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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
haben die Semiten in den ältesten Zeiten Grosses für die Wissenschaft
geleistet, möglich ist es aber, dass diese Leistungen fremden Ursprungs
sind, später jedenfalls treten sie auf diesem Gebiete ganz zurück, ihre
grössten Leistungen liegen auch hier auf dem religiösen Gebiet.1) Mir
scheint diese Charakterisierung recht zerfasert, wenig sagend und nebenbei
oft falsch. Es ist ja ganz schön und gut, seine Feinde in Kesseln lebendig
zu braten -- von China bis zu den kunstbeflissenen Niederlanden des
16. Jahrhunderts, wo träfen wir Grausamkeit nicht an? -- darin aber
eine höhere "Energie des religiösen Empfindens" zu erblicken, ist naiv,
namentlich wenn man den Semiten in dieser Beziehung über den so
tief religiösen und fabelhaft schöpferischen Ägypter stellt, und über
den Indogermanen, dessen religiöse Litteratur bei weitem die grösste
der Welt ist, und dessen "religiöses Empfinden" sich seit undenk-
lichen Zeiten u. A. darin bekundet hat, dass Tausende und Millionen
menschlicher Existenzen einzig und allein der Religion gewidmet und
geopfert waren. Wenn der Brahmane in einem der ältesten Upanishads
(mindestens 800 oder 1000 Jahre vor Christo)2) lehrt: Das Einatmen
und das Ausatmen beim Tage und auch im Schlafe solle der Mensch
als ununterbrochenes Opfer an die Gottheit betrachten,3) stellt das nicht
die höchste "Energie des religiösen Empfindens" dar, wovon die Ge-
schichte der Menschheit zu erzählen weiss? Und was soll das wieder
heissen: der Semit ist Individualist? Soweit wir urteilen können,
unterschied sich der Glaube, dort wo die Religion unter semitischen
Einfluss geriet, dadurch vom indogermanischen (und vom ostasiatischen),
dass er national wurde, dass das Individuum, ausser als Glied des
Gemeinwesens, fast zu einer quantite negligeable zusammenschrumpfte
(vgl. S. 247); und die pseudosemitischen Staaten haben ohne Ausnahme
jegliche Freiheit des Individuums aufgehoben. Wahrer Individualismus
scheint mir eher unter den Germanen daheim, als unter den semitischen
Völkern; jedenfalls dürfte die Behauptung, "der Semit ist Individualist",
nur mit vielen einschränkenden Kautelen ausgesprochen werden. --
Viel tiefer geht der gründliche Christian Lassen, der mehr Seelen- als

1) Völkerkunde II, 391; mit Benützung Ratzel's eigener Worte zusammengefasst.
2) Vergl. Leopold von Schröder: Indiens Litteratur und Kultur (1887),
20. Vorlesung.
3) Kausheitaki-Upanishad II, 5. Deussen, die grösste lebende Autorität, giebt
zu dieser Stelle folgende Glosse: der Brahmane will sagen, "nicht im äusseren
Kultus soll die Religion bestehen, sondern darin, dass man das ganze Leben mit
jedem Atemzuge
in ihren Dienst stellt" (Sechzig Upanishad's des Veda, S. 31).

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
haben die Semiten in den ältesten Zeiten Grosses für die Wissenschaft
geleistet, möglich ist es aber, dass diese Leistungen fremden Ursprungs
sind, später jedenfalls treten sie auf diesem Gebiete ganz zurück, ihre
grössten Leistungen liegen auch hier auf dem religiösen Gebiet.1) Mir
scheint diese Charakterisierung recht zerfasert, wenig sagend und nebenbei
oft falsch. Es ist ja ganz schön und gut, seine Feinde in Kesseln lebendig
zu braten — von China bis zu den kunstbeflissenen Niederlanden des
16. Jahrhunderts, wo träfen wir Grausamkeit nicht an? — darin aber
eine höhere »Energie des religiösen Empfindens« zu erblicken, ist naiv,
namentlich wenn man den Semiten in dieser Beziehung über den so
tief religiösen und fabelhaft schöpferischen Ägypter stellt, und über
den Indogermanen, dessen religiöse Litteratur bei weitem die grösste
der Welt ist, und dessen »religiöses Empfinden« sich seit undenk-
lichen Zeiten u. A. darin bekundet hat, dass Tausende und Millionen
menschlicher Existenzen einzig und allein der Religion gewidmet und
geopfert waren. Wenn der Brahmane in einem der ältesten Upanishads
(mindestens 800 oder 1000 Jahre vor Christo)2) lehrt: Das Einatmen
und das Ausatmen beim Tage und auch im Schlafe solle der Mensch
als ununterbrochenes Opfer an die Gottheit betrachten,3) stellt das nicht
die höchste »Energie des religiösen Empfindens« dar, wovon die Ge-
schichte der Menschheit zu erzählen weiss? Und was soll das wieder
heissen: der Semit ist Individualist? Soweit wir urteilen können,
unterschied sich der Glaube, dort wo die Religion unter semitischen
Einfluss geriet, dadurch vom indogermanischen (und vom ostasiatischen),
dass er national wurde, dass das Individuum, ausser als Glied des
Gemeinwesens, fast zu einer quantité négligeable zusammenschrumpfte
(vgl. S. 247); und die pseudosemitischen Staaten haben ohne Ausnahme
jegliche Freiheit des Individuums aufgehoben. Wahrer Individualismus
scheint mir eher unter den Germanen daheim, als unter den semitischen
Völkern; jedenfalls dürfte die Behauptung, »der Semit ist Individualist«,
nur mit vielen einschränkenden Kautelen ausgesprochen werden. —
Viel tiefer geht der gründliche Christian Lassen, der mehr Seelen- als

1) Völkerkunde II, 391; mit Benützung Ratzel’s eigener Worte zusammengefasst.
2) Vergl. Leopold von Schröder: Indiens Litteratur und Kultur (1887),
20. Vorlesung.
3) Kaushîtaki-Upanishad II, 5. Deussen, die grösste lebende Autorität, giebt
zu dieser Stelle folgende Glosse: der Brahmane will sagen, »nicht im äusseren
Kultus soll die Religion bestehen, sondern darin, dass man das ganze Leben mit
jedem Atemzuge
in ihren Dienst stellt« (Sechzig Upanishad’s des Veda, S. 31).
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[383/0406] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. haben die Semiten in den ältesten Zeiten Grosses für die Wissenschaft geleistet, möglich ist es aber, dass diese Leistungen fremden Ursprungs sind, später jedenfalls treten sie auf diesem Gebiete ganz zurück, ihre grössten Leistungen liegen auch hier auf dem religiösen Gebiet. 1) Mir scheint diese Charakterisierung recht zerfasert, wenig sagend und nebenbei oft falsch. Es ist ja ganz schön und gut, seine Feinde in Kesseln lebendig zu braten — von China bis zu den kunstbeflissenen Niederlanden des 16. Jahrhunderts, wo träfen wir Grausamkeit nicht an? — darin aber eine höhere »Energie des religiösen Empfindens« zu erblicken, ist naiv, namentlich wenn man den Semiten in dieser Beziehung über den so tief religiösen und fabelhaft schöpferischen Ägypter stellt, und über den Indogermanen, dessen religiöse Litteratur bei weitem die grösste der Welt ist, und dessen »religiöses Empfinden« sich seit undenk- lichen Zeiten u. A. darin bekundet hat, dass Tausende und Millionen menschlicher Existenzen einzig und allein der Religion gewidmet und geopfert waren. Wenn der Brahmane in einem der ältesten Upanishads (mindestens 800 oder 1000 Jahre vor Christo) 2) lehrt: Das Einatmen und das Ausatmen beim Tage und auch im Schlafe solle der Mensch als ununterbrochenes Opfer an die Gottheit betrachten, 3) stellt das nicht die höchste »Energie des religiösen Empfindens« dar, wovon die Ge- schichte der Menschheit zu erzählen weiss? Und was soll das wieder heissen: der Semit ist Individualist? Soweit wir urteilen können, unterschied sich der Glaube, dort wo die Religion unter semitischen Einfluss geriet, dadurch vom indogermanischen (und vom ostasiatischen), dass er national wurde, dass das Individuum, ausser als Glied des Gemeinwesens, fast zu einer quantité négligeable zusammenschrumpfte (vgl. S. 247); und die pseudosemitischen Staaten haben ohne Ausnahme jegliche Freiheit des Individuums aufgehoben. Wahrer Individualismus scheint mir eher unter den Germanen daheim, als unter den semitischen Völkern; jedenfalls dürfte die Behauptung, »der Semit ist Individualist«, nur mit vielen einschränkenden Kautelen ausgesprochen werden. — Viel tiefer geht der gründliche Christian Lassen, der mehr Seelen- als 1) Völkerkunde II, 391; mit Benützung Ratzel’s eigener Worte zusammengefasst. 2) Vergl. Leopold von Schröder: Indiens Litteratur und Kultur (1887), 20. Vorlesung. 3) Kaushîtaki-Upanishad II, 5. Deussen, die grösste lebende Autorität, giebt zu dieser Stelle folgende Glosse: der Brahmane will sagen, »nicht im äusseren Kultus soll die Religion bestehen, sondern darin, dass man das ganze Leben mit jedem Atemzuge in ihren Dienst stellt« (Sechzig Upanishad’s des Veda, S. 31).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/406>, abgerufen am 24.11.2024.