mögen noch so verschieden beanlagt sein, nach noch so verschiedenen Richtungen in ihren Bethätigungen auseinanderstrahlen, zusammen bilden sie eine gestaltete Einheit und die Kraft -- oder sagen wir lieber die Bedeutung -- jedes Einzelnen ist durch seinen organischen Zusammenhang mit zahllosen anderen vertausendfacht.
Wir sahen vorhin den hochbegabten Lucian sein Leben schier vergeuden; wir sahen den edlen Augustinus zwischen den erhabensten Gedanken und dem krassesten, dümmsten Aberglauben ratlos hin- und herpendeln: solche, aus aller notwendigen Angehörigkeit losge- rissene Menschen, solche arme Bastarde unter Bastarden, befinden sich in einer fast ebenso naturwidrigen Lage, wie eine unselige Ameise, die man zehn Meilen weit von ihrem Neste trüge und dort hinsetzte. Diese wäre doch wenigstens nur durch äussere Verhältnisse verunglückt, jene aber sind durch ihre eigene innere Beschaffenheit aus jeder echten Zusammengehörigkeit verbannt. Man lernt eben bei dieser Betrachtung einsehen, dass, was man auch über die causa finalis des Daseins denken mag, das menschliche Individuum jedenfalls nicht als ver- einzeltes Individuum, nicht als beliebig austauschbarer Brettstein, son- dern nur als Teil eines organischen Ganzen, eines besonderen Ge- schlechtes, seine höchste Bestimmung erfüllen kann.1)
Kein Zweifel! das rassen- und nationalitätlose Völkerchaos desDie Germanen. spätrömischen Imperiums bedeutete einen unheilvollen, Verderbnis bringenden Zustand, eine Versündigung gegen die Natur. Nur ein Lichtstrahl glänzte über jene entartete Welt. Er kam aus dem Norden. Ex septentrione Lux! Nimmt man eine Karte zur Hand, so scheint freilich auf den ersten Blick das Europa des 4. Jahr- hunderts auch nördlich der Imperium-Grenzen ziemlich chaotisch; gar viele Völker stehen da nebeneinander und verschieben sich un- aufhörlich: die Alemannen, die Marcomannen, die Sachsen, die Franken, die Burgunder, die Goten, die Vandalen, die Slaven, die Hunnen und noch manche andere. Chaotisch sind jedoch dort nur die politischen Verhältnisse; die Völker sind echte, reingezüchtete Rassen, Männer, die ihren Adel als einzige Habe dorthin tragen, wohin das Schicksal sie treibt. In einem der nächsten Kapitel werde ich von ihnen zu reden haben. Den weniger Belesenen möchte ich vorläufig nur warnen, dass er sich die Sache nicht etwa so vorstelle, als seien die "Barbaren"
1) "Die Individuen und die Gesamtheit sind identisch" hatten die indischen Denker gelehrt! (siehe Garbe's Samkhya-Philosophie, S. 158).
Das Völkerchaos.
mögen noch so verschieden beanlagt sein, nach noch so verschiedenen Richtungen in ihren Bethätigungen auseinanderstrahlen, zusammen bilden sie eine gestaltete Einheit und die Kraft — oder sagen wir lieber die Bedeutung — jedes Einzelnen ist durch seinen organischen Zusammenhang mit zahllosen anderen vertausendfacht.
Wir sahen vorhin den hochbegabten Lucian sein Leben schier vergeuden; wir sahen den edlen Augustinus zwischen den erhabensten Gedanken und dem krassesten, dümmsten Aberglauben ratlos hin- und herpendeln: solche, aus aller notwendigen Angehörigkeit losge- rissene Menschen, solche arme Bastarde unter Bastarden, befinden sich in einer fast ebenso naturwidrigen Lage, wie eine unselige Ameise, die man zehn Meilen weit von ihrem Neste trüge und dort hinsetzte. Diese wäre doch wenigstens nur durch äussere Verhältnisse verunglückt, jene aber sind durch ihre eigene innere Beschaffenheit aus jeder echten Zusammengehörigkeit verbannt. Man lernt eben bei dieser Betrachtung einsehen, dass, was man auch über die causa finalis des Daseins denken mag, das menschliche Individuum jedenfalls nicht als ver- einzeltes Individuum, nicht als beliebig austauschbarer Brettstein, son- dern nur als Teil eines organischen Ganzen, eines besonderen Ge- schlechtes, seine höchste Bestimmung erfüllen kann.1)
Kein Zweifel! das rassen- und nationalitätlose Völkerchaos desDie Germanen. spätrömischen Imperiums bedeutete einen unheilvollen, Verderbnis bringenden Zustand, eine Versündigung gegen die Natur. Nur ein Lichtstrahl glänzte über jene entartete Welt. Er kam aus dem Norden. Ex septentrione Lux! Nimmt man eine Karte zur Hand, so scheint freilich auf den ersten Blick das Europa des 4. Jahr- hunderts auch nördlich der Imperium-Grenzen ziemlich chaotisch; gar viele Völker stehen da nebeneinander und verschieben sich un- aufhörlich: die Alemannen, die Marcomannen, die Sachsen, die Franken, die Burgunder, die Goten, die Vandalen, die Slaven, die Hunnen und noch manche andere. Chaotisch sind jedoch dort nur die politischen Verhältnisse; die Völker sind echte, reingezüchtete Rassen, Männer, die ihren Adel als einzige Habe dorthin tragen, wohin das Schicksal sie treibt. In einem der nächsten Kapitel werde ich von ihnen zu reden haben. Den weniger Belesenen möchte ich vorläufig nur warnen, dass er sich die Sache nicht etwa so vorstelle, als seien die »Barbaren«
1) »Die Individuen und die Gesamtheit sind identisch« hatten die indischen Denker gelehrt! (siehe Garbe’s Sâmkhya-Philosophie, S. 158).
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Das Völkerchaos.
mögen noch so verschieden beanlagt sein, nach noch so verschiedenen
Richtungen in ihren Bethätigungen auseinanderstrahlen, zusammen
bilden sie eine gestaltete Einheit und die Kraft — oder sagen wir
lieber die Bedeutung — jedes Einzelnen ist durch seinen organischen
Zusammenhang mit zahllosen anderen vertausendfacht.
Wir sahen vorhin den hochbegabten Lucian sein Leben schier
vergeuden; wir sahen den edlen Augustinus zwischen den erhabensten
Gedanken und dem krassesten, dümmsten Aberglauben ratlos hin-
und herpendeln: solche, aus aller notwendigen Angehörigkeit losge-
rissene Menschen, solche arme Bastarde unter Bastarden, befinden
sich in einer fast ebenso naturwidrigen Lage, wie eine unselige Ameise,
die man zehn Meilen weit von ihrem Neste trüge und dort hinsetzte.
Diese wäre doch wenigstens nur durch äussere Verhältnisse verunglückt,
jene aber sind durch ihre eigene innere Beschaffenheit aus jeder echten
Zusammengehörigkeit verbannt. Man lernt eben bei dieser Betrachtung
einsehen, dass, was man auch über die causa finalis des Daseins
denken mag, das menschliche Individuum jedenfalls nicht als ver-
einzeltes Individuum, nicht als beliebig austauschbarer Brettstein, son-
dern nur als Teil eines organischen Ganzen, eines besonderen Ge-
schlechtes, seine höchste Bestimmung erfüllen kann. 1)
Kein Zweifel! das rassen- und nationalitätlose Völkerchaos des
spätrömischen Imperiums bedeutete einen unheilvollen, Verderbnis
bringenden Zustand, eine Versündigung gegen die Natur. Nur ein
Lichtstrahl glänzte über jene entartete Welt. Er kam aus dem
Norden. Ex septentrione Lux! Nimmt man eine Karte zur Hand,
so scheint freilich auf den ersten Blick das Europa des 4. Jahr-
hunderts auch nördlich der Imperium-Grenzen ziemlich chaotisch;
gar viele Völker stehen da nebeneinander und verschieben sich un-
aufhörlich: die Alemannen, die Marcomannen, die Sachsen, die Franken,
die Burgunder, die Goten, die Vandalen, die Slaven, die Hunnen und
noch manche andere. Chaotisch sind jedoch dort nur die politischen
Verhältnisse; die Völker sind echte, reingezüchtete Rassen, Männer,
die ihren Adel als einzige Habe dorthin tragen, wohin das Schicksal sie
treibt. In einem der nächsten Kapitel werde ich von ihnen zu reden
haben. Den weniger Belesenen möchte ich vorläufig nur warnen,
dass er sich die Sache nicht etwa so vorstelle, als seien die »Barbaren«
Die
Germanen.
1) »Die Individuen und die Gesamtheit sind identisch« hatten die indischen
Denker gelehrt! (siehe Garbe’s Sâmkhya-Philosophie, S. 158).
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/336>, abgerufen am 25.11.2024.
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