Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Die Erben. Annahme, der Semit sei von Hause aus Monotheist, eine Annahme,zu der Renan's berühmte Phrase: "le desert est monotheiste"1) viel beigetragen hatte, ist längst als irrig erwiesen;2) wir sehen jeden kleinen Stamm der Hebräer seinen eigenen Gott besitzen, der nur über diese besondere Familie und innerhalb dieses besonderen Land- striches Gewalt übt; verlässt Einer den Familienverband, tritt er in ein anderes Gebiet, so gerät er unter die Botmässigkeit eines anderen Gottes: das ist doch kein Monotheismus.3) Ich halte den Gedanken der göttlichen Einheit für durch und durch unsemitisch, für geradezu antisemitisch, schon deswegen, weil er nur der Spekulation ent- springen kann: in dem überreichen Material, das die Phantasie an- gesammelt hat, schafft der Gedanke Ordnung und gelangt so zur Vor- stellung der Einheit; hier dagegen ist weder Phantasie noch Spekulation, sondern Geschichte und Wille: daraus konnte niemals der eine kos- mische Weltgeist der Inder, Perser, Hellenen und Christen entstehen, noch der "einigeine" Gott der Ägypter.4) In das Judentum ist nach- sei gewissermassen eine städtische Religion im Gegensatz zur Religion der Wüste. Ähnlich Burckhardt: Beduinen, S. 156. 1) Langues semitiques, ed. 1878, p. 6 (diese Worte sprach Renan ursprüng- lich im Jahre 1855). 2) Man vergleiche Robertson Smith: Religion of the Semites (ed. 1894, p. 73 fg.). Welche eifrige Polytheisten viele pseudosemitische Nationen waren, ist bekannt; allerdings hat man nicht das Recht, ohne Weiteres Rückschlüsse zu ziehen auf die reinen Semiten. Auf diese fast niemals beobachtete Reserve hatte Renan gleich im Vorworte zu der ersten Ausgabe seiner Langues semitiques grossen Nachdruck gelegt. 3) David, von Saul aus Palästina vertrieben, kann nicht anders, als auf fremdem Boden "fremden Göttern dienen" (I Sam. XXVI, 19); vergl. hierzu nament- lich Robertson Smith: Prophets of Israel (ed. 1895, p. 44) und die Zusammen- stellung der charakteristischen Stellen aus welchen dieselbe Vorstellung erhellt, bei Wellhausen: Prolegomena, 4. Ausg., S. 22. Besonders naiv tritt der Polytheismus im Lobgesange Mosis auf: "Herr, wer ist dir gleich unter den Göttern?" (Ex. XV, 11). Im viel späteren Deuteronomium wird zwischen Jahve und den "fremden Göttern" als durchaus gleichnamigen Wesen unterschieden (XXXII, 12), und nur bei sehr feierlichen Gelegenheiten wird jener angerufen als "Gott aller Götter" (X. 17). Noch zur Zeit der Makkabäer (mehr als ein halbes Jahrtausend später) begegnen wir diesem selben Ausdruck "Gott aller Götter" im Buche Daniel XII, 1 und finden bei Jesus Sirach die Vorstellung von "Nebengöttern", die im Auftrage Jahve's über die verschiedenen Völker regieren (Eccles. XVII, 17). 4) Über den ägyptischen Monotheismus wurde viel gestritten, doch mit
Unrecht, denn es ist unmöglich, ihn in Zweifel zu ziehen, wenn man im Totenbuch liest: "Du bist der Eine, der Gott aus den Uranfängen der Zeit, der Erbe der Ewigkeit, selbsterzeugt und selbstgeboren; du schufest die Erde, du machtest die Die Erben. Annahme, der Semit sei von Hause aus Monotheist, eine Annahme,zu der Renan’s berühmte Phrase: »le désert est monothéiste«1) viel beigetragen hatte, ist längst als irrig erwiesen;2) wir sehen jeden kleinen Stamm der Hebräer seinen eigenen Gott besitzen, der nur über diese besondere Familie und innerhalb dieses besonderen Land- striches Gewalt übt; verlässt Einer den Familienverband, tritt er in ein anderes Gebiet, so gerät er unter die Botmässigkeit eines anderen Gottes: das ist doch kein Monotheismus.3) Ich halte den Gedanken der göttlichen Einheit für durch und durch unsemitisch, für geradezu antisemitisch, schon deswegen, weil er nur der Spekulation ent- springen kann: in dem überreichen Material, das die Phantasie an- gesammelt hat, schafft der Gedanke Ordnung und gelangt so zur Vor- stellung der Einheit; hier dagegen ist weder Phantasie noch Spekulation, sondern Geschichte und Wille: daraus konnte niemals der eine kos- mische Weltgeist der Inder, Perser, Hellenen und Christen entstehen, noch der »einigeine« Gott der Ägypter.4) In das Judentum ist nach- sei gewissermassen eine städtische Religion im Gegensatz zur Religion der Wüste. Ähnlich Burckhardt: Beduinen, S. 156. 1) Langues sémitiques, éd. 1878, p. 6 (diese Worte sprach Renan ursprüng- lich im Jahre 1855). 2) Man vergleiche Robertson Smith: Religion of the Semites (éd. 1894, p. 73 fg.). Welche eifrige Polytheisten viele pseudosemitische Nationen waren, ist bekannt; allerdings hat man nicht das Recht, ohne Weiteres Rückschlüsse zu ziehen auf die reinen Semiten. Auf diese fast niemals beobachtete Reserve hatte Renan gleich im Vorworte zu der ersten Ausgabe seiner Langues sémitiques grossen Nachdruck gelegt. 3) David, von Saul aus Palästina vertrieben, kann nicht anders, als auf fremdem Boden »fremden Göttern dienen« (I Sam. XXVI, 19); vergl. hierzu nament- lich Robertson Smith: Prophets of Israel (ed. 1895, p. 44) und die Zusammen- stellung der charakteristischen Stellen aus welchen dieselbe Vorstellung erhellt, bei Wellhausen: Prolegomena, 4. Ausg., S. 22. Besonders naiv tritt der Polytheismus im Lobgesange Mosis auf: »Herr, wer ist dir gleich unter den Göttern?« (Ex. XV, 11). Im viel späteren Deuteronomium wird zwischen Jahve und den »fremden Göttern« als durchaus gleichnamigen Wesen unterschieden (XXXII, 12), und nur bei sehr feierlichen Gelegenheiten wird jener angerufen als »Gott aller Götter« (X. 17). Noch zur Zeit der Makkabäer (mehr als ein halbes Jahrtausend später) begegnen wir diesem selben Ausdruck »Gott aller Götter« im Buche Daniel XII, 1 und finden bei Jesus Sirach die Vorstellung von »Nebengöttern«, die im Auftrage Jahve’s über die verschiedenen Völker regieren (Eccles. XVII, 17). 4) Über den ägyptischen Monotheismus wurde viel gestritten, doch mit
Unrecht, denn es ist unmöglich, ihn in Zweifel zu ziehen, wenn man im Totenbuch liest: »Du bist der Eine, der Gott aus den Uranfängen der Zeit, der Erbe der Ewigkeit, selbsterzeugt und selbstgeboren; du schufest die Erde, du machtest die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0425" n="402"/><fw place="top" type="header">Die Erben.</fw><lb/> Annahme, der Semit sei von Hause aus Monotheist, eine Annahme,<lb/> zu der Renan’s berühmte Phrase: »<hi rendition="#i">le désert est monothéiste</hi>«<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Langues sémitiques</hi>, éd. 1878, p. 6 (diese Worte sprach Renan ursprüng-<lb/> lich im Jahre 1855).</note> viel<lb/> beigetragen hatte, ist längst als irrig erwiesen;<note place="foot" n="2)">Man vergleiche Robertson Smith: <hi rendition="#i">Religion of the Semites</hi> (éd. 1894, p. 73 fg.).<lb/> Welche eifrige Polytheisten viele pseudosemitische Nationen waren, ist bekannt;<lb/> allerdings hat man nicht das Recht, ohne Weiteres Rückschlüsse zu ziehen auf die<lb/> reinen Semiten. Auf diese fast niemals beobachtete Reserve hatte Renan gleich im<lb/> Vorworte zu der ersten Ausgabe seiner <hi rendition="#i">Langues sémitiques</hi> grossen Nachdruck gelegt.</note> wir sehen jeden<lb/> kleinen Stamm der Hebräer seinen eigenen Gott besitzen, der nur<lb/> über diese besondere Familie und innerhalb dieses besonderen Land-<lb/> striches Gewalt übt; verlässt Einer den Familienverband, tritt er in<lb/> ein anderes Gebiet, so gerät er unter die Botmässigkeit eines anderen<lb/> Gottes: das ist doch kein Monotheismus.<note place="foot" n="3)">David, von Saul aus Palästina vertrieben, kann nicht anders, als auf<lb/> fremdem Boden »fremden Göttern dienen« (I <hi rendition="#i">Sam.</hi> XXVI, 19); vergl. hierzu nament-<lb/> lich Robertson Smith: <hi rendition="#i">Prophets of Israel</hi> (ed. 1895, p. 44) und die Zusammen-<lb/> stellung der charakteristischen Stellen aus welchen dieselbe Vorstellung erhellt,<lb/> bei Wellhausen: <hi rendition="#i">Prolegomena</hi>, 4. Ausg., S. 22. Besonders naiv tritt der Polytheismus<lb/> im Lobgesange Mosis auf: »Herr, wer ist dir gleich unter den Göttern?« (<hi rendition="#i">Ex.</hi> XV, 11).<lb/> Im viel späteren <hi rendition="#i">Deuteronomium</hi> wird zwischen Jahve und den »fremden Göttern«<lb/> als durchaus gleichnamigen Wesen unterschieden (XXXII, 12), und nur bei sehr<lb/> feierlichen Gelegenheiten wird jener angerufen als »Gott aller Götter« (X. 17).<lb/> Noch zur Zeit der Makkabäer (mehr als ein halbes Jahrtausend später) begegnen<lb/> wir diesem selben Ausdruck »Gott aller Götter« im Buche <hi rendition="#i">Daniel</hi> XII, 1 und finden<lb/> bei Jesus Sirach die Vorstellung von »Nebengöttern«, die im Auftrage Jahve’s<lb/> über die verschiedenen Völker regieren (<hi rendition="#i">Eccles.</hi> XVII, 17).</note> Ich halte den Gedanken<lb/> der göttlichen Einheit für durch und durch unsemitisch, für geradezu<lb/> antisemitisch, schon deswegen, weil er nur der <hi rendition="#g">Spekulation</hi> ent-<lb/> springen kann: in dem überreichen Material, das die Phantasie an-<lb/> gesammelt hat, schafft der Gedanke Ordnung und gelangt so zur Vor-<lb/> stellung der Einheit; hier dagegen ist weder Phantasie noch Spekulation,<lb/> sondern Geschichte und Wille: daraus konnte niemals der eine kos-<lb/> mische Weltgeist der Inder, Perser, Hellenen und Christen entstehen,<lb/> noch der »einigeine« Gott der Ägypter.<note xml:id="seg2pn_33_1" next="#seg2pn_33_2" place="foot" n="4)">Über den ägyptischen Monotheismus wurde viel gestritten, doch mit<lb/> Unrecht, denn es ist unmöglich, ihn in Zweifel zu ziehen, wenn man im <hi rendition="#i">Totenbuch</hi><lb/> liest: »Du bist der Eine, der Gott aus den Uranfängen der Zeit, der Erbe der<lb/> Ewigkeit, selbsterzeugt und selbstgeboren; du schufest die Erde, du machtest die</note> In das Judentum ist nach-<lb/><note xml:id="seg2pn_32_2" prev="#seg2pn_32_1" place="foot" n="3)">sei gewissermassen eine <hi rendition="#g">städtische</hi> Religion im Gegensatz zur Religion der Wüste.<lb/> Ähnlich Burckhardt: <hi rendition="#i">Beduinen</hi>, S. 156.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [402/0425]
Die Erben.
Annahme, der Semit sei von Hause aus Monotheist, eine Annahme,
zu der Renan’s berühmte Phrase: »le désert est monothéiste« 1) viel
beigetragen hatte, ist längst als irrig erwiesen; 2) wir sehen jeden
kleinen Stamm der Hebräer seinen eigenen Gott besitzen, der nur
über diese besondere Familie und innerhalb dieses besonderen Land-
striches Gewalt übt; verlässt Einer den Familienverband, tritt er in
ein anderes Gebiet, so gerät er unter die Botmässigkeit eines anderen
Gottes: das ist doch kein Monotheismus. 3) Ich halte den Gedanken
der göttlichen Einheit für durch und durch unsemitisch, für geradezu
antisemitisch, schon deswegen, weil er nur der Spekulation ent-
springen kann: in dem überreichen Material, das die Phantasie an-
gesammelt hat, schafft der Gedanke Ordnung und gelangt so zur Vor-
stellung der Einheit; hier dagegen ist weder Phantasie noch Spekulation,
sondern Geschichte und Wille: daraus konnte niemals der eine kos-
mische Weltgeist der Inder, Perser, Hellenen und Christen entstehen,
noch der »einigeine« Gott der Ägypter. 4) In das Judentum ist nach-
3)
1) Langues sémitiques, éd. 1878, p. 6 (diese Worte sprach Renan ursprüng-
lich im Jahre 1855).
2) Man vergleiche Robertson Smith: Religion of the Semites (éd. 1894, p. 73 fg.).
Welche eifrige Polytheisten viele pseudosemitische Nationen waren, ist bekannt;
allerdings hat man nicht das Recht, ohne Weiteres Rückschlüsse zu ziehen auf die
reinen Semiten. Auf diese fast niemals beobachtete Reserve hatte Renan gleich im
Vorworte zu der ersten Ausgabe seiner Langues sémitiques grossen Nachdruck gelegt.
3) David, von Saul aus Palästina vertrieben, kann nicht anders, als auf
fremdem Boden »fremden Göttern dienen« (I Sam. XXVI, 19); vergl. hierzu nament-
lich Robertson Smith: Prophets of Israel (ed. 1895, p. 44) und die Zusammen-
stellung der charakteristischen Stellen aus welchen dieselbe Vorstellung erhellt,
bei Wellhausen: Prolegomena, 4. Ausg., S. 22. Besonders naiv tritt der Polytheismus
im Lobgesange Mosis auf: »Herr, wer ist dir gleich unter den Göttern?« (Ex. XV, 11).
Im viel späteren Deuteronomium wird zwischen Jahve und den »fremden Göttern«
als durchaus gleichnamigen Wesen unterschieden (XXXII, 12), und nur bei sehr
feierlichen Gelegenheiten wird jener angerufen als »Gott aller Götter« (X. 17).
Noch zur Zeit der Makkabäer (mehr als ein halbes Jahrtausend später) begegnen
wir diesem selben Ausdruck »Gott aller Götter« im Buche Daniel XII, 1 und finden
bei Jesus Sirach die Vorstellung von »Nebengöttern«, die im Auftrage Jahve’s
über die verschiedenen Völker regieren (Eccles. XVII, 17).
4) Über den ägyptischen Monotheismus wurde viel gestritten, doch mit
Unrecht, denn es ist unmöglich, ihn in Zweifel zu ziehen, wenn man im Totenbuch
liest: »Du bist der Eine, der Gott aus den Uranfängen der Zeit, der Erbe der
Ewigkeit, selbsterzeugt und selbstgeboren; du schufest die Erde, du machtest die
3) sei gewissermassen eine städtische Religion im Gegensatz zur Religion der Wüste.
Ähnlich Burckhardt: Beduinen, S. 156.
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