schichte, findet hier eine abschliessende Besprechung; dagegen eilt die kurze Skizze der Entwickelung auf den verschiedenen Gebieten des Lebens dem 19. Jahrhundert zu, und die Übersichtstafel über Wissen, Civilisation und Kultur und ihre verschiedenen Elemente deutet bereits auf das Vergleichungswerk des geplanten Anhangs hin und giebt auch jetzt schon zu mancher sehr belehrenden Parallele Anlass: im selben Augenblick, wo wir den Germanen in seiner vollen Kraft aufblühen sehen, als sei ihm nichts verwehrt, als eile er einem Grenzenlosen entgegen, erblicken wir hierdurch zugleich seine Beschränkungen; und das ist sehr wichtig, denn erst durch diese letzten Züge erhält er volle Individualität.
Gewissen Voreingenommenheiten gegenüber werde ich mich wohl dafür rechtfertigen müssen, dass ich in diesem Kapitel Staat und Kirche nur als Nebensache behandelt habe -- richtiger gesagt, nur als eine Erscheinung unter anderen, und nicht als die wichtigste. Staat und Kirche bilden nunmehr gewissermassen nur den Knochenbau: die Kirche ist ein inneres Knochengerüst, in welchem, wie üblich, mit zunehmendem Alter eine immer stärkere Disposition zu chronischer Ankylosis sich zeigt; der Staat entwickelt sich mehr und mehr zu jenem, in der Zoologie häufig vorkommenden, peripherischen Knochen- panzer, dem sogenannten Dermoskelett, seine Struktur wird immer massiger, er dehnt sich immer mehr über alle "Weichteile" aus, bis er zuletzt, in unserem Jahrhundert, zu wahrhaft megalotherischen Dimensionen angewachsen, einen bisher unerhört grossen Prozentsatz der wirksamen Kräfte der Menschheit als Militär- und Civilbeamte aus dem eigentlichen Lebensprozess ausscheidet und, wenn ich so sagen darf, "verknöchert". Das soll nicht eine Kritik sein; die knochen- und wirbellosen Tiere haben es bekanntlich in der Welt nicht weit gebracht; es liegt mir überhaupt fern, in diesem Buche moralisieren zu wollen, ich musste nur erklären, warum ich mich in der zweiten Abteilung nicht bemüssigt fand, ein besonderes Gewicht auf die fernere Entwickelung von Staat und Kirche zu legen. Der Impuls zu ihrer seitherigen Entwickelung war ja schon im 13. Jahrhundert vollkommen ausgebildet; der Nationalismus hatte über den Imperialismus ge- siegt, dieser brütete auf Wiedergewinnung des Verlorenen; prinzipiell Neues kam nicht mehr hinzu; auch die Bewegungen gegen die überhandnehmende Vergewaltigung der individuellen Freiheit durch Kirche und Staat hatten damals bereits begonnen, sich sehr häufig und energisch fühlbar zu machen. Kirche und Staat geben, wie gesagt,
2*
Allgemeine Einleitung.
schichte, findet hier eine abschliessende Besprechung; dagegen eilt die kurze Skizze der Entwickelung auf den verschiedenen Gebieten des Lebens dem 19. Jahrhundert zu, und die Übersichtstafel über Wissen, Civilisation und Kultur und ihre verschiedenen Elemente deutet bereits auf das Vergleichungswerk des geplanten Anhangs hin und giebt auch jetzt schon zu mancher sehr belehrenden Parallele Anlass: im selben Augenblick, wo wir den Germanen in seiner vollen Kraft aufblühen sehen, als sei ihm nichts verwehrt, als eile er einem Grenzenlosen entgegen, erblicken wir hierdurch zugleich seine Beschränkungen; und das ist sehr wichtig, denn erst durch diese letzten Züge erhält er volle Individualität.
Gewissen Voreingenommenheiten gegenüber werde ich mich wohl dafür rechtfertigen müssen, dass ich in diesem Kapitel Staat und Kirche nur als Nebensache behandelt habe — richtiger gesagt, nur als eine Erscheinung unter anderen, und nicht als die wichtigste. Staat und Kirche bilden nunmehr gewissermassen nur den Knochenbau: die Kirche ist ein inneres Knochengerüst, in welchem, wie üblich, mit zunehmendem Alter eine immer stärkere Disposition zu chronischer Ankylosis sich zeigt; der Staat entwickelt sich mehr und mehr zu jenem, in der Zoologie häufig vorkommenden, peripherischen Knochen- panzer, dem sogenannten Dermoskelett, seine Struktur wird immer massiger, er dehnt sich immer mehr über alle »Weichteile« aus, bis er zuletzt, in unserem Jahrhundert, zu wahrhaft megalotherischen Dimensionen angewachsen, einen bisher unerhört grossen Prozentsatz der wirksamen Kräfte der Menschheit als Militär- und Civilbeamte aus dem eigentlichen Lebensprozess ausscheidet und, wenn ich so sagen darf, »verknöchert«. Das soll nicht eine Kritik sein; die knochen- und wirbellosen Tiere haben es bekanntlich in der Welt nicht weit gebracht; es liegt mir überhaupt fern, in diesem Buche moralisieren zu wollen, ich musste nur erklären, warum ich mich in der zweiten Abteilung nicht bemüssigt fand, ein besonderes Gewicht auf die fernere Entwickelung von Staat und Kirche zu legen. Der Impuls zu ihrer seitherigen Entwickelung war ja schon im 13. Jahrhundert vollkommen ausgebildet; der Nationalismus hatte über den Imperialismus ge- siegt, dieser brütete auf Wiedergewinnung des Verlorenen; prinzipiell Neues kam nicht mehr hinzu; auch die Bewegungen gegen die überhandnehmende Vergewaltigung der individuellen Freiheit durch Kirche und Staat hatten damals bereits begonnen, sich sehr häufig und energisch fühlbar zu machen. Kirche und Staat geben, wie gesagt,
2*
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0042"n="19"/><fwplace="top"type="header">Allgemeine Einleitung.</fw><lb/>
schichte, findet hier eine abschliessende Besprechung; dagegen eilt die<lb/>
kurze Skizze der Entwickelung auf den verschiedenen Gebieten des<lb/>
Lebens dem 19. Jahrhundert zu, und die Übersichtstafel über Wissen,<lb/>
Civilisation und Kultur und ihre verschiedenen Elemente deutet bereits<lb/>
auf das Vergleichungswerk des geplanten Anhangs hin und giebt auch<lb/>
jetzt schon zu mancher sehr belehrenden Parallele Anlass: im selben<lb/>
Augenblick, wo wir den Germanen in seiner vollen Kraft aufblühen<lb/>
sehen, als sei ihm nichts verwehrt, als eile er einem Grenzenlosen<lb/>
entgegen, erblicken wir hierdurch zugleich seine Beschränkungen; und<lb/>
das ist sehr wichtig, denn erst durch diese letzten Züge erhält er volle<lb/>
Individualität.</p><lb/><p>Gewissen Voreingenommenheiten gegenüber werde ich mich<lb/>
wohl dafür rechtfertigen müssen, dass ich in diesem Kapitel Staat und<lb/>
Kirche nur als Nebensache behandelt habe — richtiger gesagt, nur als<lb/>
eine Erscheinung unter anderen, und nicht als die wichtigste. Staat<lb/>
und Kirche bilden nunmehr gewissermassen nur den Knochenbau:<lb/>
die Kirche ist ein inneres Knochengerüst, in welchem, wie üblich,<lb/>
mit zunehmendem Alter eine immer stärkere Disposition zu chronischer<lb/>
Ankylosis sich zeigt; der Staat entwickelt sich mehr und mehr zu<lb/>
jenem, in der Zoologie häufig vorkommenden, peripherischen Knochen-<lb/>
panzer, dem sogenannten Dermoskelett, seine Struktur wird immer<lb/>
massiger, er dehnt sich immer mehr über alle »Weichteile« aus, bis<lb/>
er zuletzt, in unserem Jahrhundert, zu wahrhaft megalotherischen<lb/>
Dimensionen angewachsen, einen bisher unerhört grossen Prozentsatz<lb/>
der wirksamen Kräfte der Menschheit als Militär- und Civilbeamte<lb/>
aus dem eigentlichen Lebensprozess ausscheidet und, wenn ich so<lb/>
sagen darf, »verknöchert«. Das soll nicht eine Kritik sein; die knochen-<lb/>
und wirbellosen Tiere haben es bekanntlich in der Welt nicht weit<lb/>
gebracht; es liegt mir überhaupt fern, in diesem Buche moralisieren<lb/>
zu wollen, ich musste nur erklären, warum ich mich in der zweiten<lb/>
Abteilung nicht bemüssigt fand, ein besonderes Gewicht auf die fernere<lb/>
Entwickelung von Staat und Kirche zu legen. Der Impuls zu ihrer<lb/>
seitherigen Entwickelung war ja schon im 13. Jahrhundert vollkommen<lb/>
ausgebildet; der Nationalismus hatte über den Imperialismus ge-<lb/>
siegt, dieser brütete auf Wiedergewinnung des Verlorenen; prinzipiell<lb/>
Neues kam nicht mehr hinzu; auch die Bewegungen gegen die<lb/>
überhandnehmende Vergewaltigung der individuellen Freiheit durch<lb/>
Kirche und Staat hatten damals bereits begonnen, sich sehr häufig und<lb/>
energisch fühlbar zu machen. Kirche und Staat geben, wie gesagt,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">2*</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[19/0042]
Allgemeine Einleitung.
schichte, findet hier eine abschliessende Besprechung; dagegen eilt die
kurze Skizze der Entwickelung auf den verschiedenen Gebieten des
Lebens dem 19. Jahrhundert zu, und die Übersichtstafel über Wissen,
Civilisation und Kultur und ihre verschiedenen Elemente deutet bereits
auf das Vergleichungswerk des geplanten Anhangs hin und giebt auch
jetzt schon zu mancher sehr belehrenden Parallele Anlass: im selben
Augenblick, wo wir den Germanen in seiner vollen Kraft aufblühen
sehen, als sei ihm nichts verwehrt, als eile er einem Grenzenlosen
entgegen, erblicken wir hierdurch zugleich seine Beschränkungen; und
das ist sehr wichtig, denn erst durch diese letzten Züge erhält er volle
Individualität.
Gewissen Voreingenommenheiten gegenüber werde ich mich
wohl dafür rechtfertigen müssen, dass ich in diesem Kapitel Staat und
Kirche nur als Nebensache behandelt habe — richtiger gesagt, nur als
eine Erscheinung unter anderen, und nicht als die wichtigste. Staat
und Kirche bilden nunmehr gewissermassen nur den Knochenbau:
die Kirche ist ein inneres Knochengerüst, in welchem, wie üblich,
mit zunehmendem Alter eine immer stärkere Disposition zu chronischer
Ankylosis sich zeigt; der Staat entwickelt sich mehr und mehr zu
jenem, in der Zoologie häufig vorkommenden, peripherischen Knochen-
panzer, dem sogenannten Dermoskelett, seine Struktur wird immer
massiger, er dehnt sich immer mehr über alle »Weichteile« aus, bis
er zuletzt, in unserem Jahrhundert, zu wahrhaft megalotherischen
Dimensionen angewachsen, einen bisher unerhört grossen Prozentsatz
der wirksamen Kräfte der Menschheit als Militär- und Civilbeamte
aus dem eigentlichen Lebensprozess ausscheidet und, wenn ich so
sagen darf, »verknöchert«. Das soll nicht eine Kritik sein; die knochen-
und wirbellosen Tiere haben es bekanntlich in der Welt nicht weit
gebracht; es liegt mir überhaupt fern, in diesem Buche moralisieren
zu wollen, ich musste nur erklären, warum ich mich in der zweiten
Abteilung nicht bemüssigt fand, ein besonderes Gewicht auf die fernere
Entwickelung von Staat und Kirche zu legen. Der Impuls zu ihrer
seitherigen Entwickelung war ja schon im 13. Jahrhundert vollkommen
ausgebildet; der Nationalismus hatte über den Imperialismus ge-
siegt, dieser brütete auf Wiedergewinnung des Verlorenen; prinzipiell
Neues kam nicht mehr hinzu; auch die Bewegungen gegen die
überhandnehmende Vergewaltigung der individuellen Freiheit durch
Kirche und Staat hatten damals bereits begonnen, sich sehr häufig und
energisch fühlbar zu machen. Kirche und Staat geben, wie gesagt,
2*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/42>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.