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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
weise, der ungelehrte Freund von Kunst und Wissenschaft, der tolerante
Vertreter der Gewissensfreiheit inmitten einer Welt, wo Christen
wie Hyänen sich gegenseitig zerfleischten, ist uns wie ein erstes Pfand,
dass es doch wieder einmal Tag werden könne auf dieser armen
Erde. Und wenn in der nun folgenden Zeit des wilden Kampfes,
in jenem Fieber, durch welches allein die europäische Menschheit
genesen und aus dem bösen Traum der entarteten, fluchbeladenen
Jahrhunderte des scheinbar geordneten Chaos zu frischem, gesundem,
stürmisch pulsierendem, nationalem Leben erwachen sollte, wenn da
Gelehrsamkeit und Kunst, sowie auch das Flitterwerk angeblicher
Civilisation, unbeachtet, fast vergessen blieben, so bedeutet das, bei
Gott, keine Nacht, sondern den Anbruch des Tages. Ich weiss nicht,
woher die Herren vom Gänsekiel die Berechtigung nehmen, nur ihre
eigenen Waffen zu ehren; unsere europäische Welt ist zunächst und
zuvörderst das Werk -- nicht von Philosophen und Bücherschreibern
und Bildermalern, sondern es ist das Werk der grossen germanischen
Fürsten, das Werk der Krieger und Staatsmänner. Derjenige Ent-
wickelungsgang, aus dem unsere heutigen Nationen hervorgegangen
sind -- und das ist doch offenbar der politische -- ist der grundlegende,
entscheidende. Man übersehe jedoch nicht, dass wir auch alles andere,
was zu besitzen wert war, diesen echten, edlen Menschen verdanken.
Jedes jener Jahrhunderte, das 7., das 8., das 9., hat grosse Gelehrte;
wer sie beschützt und ermutigt, sind die Fürsten. Man pflegt zu
sagen, die Kirche sei die Retterin des Wissens, der Kultur gewesen:
das ist nur in einem sehr bedingten Sinne wahr. Man muss -- was
ich im folgenden Abschnitte dieses ersten Teiles zeigen werde --
lernen, die frühe christliche Kirche nicht als einen einfachen, einheit-
lichen Organismus zu betrachten, selbst nicht innerhalb des west-
europäischen römischen Verbandes; die Zentralisierung und der blinde
Gehorsam gegen Rom, die wir heute erleben, waren in frühen Jahr-
hunderten gänzlich unbekannt. Freilich gehörte fast jede Gelehr-
samkeit und Kunst der Kirche an; ihre Klöster und Schulen waren
die Schutz- und Pflegestätten, wohin friedliche Gedankenarbeit in jenen
rauhen Zeiten sich flüchtete; doch bedeutete damals der Eintritt in
die Kirche als Mönch oder Weltgeistlicher kaum mehr als die Auf-
nahme in einen privilegierten, besonderen Schutz geniessenden Stand,
welche den so Bevorzugten kaum nennenswerte Verpflichtungen als
Gegenleistung auferlegte; jeder gebildete Mensch, jeder Lehrer und
Student, jeder Arzt und Rechtskundige gehörte bis zum 13. Jahr-

Die Erben.
weise, der ungelehrte Freund von Kunst und Wissenschaft, der tolerante
Vertreter der Gewissensfreiheit inmitten einer Welt, wo Christen
wie Hyänen sich gegenseitig zerfleischten, ist uns wie ein erstes Pfand,
dass es doch wieder einmal Tag werden könne auf dieser armen
Erde. Und wenn in der nun folgenden Zeit des wilden Kampfes,
in jenem Fieber, durch welches allein die europäische Menschheit
genesen und aus dem bösen Traum der entarteten, fluchbeladenen
Jahrhunderte des scheinbar geordneten Chaos zu frischem, gesundem,
stürmisch pulsierendem, nationalem Leben erwachen sollte, wenn da
Gelehrsamkeit und Kunst, sowie auch das Flitterwerk angeblicher
Civilisation, unbeachtet, fast vergessen blieben, so bedeutet das, bei
Gott, keine Nacht, sondern den Anbruch des Tages. Ich weiss nicht,
woher die Herren vom Gänsekiel die Berechtigung nehmen, nur ihre
eigenen Waffen zu ehren; unsere europäische Welt ist zunächst und
zuvörderst das Werk — nicht von Philosophen und Bücherschreibern
und Bildermalern, sondern es ist das Werk der grossen germanischen
Fürsten, das Werk der Krieger und Staatsmänner. Derjenige Ent-
wickelungsgang, aus dem unsere heutigen Nationen hervorgegangen
sind — und das ist doch offenbar der politische — ist der grundlegende,
entscheidende. Man übersehe jedoch nicht, dass wir auch alles andere,
was zu besitzen wert war, diesen echten, edlen Menschen verdanken.
Jedes jener Jahrhunderte, das 7., das 8., das 9., hat grosse Gelehrte;
wer sie beschützt und ermutigt, sind die Fürsten. Man pflegt zu
sagen, die Kirche sei die Retterin des Wissens, der Kultur gewesen:
das ist nur in einem sehr bedingten Sinne wahr. Man muss — was
ich im folgenden Abschnitte dieses ersten Teiles zeigen werde —
lernen, die frühe christliche Kirche nicht als einen einfachen, einheit-
lichen Organismus zu betrachten, selbst nicht innerhalb des west-
europäischen römischen Verbandes; die Zentralisierung und der blinde
Gehorsam gegen Rom, die wir heute erleben, waren in frühen Jahr-
hunderten gänzlich unbekannt. Freilich gehörte fast jede Gelehr-
samkeit und Kunst der Kirche an; ihre Klöster und Schulen waren
die Schutz- und Pflegestätten, wohin friedliche Gedankenarbeit in jenen
rauhen Zeiten sich flüchtete; doch bedeutete damals der Eintritt in
die Kirche als Mönch oder Weltgeistlicher kaum mehr als die Auf-
nahme in einen privilegierten, besonderen Schutz geniessenden Stand,
welche den so Bevorzugten kaum nennenswerte Verpflichtungen als
Gegenleistung auferlegte; jeder gebildete Mensch, jeder Lehrer und
Student, jeder Arzt und Rechtskundige gehörte bis zum 13. Jahr-

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[316/0339] Die Erben. weise, der ungelehrte Freund von Kunst und Wissenschaft, der tolerante Vertreter der Gewissensfreiheit inmitten einer Welt, wo Christen wie Hyänen sich gegenseitig zerfleischten, ist uns wie ein erstes Pfand, dass es doch wieder einmal Tag werden könne auf dieser armen Erde. Und wenn in der nun folgenden Zeit des wilden Kampfes, in jenem Fieber, durch welches allein die europäische Menschheit genesen und aus dem bösen Traum der entarteten, fluchbeladenen Jahrhunderte des scheinbar geordneten Chaos zu frischem, gesundem, stürmisch pulsierendem, nationalem Leben erwachen sollte, wenn da Gelehrsamkeit und Kunst, sowie auch das Flitterwerk angeblicher Civilisation, unbeachtet, fast vergessen blieben, so bedeutet das, bei Gott, keine Nacht, sondern den Anbruch des Tages. Ich weiss nicht, woher die Herren vom Gänsekiel die Berechtigung nehmen, nur ihre eigenen Waffen zu ehren; unsere europäische Welt ist zunächst und zuvörderst das Werk — nicht von Philosophen und Bücherschreibern und Bildermalern, sondern es ist das Werk der grossen germanischen Fürsten, das Werk der Krieger und Staatsmänner. Derjenige Ent- wickelungsgang, aus dem unsere heutigen Nationen hervorgegangen sind — und das ist doch offenbar der politische — ist der grundlegende, entscheidende. Man übersehe jedoch nicht, dass wir auch alles andere, was zu besitzen wert war, diesen echten, edlen Menschen verdanken. Jedes jener Jahrhunderte, das 7., das 8., das 9., hat grosse Gelehrte; wer sie beschützt und ermutigt, sind die Fürsten. Man pflegt zu sagen, die Kirche sei die Retterin des Wissens, der Kultur gewesen: das ist nur in einem sehr bedingten Sinne wahr. Man muss — was ich im folgenden Abschnitte dieses ersten Teiles zeigen werde — lernen, die frühe christliche Kirche nicht als einen einfachen, einheit- lichen Organismus zu betrachten, selbst nicht innerhalb des west- europäischen römischen Verbandes; die Zentralisierung und der blinde Gehorsam gegen Rom, die wir heute erleben, waren in frühen Jahr- hunderten gänzlich unbekannt. Freilich gehörte fast jede Gelehr- samkeit und Kunst der Kirche an; ihre Klöster und Schulen waren die Schutz- und Pflegestätten, wohin friedliche Gedankenarbeit in jenen rauhen Zeiten sich flüchtete; doch bedeutete damals der Eintritt in die Kirche als Mönch oder Weltgeistlicher kaum mehr als die Auf- nahme in einen privilegierten, besonderen Schutz geniessenden Stand, welche den so Bevorzugten kaum nennenswerte Verpflichtungen als Gegenleistung auferlegte; jeder gebildete Mensch, jeder Lehrer und Student, jeder Arzt und Rechtskundige gehörte bis zum 13. Jahr-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/339>, abgerufen am 25.11.2024.