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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
die reichste Mythologie der Welt, die der indischen Arier, schon in
den urältesten Hymnen (vor der Einwanderung nach Indien) lehrte: "die
vielen Götter sind ein einziges Wesen, das unter verschiedenen Namen
verehrt wird",1) und wie diese Mythologie später zur erhabensten Vor-
stellung des Eingottes im Brahman führte, überhaupt zu einer unendlich
erhabenen, wenn auch einseitigen und darum unterlegenen Religion. Wir
wissen, wie aus der gemeinsamen Wurzel jener ewig blühende Garten
des hellenischen Olymps hervorwuchs, sowie jene bewunderungs-
würdige Sittenlehre des Avesta und des Zoroaster, und wir wissen, wie
alle diese Dinge, vereint mit den daran geknüpften metaphysischen
Spekulationen und mit der stets weiter gestaltenden Not unseres an-
geborenen schöpferischen Triebes, das Christentum vor dem Schicksal
retteten, ein blosser Annex des Judentums zu werden, wie sie ihm
mythischen (d. h. unerschöpflichen) Inhalt und Augenzauber verliehen,
wie sie es mit den tiefsten Symbolen indoeuropäischen Sinnens ver-
quickten und zu einem geheiligten Gefäss für die Geheimnisse des
Menschenherzens und des Menschenhirns gestalteten, zu einem "Weg
ins Unbetretene, nicht zu Betretende", zu einer "Wegspur des Weltalls".2)
Über die Bedeutung der Phantasie für die Religion kann demnach
kein Zweifel bestehen. Sollen wir nun sagen, der Semit besitze gar
keine Phantasie? Alle solche absolute Behauptungen sind falsch;
zwingt auch die notwendige Kürze des geschriebenen Gedankens
häufig zu dieser Form, so darf wohl vorausgesetzt werden, dass der
Leser die nötige Korrektur automatisch ausführt. Der Semit ist ein
Mensch wie andere; es handelt sich lediglich um Gradunterschiede,
die aber allerdings in diesem Falle, dank dem extremen Charakter
dieses menschlichen Typus, der Grenze des absoluten Ja und Nein,
des Sein oder Nichtsein nahekommen. Alle, die überhaupt das Recht
haben, mitzureden, bezeugen nämlich einstimmig, dass der Mangel an
Phantasie, oder sagen wir, die Armut der Phantasie, ein Grundzug
des Semiten sei. Ich habe schon wichtige Belege gebracht, z. B. die
Ausführungen Lassen's, und könnte noch zahllose bringen, doch die
Frage verdient keine Diskussion mehr: der Mohammedanismus und
das Judentum sind genügende Beweise; was man uns vom Beduinen
erzählt,3) zeigt uns nur den Ursprung dieser Armut. Wie Renan
sehr glücklich sagt: "le semite a l'imagination comprimante", d. h.,

1) Rigveda I, 164, 46 (citiert nach Barth: Religions de l'Inde, p. 23).
2) Über die Mythologie im Christentum, siehe Kap. 7.
3) Siehe S. 404.

Die Erben.
die reichste Mythologie der Welt, die der indischen Arier, schon in
den urältesten Hymnen (vor der Einwanderung nach Indien) lehrte: »die
vielen Götter sind ein einziges Wesen, das unter verschiedenen Namen
verehrt wird«,1) und wie diese Mythologie später zur erhabensten Vor-
stellung des Eingottes im Brahman führte, überhaupt zu einer unendlich
erhabenen, wenn auch einseitigen und darum unterlegenen Religion. Wir
wissen, wie aus der gemeinsamen Wurzel jener ewig blühende Garten
des hellenischen Olymps hervorwuchs, sowie jene bewunderungs-
würdige Sittenlehre des Avesta und des Zoroaster, und wir wissen, wie
alle diese Dinge, vereint mit den daran geknüpften metaphysischen
Spekulationen und mit der stets weiter gestaltenden Not unseres an-
geborenen schöpferischen Triebes, das Christentum vor dem Schicksal
retteten, ein blosser Annex des Judentums zu werden, wie sie ihm
mythischen (d. h. unerschöpflichen) Inhalt und Augenzauber verliehen,
wie sie es mit den tiefsten Symbolen indoeuropäischen Sinnens ver-
quickten und zu einem geheiligten Gefäss für die Geheimnisse des
Menschenherzens und des Menschenhirns gestalteten, zu einem »Weg
ins Unbetretene, nicht zu Betretende«, zu einer »Wegspur des Weltalls«.2)
Über die Bedeutung der Phantasie für die Religion kann demnach
kein Zweifel bestehen. Sollen wir nun sagen, der Semit besitze gar
keine Phantasie? Alle solche absolute Behauptungen sind falsch;
zwingt auch die notwendige Kürze des geschriebenen Gedankens
häufig zu dieser Form, so darf wohl vorausgesetzt werden, dass der
Leser die nötige Korrektur automatisch ausführt. Der Semit ist ein
Mensch wie andere; es handelt sich lediglich um Gradunterschiede,
die aber allerdings in diesem Falle, dank dem extremen Charakter
dieses menschlichen Typus, der Grenze des absoluten Ja und Nein,
des Sein oder Nichtsein nahekommen. Alle, die überhaupt das Recht
haben, mitzureden, bezeugen nämlich einstimmig, dass der Mangel an
Phantasie, oder sagen wir, die Armut der Phantasie, ein Grundzug
des Semiten sei. Ich habe schon wichtige Belege gebracht, z. B. die
Ausführungen Lassen’s, und könnte noch zahllose bringen, doch die
Frage verdient keine Diskussion mehr: der Mohammedanismus und
das Judentum sind genügende Beweise; was man uns vom Beduinen
erzählt,3) zeigt uns nur den Ursprung dieser Armut. Wie Renan
sehr glücklich sagt: »le sémite a l’imagination comprimante«, d. h.,

1) Rigveda I, 164, 46 (citiert nach Barth: Religions de l’Inde, p. 23).
2) Über die Mythologie im Christentum, siehe Kap. 7.
3) Siehe S. 404.
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[396/0419] Die Erben. die reichste Mythologie der Welt, die der indischen Arier, schon in den urältesten Hymnen (vor der Einwanderung nach Indien) lehrte: »die vielen Götter sind ein einziges Wesen, das unter verschiedenen Namen verehrt wird«, 1) und wie diese Mythologie später zur erhabensten Vor- stellung des Eingottes im Brahman führte, überhaupt zu einer unendlich erhabenen, wenn auch einseitigen und darum unterlegenen Religion. Wir wissen, wie aus der gemeinsamen Wurzel jener ewig blühende Garten des hellenischen Olymps hervorwuchs, sowie jene bewunderungs- würdige Sittenlehre des Avesta und des Zoroaster, und wir wissen, wie alle diese Dinge, vereint mit den daran geknüpften metaphysischen Spekulationen und mit der stets weiter gestaltenden Not unseres an- geborenen schöpferischen Triebes, das Christentum vor dem Schicksal retteten, ein blosser Annex des Judentums zu werden, wie sie ihm mythischen (d. h. unerschöpflichen) Inhalt und Augenzauber verliehen, wie sie es mit den tiefsten Symbolen indoeuropäischen Sinnens ver- quickten und zu einem geheiligten Gefäss für die Geheimnisse des Menschenherzens und des Menschenhirns gestalteten, zu einem »Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende«, zu einer »Wegspur des Weltalls«. 2) Über die Bedeutung der Phantasie für die Religion kann demnach kein Zweifel bestehen. Sollen wir nun sagen, der Semit besitze gar keine Phantasie? Alle solche absolute Behauptungen sind falsch; zwingt auch die notwendige Kürze des geschriebenen Gedankens häufig zu dieser Form, so darf wohl vorausgesetzt werden, dass der Leser die nötige Korrektur automatisch ausführt. Der Semit ist ein Mensch wie andere; es handelt sich lediglich um Gradunterschiede, die aber allerdings in diesem Falle, dank dem extremen Charakter dieses menschlichen Typus, der Grenze des absoluten Ja und Nein, des Sein oder Nichtsein nahekommen. Alle, die überhaupt das Recht haben, mitzureden, bezeugen nämlich einstimmig, dass der Mangel an Phantasie, oder sagen wir, die Armut der Phantasie, ein Grundzug des Semiten sei. Ich habe schon wichtige Belege gebracht, z. B. die Ausführungen Lassen’s, und könnte noch zahllose bringen, doch die Frage verdient keine Diskussion mehr: der Mohammedanismus und das Judentum sind genügende Beweise; was man uns vom Beduinen erzählt, 3) zeigt uns nur den Ursprung dieser Armut. Wie Renan sehr glücklich sagt: »le sémite a l’imagination comprimante«, d. h., 1) Rigveda I, 164, 46 (citiert nach Barth: Religions de l’Inde, p. 23). 2) Über die Mythologie im Christentum, siehe Kap. 7. 3) Siehe S. 404.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/419>, abgerufen am 16.06.2024.