die Religion des Be-kenners berührt wird: und alle diese Lehren, die sich in wesentlichen Punkten häufig direkt widersprechen, galten nichtsdestoweniger als orthodoxe, die eine ebenso wie die andere! Sie alle fussten ja auf denselben Schriften, gingen, mit anderen Worten, von den gleichen mythologischen Grundbildern der Hymnen aus und bekundeten dieselbe Verehrung für die tiefen Spekulationen der Kultusvorschriften und der Upanishad’s: das genügte. Geschichtliche Daten, eine Chronik der Weltschöpfung und der Geschlechter, an die man blind glauben müsse, gab es nicht; denn was es derartiges gab, war von vornherein lediglich als Bild, als Symbol gegeben. So sagt z. B. der streng orthodoxe Kommentator der heiligen Schriften, Çankara, über verschiedene auf die Weltschöpfung angewandte Bilder und Spekulationen: »Die Schrift hat gar nicht die Absicht, über die mit der Schöpfung beginnende Weltausbreitung eine Belehrung zu erteilen, weil weder ersichtlich ist, noch auch irgendwo gesagt wird oder auch denkbar ist, dass irgend etwas, worauf es für den Menschen ankommt, hiervon abhängig sei.«1) In derselben Weise war ein Jeder frei, über das Verhältnis zwischen Geist und Stoff zu denken, was er wollte. Der Monist war eben so orthodox wie der Dualist, der Idealist wie der Materialist. Man begreift, wie bei einer derartigen Auffassung der Religion und des Glaubens »in Indien zu allen Zeiten die absoluteste Gedankenfreiheit ge- herrscht hat«,2) ich meine, wie es möglich war, Rechtgläubigkeit und unbehinderte metaphysische Spekulation nebeneinander bestehen zu lassen. Und doch nein! uns, die wir heute unter dem Einfluss der semitischen Glaubensauffassung leben, fällt es doch sehr schwer, diese Vorstellungen zusammenzureimen: die anerkannte Infallibilität heiliger Religionsbücher, und zugleich absoluteste Gedankenfreiheit! Nun merke man aber noch Folgendes wohl, denn erst hierdurch wird diese Illustration für die Frage über die Natur des Glaubens lehrreich: das Leben war in Indien weit religiöser als es bei uns jemals, selbst im kirchlichsten Zeitalter gewesen ist, und die indische Religion, als solche, hat Früchte ganz anderer Art getragen als z. B. das Judentum, 1) Die Sûtra’s des Vedânta (von Paul Deussen übersetzt, Brockhaus 1887) I, 4, 14. Wer denkt da nicht an das grosse Wort Goethe’s: »Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit!« (siehe S. 234 und S. 270). Schön sagt Carlyle in seinem Aufsatz über Diderot: »jeder religiöse Glaube, der auf Ursprünge zurückgeht, ist unfruchtbar, unwirksam, unmöglich«. 2) Richard Garbe: Die Sâmkhya-Philosophie, S. 121.
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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nicht allein die Philosophie, sondern vor Allem die Religion des Be-
kenners berührt wird: und alle diese Lehren, die sich in wesentlichen
Punkten häufig direkt widersprechen, galten nichtsdestoweniger als
orthodoxe, die eine ebenso wie die andere! Sie alle fussten ja auf
denselben Schriften, gingen, mit anderen Worten, von den gleichen
mythologischen Grundbildern der Hymnen aus und bekundeten dieselbe
Verehrung für die tiefen Spekulationen der Kultusvorschriften und
der Upanishad’s: das genügte. Geschichtliche Daten, eine Chronik
der Weltschöpfung und der Geschlechter, an die man blind glauben
müsse, gab es nicht; denn was es derartiges gab, war von vornherein
lediglich als Bild, als Symbol gegeben. So sagt z. B. der streng orthodoxe
Kommentator der heiligen Schriften, Çankara, über verschiedene auf
die Weltschöpfung angewandte Bilder und Spekulationen: »Die Schrift
hat gar nicht die Absicht, über die mit der Schöpfung beginnende
Weltausbreitung eine Belehrung zu erteilen, weil weder ersichtlich ist,
noch auch irgendwo gesagt wird oder auch denkbar ist, dass irgend
etwas, worauf es für den Menschen ankommt, hiervon abhängig sei.« 1)
In derselben Weise war ein Jeder frei, über das Verhältnis zwischen
Geist und Stoff zu denken, was er wollte. Der Monist war eben so
orthodox wie der Dualist, der Idealist wie der Materialist. Man begreift,
wie bei einer derartigen Auffassung der Religion und des Glaubens
»in Indien zu allen Zeiten die absoluteste Gedankenfreiheit ge-
herrscht hat«, 2) ich meine, wie es möglich war, Rechtgläubigkeit und
unbehinderte metaphysische Spekulation nebeneinander bestehen zu
lassen. Und doch nein! uns, die wir heute unter dem Einfluss der
semitischen Glaubensauffassung leben, fällt es doch sehr schwer, diese
Vorstellungen zusammenzureimen: die anerkannte Infallibilität heiliger
Religionsbücher, und zugleich absoluteste Gedankenfreiheit! Nun
merke man aber noch Folgendes wohl, denn erst hierdurch wird
diese Illustration für die Frage über die Natur des Glaubens lehrreich:
das Leben war in Indien weit religiöser als es bei uns jemals, selbst
im kirchlichsten Zeitalter gewesen ist, und die indische Religion, als
solche, hat Früchte ganz anderer Art getragen als z. B. das Judentum,
1) Die Sûtra’s des Vedânta (von Paul Deussen übersetzt, Brockhaus 1887) I, 4, 14.
Wer denkt da nicht an das grosse Wort Goethe’s: »Lebhafte Frage nach der Ursache
ist von grosser Schädlichkeit!« (siehe S. 234 und S. 270). Schön sagt Carlyle in seinem
Aufsatz über Diderot: »jeder religiöse Glaube, der auf Ursprünge zurückgeht, ist
unfruchtbar, unwirksam, unmöglich«.
2) Richard Garbe: Die Sâmkhya-Philosophie, S. 121.
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