Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Völkerchaos.
In vielen seiner Schriften führt er alle mögliche "Systeme" nach-
einander auf, z. B. im Ikaromenippus, im Verkauf der philosophischen
Charaktere,
etc.; immer ist es das Alleräusserlichste, was er ergreift,
das formelle Moment, ohne welches die Kundgebung eines Gedankens
nicht möglich ist, das aber wahrlich mit dem Gedanken selber nicht
verwechselt werden darf. Ebenso in Betreff der Religion. Aristophanes
hatte gespottet wie später Voltaire; bei diesen beiden Männern ging
aber die Satire aus einem positiven, konstruktiven Gedanken hervor und
überall leuchtet die fanatische Liebe zur eignen Volksart durch, zu
dieser festen, bestimmten Blutgemeinde, die einen Jeden von ihnen
mit ihren Traditionen, ihrem Glauben, ihren grossen Männern, umfing
und trug; Lucian dagegen spottet wie Heine,1) es ist kein edles Ziel,
keine tiefe Überzeugung, kein gründliches Verstehen vorhanden; wie
ein Wrack auf dem Ocean treibt er ziellos herum, nirgends daheim,
nicht ohne edle Regung, doch ohne einen Gegenstand, dem er sich
hätte opfern können, hochgelehrt, doch ein Muster jener Bildungs-
ungeheuer, von denen Calderon sagt, dass sie

Alles wissen, nichts erfahren.

Eines aber verstand er, und das macht auch seinen ganzen Wert als
Schriftsteller für uns aus: er verstand den Geist, dem er glich,
nämlich die ganze bastardierte, verkommene, entartete Welt um ihn
herum; er schildert sie und geisselt sie, wie das nur einer konnte,
der selber dazu gehörte, der ihre Motive und ihre Methoden aus
eigener Erfahrung kannte. Hier fehlte der Kern nicht. Daher die
köstlichen Satiren auf die Homerkritiker, auf den bis auf das Mark
der Knochen verderbten Gelehrtenstand, auf die religiösen Schwindler,
auf die aufgeblasenen roh-ignoranten Millionäre, auf die ärztlichen
Quacksalber u. s. w. Hier wirkten sein Talent und seine Welt-
erfahrung zusammen, um Ausserordentliches zu stande zu bringen. --
Und damit ich meine Schilderung nicht unvollendet lasse, will
ich noch hinzufügen, dass jener zweite Aufenthalt in Athen, wenn
er den Lucian auch nicht lehrte, was Mythologie und Metaphysik,
noch was heldenhafte Gesinnung sei, doch für ihn die Quelle neuer
Einnahmen wurde. Dort wandte er sich nämlich fleissig der Schrift-
stellerei zu, schrieb seine Göttergespräche, seine Totengespräche,

1) Nur hinkt dieser zweite Vergleich einigermassen, da Heine doch einem
bestimmten Volk angehörte und in Folge dessen eine viel bestimmtere Physiognomie
besass.

Das Völkerchaos.
In vielen seiner Schriften führt er alle mögliche »Systeme« nach-
einander auf, z. B. im Ikaromenippus, im Verkauf der philosophischen
Charaktere,
etc.; immer ist es das Alleräusserlichste, was er ergreift,
das formelle Moment, ohne welches die Kundgebung eines Gedankens
nicht möglich ist, das aber wahrlich mit dem Gedanken selber nicht
verwechselt werden darf. Ebenso in Betreff der Religion. Aristophanes
hatte gespottet wie später Voltaire; bei diesen beiden Männern ging
aber die Satire aus einem positiven, konstruktiven Gedanken hervor und
überall leuchtet die fanatische Liebe zur eignen Volksart durch, zu
dieser festen, bestimmten Blutgemeinde, die einen Jeden von ihnen
mit ihren Traditionen, ihrem Glauben, ihren grossen Männern, umfing
und trug; Lucian dagegen spottet wie Heine,1) es ist kein edles Ziel,
keine tiefe Überzeugung, kein gründliches Verstehen vorhanden; wie
ein Wrack auf dem Ocean treibt er ziellos herum, nirgends daheim,
nicht ohne edle Regung, doch ohne einen Gegenstand, dem er sich
hätte opfern können, hochgelehrt, doch ein Muster jener Bildungs-
ungeheuer, von denen Calderon sagt, dass sie

Alles wissen, nichts erfahren.

Eines aber verstand er, und das macht auch seinen ganzen Wert als
Schriftsteller für uns aus: er verstand den Geist, dem er glich,
nämlich die ganze bastardierte, verkommene, entartete Welt um ihn
herum; er schildert sie und geisselt sie, wie das nur einer konnte,
der selber dazu gehörte, der ihre Motive und ihre Methoden aus
eigener Erfahrung kannte. Hier fehlte der Kern nicht. Daher die
köstlichen Satiren auf die Homerkritiker, auf den bis auf das Mark
der Knochen verderbten Gelehrtenstand, auf die religiösen Schwindler,
auf die aufgeblasenen roh-ignoranten Millionäre, auf die ärztlichen
Quacksalber u. s. w. Hier wirkten sein Talent und seine Welt-
erfahrung zusammen, um Ausserordentliches zu stande zu bringen. —
Und damit ich meine Schilderung nicht unvollendet lasse, will
ich noch hinzufügen, dass jener zweite Aufenthalt in Athen, wenn
er den Lucian auch nicht lehrte, was Mythologie und Metaphysik,
noch was heldenhafte Gesinnung sei, doch für ihn die Quelle neuer
Einnahmen wurde. Dort wandte er sich nämlich fleissig der Schrift-
stellerei zu, schrieb seine Göttergespräche, seine Totengespräche,

1) Nur hinkt dieser zweite Vergleich einigermassen, da Heine doch einem
bestimmten Volk angehörte und in Folge dessen eine viel bestimmtere Physiognomie
besass.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0326" n="303"/><fw place="top" type="header">Das Völkerchaos.</fw><lb/>
In vielen seiner Schriften führt er alle mögliche »Systeme« nach-<lb/>
einander auf, z. B. im <hi rendition="#i">Ikaromenippus,</hi> im <hi rendition="#i">Verkauf der philosophischen<lb/>
Charaktere,</hi> etc.; immer ist es das Alleräusserlichste, was er ergreift,<lb/>
das formelle Moment, ohne welches die Kundgebung eines Gedankens<lb/>
nicht möglich ist, das aber wahrlich mit dem Gedanken selber nicht<lb/>
verwechselt werden darf. Ebenso in Betreff der Religion. Aristophanes<lb/>
hatte gespottet wie später Voltaire; bei diesen beiden Männern ging<lb/>
aber die Satire aus einem positiven, konstruktiven Gedanken hervor und<lb/>
überall leuchtet die fanatische Liebe zur eignen Volksart durch, zu<lb/>
dieser festen, bestimmten Blutgemeinde, die einen Jeden von ihnen<lb/>
mit ihren Traditionen, ihrem Glauben, ihren grossen Männern, umfing<lb/>
und trug; Lucian dagegen spottet wie Heine,<note place="foot" n="1)">Nur hinkt dieser zweite Vergleich einigermassen, da Heine doch einem<lb/>
bestimmten Volk angehörte und in Folge dessen eine viel bestimmtere Physiognomie<lb/>
besass.</note> es ist kein edles Ziel,<lb/>
keine tiefe Überzeugung, kein gründliches Verstehen vorhanden; wie<lb/>
ein Wrack auf dem Ocean treibt er ziellos herum, nirgends daheim,<lb/>
nicht ohne edle Regung, doch ohne einen Gegenstand, dem er sich<lb/>
hätte opfern können, hochgelehrt, doch ein Muster jener Bildungs-<lb/>
ungeheuer, von denen Calderon sagt, dass sie</p><lb/>
            <p>Alles wissen, nichts erfahren.</p><lb/>
            <p>Eines aber verstand er, und das macht auch seinen ganzen Wert als<lb/>
Schriftsteller für uns aus: er verstand den Geist, dem er glich,<lb/>
nämlich die ganze bastardierte, verkommene, entartete Welt um ihn<lb/>
herum; er schildert sie und geisselt sie, wie das nur einer konnte,<lb/>
der selber dazu gehörte, der ihre Motive und ihre Methoden aus<lb/>
eigener Erfahrung kannte. <hi rendition="#g">Hier</hi> fehlte der Kern nicht. Daher die<lb/>
köstlichen Satiren auf die Homerkritiker, auf den bis auf das Mark<lb/>
der Knochen verderbten Gelehrtenstand, auf die religiösen Schwindler,<lb/>
auf die aufgeblasenen roh-ignoranten Millionäre, auf die ärztlichen<lb/>
Quacksalber u. s. w. Hier wirkten sein Talent und seine Welt-<lb/>
erfahrung zusammen, um Ausserordentliches zu stande zu bringen. &#x2014;<lb/>
Und damit ich meine Schilderung nicht unvollendet lasse, will<lb/>
ich noch hinzufügen, dass jener zweite Aufenthalt in Athen, wenn<lb/>
er den Lucian auch nicht lehrte, was Mythologie und Metaphysik,<lb/>
noch was heldenhafte Gesinnung sei, doch für ihn die Quelle neuer<lb/>
Einnahmen wurde. Dort wandte er sich nämlich fleissig der Schrift-<lb/>
stellerei zu, schrieb seine Göttergespräche, seine Totengespräche,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[303/0326] Das Völkerchaos. In vielen seiner Schriften führt er alle mögliche »Systeme« nach- einander auf, z. B. im Ikaromenippus, im Verkauf der philosophischen Charaktere, etc.; immer ist es das Alleräusserlichste, was er ergreift, das formelle Moment, ohne welches die Kundgebung eines Gedankens nicht möglich ist, das aber wahrlich mit dem Gedanken selber nicht verwechselt werden darf. Ebenso in Betreff der Religion. Aristophanes hatte gespottet wie später Voltaire; bei diesen beiden Männern ging aber die Satire aus einem positiven, konstruktiven Gedanken hervor und überall leuchtet die fanatische Liebe zur eignen Volksart durch, zu dieser festen, bestimmten Blutgemeinde, die einen Jeden von ihnen mit ihren Traditionen, ihrem Glauben, ihren grossen Männern, umfing und trug; Lucian dagegen spottet wie Heine, 1) es ist kein edles Ziel, keine tiefe Überzeugung, kein gründliches Verstehen vorhanden; wie ein Wrack auf dem Ocean treibt er ziellos herum, nirgends daheim, nicht ohne edle Regung, doch ohne einen Gegenstand, dem er sich hätte opfern können, hochgelehrt, doch ein Muster jener Bildungs- ungeheuer, von denen Calderon sagt, dass sie Alles wissen, nichts erfahren. Eines aber verstand er, und das macht auch seinen ganzen Wert als Schriftsteller für uns aus: er verstand den Geist, dem er glich, nämlich die ganze bastardierte, verkommene, entartete Welt um ihn herum; er schildert sie und geisselt sie, wie das nur einer konnte, der selber dazu gehörte, der ihre Motive und ihre Methoden aus eigener Erfahrung kannte. Hier fehlte der Kern nicht. Daher die köstlichen Satiren auf die Homerkritiker, auf den bis auf das Mark der Knochen verderbten Gelehrtenstand, auf die religiösen Schwindler, auf die aufgeblasenen roh-ignoranten Millionäre, auf die ärztlichen Quacksalber u. s. w. Hier wirkten sein Talent und seine Welt- erfahrung zusammen, um Ausserordentliches zu stande zu bringen. — Und damit ich meine Schilderung nicht unvollendet lasse, will ich noch hinzufügen, dass jener zweite Aufenthalt in Athen, wenn er den Lucian auch nicht lehrte, was Mythologie und Metaphysik, noch was heldenhafte Gesinnung sei, doch für ihn die Quelle neuer Einnahmen wurde. Dort wandte er sich nämlich fleissig der Schrift- stellerei zu, schrieb seine Göttergespräche, seine Totengespräche, 1) Nur hinkt dieser zweite Vergleich einigermassen, da Heine doch einem bestimmten Volk angehörte und in Folge dessen eine viel bestimmtere Physiognomie besass.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/326
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/326>, abgerufen am 26.11.2024.