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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
bevölkerte Paddan-Aram,1) wo sie lange Zeit, mindestens etliche Jahr-
hunderte, verweilt haben müssen. Als aber die Weideplätze Mesopo-
tamiens für den an Menschenzahl und Viehstand gewachsenen Familien-
verband nicht mehr ausreichten, da zog ein Teil aus jener nordöst-
lichen Ecke Syriens, Paddan-Aram, nach der südwestlichen, Ägypten
zunächst gelegenen Ecke, Kanaan, wo er in der Nähe eines ansässigen,
ackerbauenden Volkes gastfreundliche Aufnahme fand und die Erlaubnis
erhielt, seine Herden auf den Bergen zu weiden. Doch lebte Mesopo-
tamien (Paddan-Aram) lange Zeit in dem Gedächtnis der Abrahamiden
als ihre echte Heimat fort. Jahve selber nennt Paddan-Aram Abra-
ham's "Vaterland" (Gen. XII, 1), und der mythische Abraham redet,
nachdem er schon lange in Kanaan sich niedergelassen hat, noch
immer mit Sehnsucht von seinem fernen "Vaterland" und entsendet
Boten in seine "Heimat" (Gen. XXIV, 4 und 7), um mit den dort
zurückgebliebenen Verwandten wieder anzuknüpfen. Und so bleiben
die Abrahamiden, obwohl schon in Kanaan ansässig, während jener
langen Zeiten, welche zu den beiden pseudomythischen Namen Isaak
und Jakob zusammengezogen worden sind, immerwährend halbe
Mesopotamier; es ist ein ewiges Hin und Her; der südliche Zweig
fühlt sich einem nördlichen Hauptstamm angehörig.2) Doch es kam der
Augenblick, wo sie noch weiter nach Süden ziehen mussten; in dürren
Jahren genügte das Weideland Kanaans nicht mehr, vielleicht waren
sie auch durch grössere Zahl den Kanaanitern unbequem geworden;
und so wanderten sie, unter der ihnen befreundeten Regierung der
halbsemitischen Hyksos, nach dem zu Ägypten gehörigen Lande Gosen
aus. Erst der lange Aufenthalt in Ägypten3) unterbrach den Verkehr

1) Später war Mesopotamien lange Zeit hindurch eine künstlich bewässerte
und in Folge dessen reich kultivierte Gegend; in früheren Zeiten jedoch war es,
gleich wie heute, ein armes Land, wo nur nomadische Hirten ihr Auskommen
finden konnten (vgl. Maspero: Histoire ancienne, I, 563).
2) Diese Zeit, während welcher "der Vater Jakob sich zum Volke Israel
ausbreitete" bezeichnet Wellhausen als "einen Jahrhunderte langen Zwischen-
raum" (Israelitische und jüdische Geschichte, S. 11).
3) Nach Genesis XV vierhundert Jahre, was natürlich nicht buchstäblich zu
nehmen ist, sondern als der Ausdruck einer fast undenklich langen Zeit. Die
Zahl 40 war bei den Hebräern der Ausdruck für eine unbestimmte grosse Menge,
400 a fortiori. Renan meint, der Aufenthalt der Israeliten in Ägypten habe
nicht über ein Jahrhundert gedauert, nur die (mit ihnen vielleicht nicht näher
verwandte und stark mit ägyptischem Blute versetzte) Familie der Josephiten sei
dort sehr lange ansässig gewesen (Histoire du peuple d'Israel, 13. ed. I, p. 112,
141, 142).

Die Erben.
bevölkerte Paddan-Aram,1) wo sie lange Zeit, mindestens etliche Jahr-
hunderte, verweilt haben müssen. Als aber die Weideplätze Mesopo-
tamiens für den an Menschenzahl und Viehstand gewachsenen Familien-
verband nicht mehr ausreichten, da zog ein Teil aus jener nordöst-
lichen Ecke Syriens, Paddan-Aram, nach der südwestlichen, Ägypten
zunächst gelegenen Ecke, Kanaan, wo er in der Nähe eines ansässigen,
ackerbauenden Volkes gastfreundliche Aufnahme fand und die Erlaubnis
erhielt, seine Herden auf den Bergen zu weiden. Doch lebte Mesopo-
tamien (Paddan-Aram) lange Zeit in dem Gedächtnis der Abrahamiden
als ihre echte Heimat fort. Jahve selber nennt Paddan-Aram Abra-
ham’s »Vaterland« (Gen. XII, 1), und der mythische Abraham redet,
nachdem er schon lange in Kanaan sich niedergelassen hat, noch
immer mit Sehnsucht von seinem fernen »Vaterland« und entsendet
Boten in seine »Heimat« (Gen. XXIV, 4 und 7), um mit den dort
zurückgebliebenen Verwandten wieder anzuknüpfen. Und so bleiben
die Abrahamiden, obwohl schon in Kanaan ansässig, während jener
langen Zeiten, welche zu den beiden pseudomythischen Namen Isaak
und Jakob zusammengezogen worden sind, immerwährend halbe
Mesopotamier; es ist ein ewiges Hin und Her; der südliche Zweig
fühlt sich einem nördlichen Hauptstamm angehörig.2) Doch es kam der
Augenblick, wo sie noch weiter nach Süden ziehen mussten; in dürren
Jahren genügte das Weideland Kanaans nicht mehr, vielleicht waren
sie auch durch grössere Zahl den Kanaanitern unbequem geworden;
und so wanderten sie, unter der ihnen befreundeten Regierung der
halbsemitischen Hyksos, nach dem zu Ägypten gehörigen Lande Gosen
aus. Erst der lange Aufenthalt in Ägypten3) unterbrach den Verkehr

1) Später war Mesopotamien lange Zeit hindurch eine künstlich bewässerte
und in Folge dessen reich kultivierte Gegend; in früheren Zeiten jedoch war es,
gleich wie heute, ein armes Land, wo nur nomadische Hirten ihr Auskommen
finden konnten (vgl. Maspero: Histoire ancienne, I, 563).
2) Diese Zeit, während welcher »der Vater Jakob sich zum Volke Israel
ausbreitete« bezeichnet Wellhausen als »einen Jahrhunderte langen Zwischen-
raum« (Israelitische und jüdische Geschichte, S. 11).
3) Nach Genesis XV vierhundert Jahre, was natürlich nicht buchstäblich zu
nehmen ist, sondern als der Ausdruck einer fast undenklich langen Zeit. Die
Zahl 40 war bei den Hebräern der Ausdruck für eine unbestimmte grosse Menge,
400 a fortiori. Renan meint, der Aufenthalt der Israeliten in Ägypten habe
nicht über ein Jahrhundert gedauert, nur die (mit ihnen vielleicht nicht näher
verwandte und stark mit ägyptischem Blute versetzte) Familie der Josephiten sei
dort sehr lange ansässig gewesen (Histoire du peuple d’Israël, 13. éd. I, p. 112,
141, 142).
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[352/0375] Die Erben. bevölkerte Paddan-Aram, 1) wo sie lange Zeit, mindestens etliche Jahr- hunderte, verweilt haben müssen. Als aber die Weideplätze Mesopo- tamiens für den an Menschenzahl und Viehstand gewachsenen Familien- verband nicht mehr ausreichten, da zog ein Teil aus jener nordöst- lichen Ecke Syriens, Paddan-Aram, nach der südwestlichen, Ägypten zunächst gelegenen Ecke, Kanaan, wo er in der Nähe eines ansässigen, ackerbauenden Volkes gastfreundliche Aufnahme fand und die Erlaubnis erhielt, seine Herden auf den Bergen zu weiden. Doch lebte Mesopo- tamien (Paddan-Aram) lange Zeit in dem Gedächtnis der Abrahamiden als ihre echte Heimat fort. Jahve selber nennt Paddan-Aram Abra- ham’s »Vaterland« (Gen. XII, 1), und der mythische Abraham redet, nachdem er schon lange in Kanaan sich niedergelassen hat, noch immer mit Sehnsucht von seinem fernen »Vaterland« und entsendet Boten in seine »Heimat« (Gen. XXIV, 4 und 7), um mit den dort zurückgebliebenen Verwandten wieder anzuknüpfen. Und so bleiben die Abrahamiden, obwohl schon in Kanaan ansässig, während jener langen Zeiten, welche zu den beiden pseudomythischen Namen Isaak und Jakob zusammengezogen worden sind, immerwährend halbe Mesopotamier; es ist ein ewiges Hin und Her; der südliche Zweig fühlt sich einem nördlichen Hauptstamm angehörig. 2) Doch es kam der Augenblick, wo sie noch weiter nach Süden ziehen mussten; in dürren Jahren genügte das Weideland Kanaans nicht mehr, vielleicht waren sie auch durch grössere Zahl den Kanaanitern unbequem geworden; und so wanderten sie, unter der ihnen befreundeten Regierung der halbsemitischen Hyksos, nach dem zu Ägypten gehörigen Lande Gosen aus. Erst der lange Aufenthalt in Ägypten 3) unterbrach den Verkehr 1) Später war Mesopotamien lange Zeit hindurch eine künstlich bewässerte und in Folge dessen reich kultivierte Gegend; in früheren Zeiten jedoch war es, gleich wie heute, ein armes Land, wo nur nomadische Hirten ihr Auskommen finden konnten (vgl. Maspero: Histoire ancienne, I, 563). 2) Diese Zeit, während welcher »der Vater Jakob sich zum Volke Israel ausbreitete« bezeichnet Wellhausen als »einen Jahrhunderte langen Zwischen- raum« (Israelitische und jüdische Geschichte, S. 11). 3) Nach Genesis XV vierhundert Jahre, was natürlich nicht buchstäblich zu nehmen ist, sondern als der Ausdruck einer fast undenklich langen Zeit. Die Zahl 40 war bei den Hebräern der Ausdruck für eine unbestimmte grosse Menge, 400 a fortiori. Renan meint, der Aufenthalt der Israeliten in Ägypten habe nicht über ein Jahrhundert gedauert, nur die (mit ihnen vielleicht nicht näher verwandte und stark mit ägyptischem Blute versetzte) Familie der Josephiten sei dort sehr lange ansässig gewesen (Histoire du peuple d’Israël, 13. éd. I, p. 112, 141, 142).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/375>, abgerufen am 24.11.2024.