liche, politische, künstlerische, wissenschaftliche -- die auch heute unser Leben ausfüllen und einem noch fernen Ziele zueilen. Will man durchaus den Begriff "Mittelalter" festhalten, so lässt sich leicht Rat schaffen: dazu genügt die Einsicht, dass wir Germanen selber, mitsamt unserem stolzen 19. Jahrhundert, in einer "mittleren Zeit" (wie die alten Historiker zu schreiben pflegten), ja, in einem echten Mittelalter mittendrin stecken. Denn das Vorwalten des Provisorischen, des Übergangsstadiums, der fast gänzliche Mangel an Definitivem, Vollendetem, Ausgeglichenem ist ein Kennzeichen unserer Zeit; wir sind in der "Mitte" einer Entwickelung, fern schon vom Anfangspunkte, vermutlich noch fern vom Endpunkte.
Einstweilen möge das Gesagte zur Abweisung anderer Ein- teilungen genügen; die Überzeugung, dass hier nicht willkürliches Gutdünken, sondern die Anerkennung der einen, grossen, grund- legenden Thatsache aller neueren Geschichte vorliegt, wird sich aus dem Studium des ganzen Werkes ergeben. Doch kann ich nicht um- hin, meine Wahl des Jahres 1200 als eines mittleren bequemen Datums noch kurz zu motivieren.
Fragen wir uns nämlich, wo die ersten sicheren Anzeichen sichDas Jahr 1200. bemerkbar machen, dass etwas Neues im Entstehen begriffen ist, eine neue Gestalt der Welt an Stelle der alten, zertrümmerten und an Stelle des herrschenden Chaos, so werden wir sagen müssen, diese charakteristischen Anzeichen sind schon vielerorten im 12. Jahrhundert (in Norditalien bereits im 11.) anzutreffen, sie mehren sich schnell im 13. -- dem "glorreichen Jahrhundert", wie es Fiske nennt -- er- reichen im 14. und 15. eine herrliche Frühblüte auf dem sozialen und industriellen Gebiete, in der Kunst im 15. und 16., in der Wissenschaft im 16. und 17., in der Philosophie im 17. und 18. Jahr- hundert. Diese Bewegung geht nicht geradlinig; in Staat und Kirche bekämpfen sich die grundlegenden Prinzipien, und auf den anderen Gebieten des Lebens herrscht viel zu viel Unbewusstsein, als dass nicht die Menschen oft in die Irre laufen sollten; doch der prinzipielle Unterschied besteht darin, ob nur Interessen aufeinander stossen, oder ob ideale, durch bestimmte Eigenart eingegebene Ziele der Menschheit vorschweben: diese Ziele besitzen wir nun seit dem 13. Jahrhundert (etwa); wir haben sie aber noch immer nicht er- reicht, sie schweben in weiter Ferne vor uns, und darauf beruht die Empfindung, dass wir des moralischen Gleichgewichts und der ästhe- tischen Harmonie der Alten noch so sehr ermangeln, zugleich aber
Allgemeine Einleitung.
liche, politische, künstlerische, wissenschaftliche — die auch heute unser Leben ausfüllen und einem noch fernen Ziele zueilen. Will man durchaus den Begriff »Mittelalter« festhalten, so lässt sich leicht Rat schaffen: dazu genügt die Einsicht, dass wir Germanen selber, mitsamt unserem stolzen 19. Jahrhundert, in einer »mittleren Zeit« (wie die alten Historiker zu schreiben pflegten), ja, in einem echten Mittelalter mittendrin stecken. Denn das Vorwalten des Provisorischen, des Übergangsstadiums, der fast gänzliche Mangel an Definitivem, Vollendetem, Ausgeglichenem ist ein Kennzeichen unserer Zeit; wir sind in der »Mitte« einer Entwickelung, fern schon vom Anfangspunkte, vermutlich noch fern vom Endpunkte.
Einstweilen möge das Gesagte zur Abweisung anderer Ein- teilungen genügen; die Überzeugung, dass hier nicht willkürliches Gutdünken, sondern die Anerkennung der einen, grossen, grund- legenden Thatsache aller neueren Geschichte vorliegt, wird sich aus dem Studium des ganzen Werkes ergeben. Doch kann ich nicht um- hin, meine Wahl des Jahres 1200 als eines mittleren bequemen Datums noch kurz zu motivieren.
Fragen wir uns nämlich, wo die ersten sicheren Anzeichen sichDas Jahr 1200. bemerkbar machen, dass etwas Neues im Entstehen begriffen ist, eine neue Gestalt der Welt an Stelle der alten, zertrümmerten und an Stelle des herrschenden Chaos, so werden wir sagen müssen, diese charakteristischen Anzeichen sind schon vielerorten im 12. Jahrhundert (in Norditalien bereits im 11.) anzutreffen, sie mehren sich schnell im 13. — dem »glorreichen Jahrhundert«, wie es Fiske nennt — er- reichen im 14. und 15. eine herrliche Frühblüte auf dem sozialen und industriellen Gebiete, in der Kunst im 15. und 16., in der Wissenschaft im 16. und 17., in der Philosophie im 17. und 18. Jahr- hundert. Diese Bewegung geht nicht geradlinig; in Staat und Kirche bekämpfen sich die grundlegenden Prinzipien, und auf den anderen Gebieten des Lebens herrscht viel zu viel Unbewusstsein, als dass nicht die Menschen oft in die Irre laufen sollten; doch der prinzipielle Unterschied besteht darin, ob nur Interessen aufeinander stossen, oder ob ideale, durch bestimmte Eigenart eingegebene Ziele der Menschheit vorschweben: diese Ziele besitzen wir nun seit dem 13. Jahrhundert (etwa); wir haben sie aber noch immer nicht er- reicht, sie schweben in weiter Ferne vor uns, und darauf beruht die Empfindung, dass wir des moralischen Gleichgewichts und der ästhe- tischen Harmonie der Alten noch so sehr ermangeln, zugleich aber
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[11/0034]
Allgemeine Einleitung.
liche, politische, künstlerische, wissenschaftliche — die auch heute
unser Leben ausfüllen und einem noch fernen Ziele zueilen. Will
man durchaus den Begriff »Mittelalter« festhalten, so lässt sich leicht
Rat schaffen: dazu genügt die Einsicht, dass wir Germanen selber,
mitsamt unserem stolzen 19. Jahrhundert, in einer »mittleren Zeit«
(wie die alten Historiker zu schreiben pflegten), ja, in einem echten
Mittelalter mittendrin stecken. Denn das Vorwalten des Provisorischen,
des Übergangsstadiums, der fast gänzliche Mangel an Definitivem,
Vollendetem, Ausgeglichenem ist ein Kennzeichen unserer Zeit; wir
sind in der »Mitte« einer Entwickelung, fern schon vom Anfangspunkte,
vermutlich noch fern vom Endpunkte.
Einstweilen möge das Gesagte zur Abweisung anderer Ein-
teilungen genügen; die Überzeugung, dass hier nicht willkürliches
Gutdünken, sondern die Anerkennung der einen, grossen, grund-
legenden Thatsache aller neueren Geschichte vorliegt, wird sich aus
dem Studium des ganzen Werkes ergeben. Doch kann ich nicht um-
hin, meine Wahl des Jahres 1200 als eines mittleren bequemen Datums
noch kurz zu motivieren.
Fragen wir uns nämlich, wo die ersten sicheren Anzeichen sich
bemerkbar machen, dass etwas Neues im Entstehen begriffen ist, eine
neue Gestalt der Welt an Stelle der alten, zertrümmerten und an
Stelle des herrschenden Chaos, so werden wir sagen müssen, diese
charakteristischen Anzeichen sind schon vielerorten im 12. Jahrhundert
(in Norditalien bereits im 11.) anzutreffen, sie mehren sich schnell im
13. — dem »glorreichen Jahrhundert«, wie es Fiske nennt — er-
reichen im 14. und 15. eine herrliche Frühblüte auf dem sozialen
und industriellen Gebiete, in der Kunst im 15. und 16., in der
Wissenschaft im 16. und 17., in der Philosophie im 17. und 18. Jahr-
hundert. Diese Bewegung geht nicht geradlinig; in Staat und
Kirche bekämpfen sich die grundlegenden Prinzipien, und auf den
anderen Gebieten des Lebens herrscht viel zu viel Unbewusstsein,
als dass nicht die Menschen oft in die Irre laufen sollten; doch der
prinzipielle Unterschied besteht darin, ob nur Interessen aufeinander
stossen, oder ob ideale, durch bestimmte Eigenart eingegebene Ziele
der Menschheit vorschweben: diese Ziele besitzen wir nun seit dem
13. Jahrhundert (etwa); wir haben sie aber noch immer nicht er-
reicht, sie schweben in weiter Ferne vor uns, und darauf beruht die
Empfindung, dass wir des moralischen Gleichgewichts und der ästhe-
tischen Harmonie der Alten noch so sehr ermangeln, zugleich aber
Das Jahr 1200.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/34>, abgerufen am 24.11.2024.
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