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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.
gebilden bewegt sich die öffentliche Meinung! Man sehe doch wie
Gobineau seine Darlegung -- so erstaunlich reich an später bestätigten
intuitiven Ahnungen und an historischem Wissen -- auf die dog-
matische Annahme gründet, die Welt sei von Sem, Ham und Japhet
bevölkert worden; ein solch' klaffender Riss in dem Urteilsvermögen
genügt, um ein derartiges Werk, trotz aller dokumentarischen Be-
gründung, in die hybride Gattung der "wissenschaftlichen Phantasma-
gorieen" zu verweisen. Damit hängt dann Gobineau's weitere Wahn-
vorstellung zusammen, die von Hause aus "reinen" edlen Rassen
vermischten sich im Verlauf der Geschichte und würden mit jeder
Vermischung unwiederbringlich unreiner und unedler, woraus sich
dann notwendigerweise eine trostlos pessimistische Ansicht über die
Zukunft des Menschengeschlechtes ergeben muss. Die erwähnte An-
nahme beruht jedoch auf einer gänzlichen Unkenntnis der physio-
logischen Bedeutung dessen, was man unter "Rasse" zu verstehen
hat. Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel herab, sondern sie
wird nach und nach edel, genau so wie die Obstbäume, und dieser
Werdeprozess kann jeden Augenblick von Neuem beginnen, sobald
ein geographisch-historischer Zufall oder (wie bei den Juden) ein fester
Plan die Bedingungen schafft. Ähnlichen Widersinnigkeiten begegnen
wir überall auf Schritt und Tritt. Wir haben z. B. eine mächtige
antisemitische Bewegung: ja, sind denn die Juden und die übrigen
Semiten identisch? Haben sich nicht die Juden gerade durch ihre
Entwickelung zu einer besonderen, reinen Rasse tief differenziert?
Ist es sicher, dass der Entstehung dieses Volkes nicht eine wichtige
Kreuzung voranging? Und was ist ein Arier? Wir hören so Vieles
und Bestimmtes darüber aussagen. Dem Semiten, unter dem wir im
gewöhnlichen Leben lediglich den Juden verstehen (was doch wenigstens
eine durchaus konkrete, auf Erfahrung beruhende Vorstellung bedeutet),
stellen wir den "Arier" entgegen. Was ist das aber für ein Mensch?
Welcher konkreten Vorstellung entspricht er? Nur wer nichts von
Ethnographie weiss, kann eine bestimmte Antwort auf diese Frage
wagen. Sobald man diesen Ausdruck nicht auf die zweifelsohne mit-
einander verwandten Indo-Eranier beschränkt, gerät man in das Gebiet
der ungewissesten Hypothesen.1) Physisch weichen die Völker, die

1) Selbst mit dieser, so sehr eingeschränkten Behauptung, die ich aus den
besten mir bekannten Büchern schöpfte, scheine ich mehr vorausgesetzt zu haben,
als die Wissenschaft mit Sicherheit behaupten kann; denn ich lese in einer Special-
arbeit: Les Aryens au nord et au sud de l'Hindou-Kousch von Charles de Ujfalvi

Das Völkerchaos.
gebilden bewegt sich die öffentliche Meinung! Man sehe doch wie
Gobineau seine Darlegung — so erstaunlich reich an später bestätigten
intuitiven Ahnungen und an historischem Wissen — auf die dog-
matische Annahme gründet, die Welt sei von Sem, Ham und Japhet
bevölkert worden; ein solch’ klaffender Riss in dem Urteilsvermögen
genügt, um ein derartiges Werk, trotz aller dokumentarischen Be-
gründung, in die hybride Gattung der »wissenschaftlichen Phantasma-
gorieen« zu verweisen. Damit hängt dann Gobineau’s weitere Wahn-
vorstellung zusammen, die von Hause aus »reinen« edlen Rassen
vermischten sich im Verlauf der Geschichte und würden mit jeder
Vermischung unwiederbringlich unreiner und unedler, woraus sich
dann notwendigerweise eine trostlos pessimistische Ansicht über die
Zukunft des Menschengeschlechtes ergeben muss. Die erwähnte An-
nahme beruht jedoch auf einer gänzlichen Unkenntnis der physio-
logischen Bedeutung dessen, was man unter »Rasse« zu verstehen
hat. Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel herab, sondern sie
wird nach und nach edel, genau so wie die Obstbäume, und dieser
Werdeprozess kann jeden Augenblick von Neuem beginnen, sobald
ein geographisch-historischer Zufall oder (wie bei den Juden) ein fester
Plan die Bedingungen schafft. Ähnlichen Widersinnigkeiten begegnen
wir überall auf Schritt und Tritt. Wir haben z. B. eine mächtige
antisemitische Bewegung: ja, sind denn die Juden und die übrigen
Semiten identisch? Haben sich nicht die Juden gerade durch ihre
Entwickelung zu einer besonderen, reinen Rasse tief differenziert?
Ist es sicher, dass der Entstehung dieses Volkes nicht eine wichtige
Kreuzung voranging? Und was ist ein Arier? Wir hören so Vieles
und Bestimmtes darüber aussagen. Dem Semiten, unter dem wir im
gewöhnlichen Leben lediglich den Juden verstehen (was doch wenigstens
eine durchaus konkrete, auf Erfahrung beruhende Vorstellung bedeutet),
stellen wir den »Arier« entgegen. Was ist das aber für ein Mensch?
Welcher konkreten Vorstellung entspricht er? Nur wer nichts von
Ethnographie weiss, kann eine bestimmte Antwort auf diese Frage
wagen. Sobald man diesen Ausdruck nicht auf die zweifelsohne mit-
einander verwandten Indo-Eranier beschränkt, gerät man in das Gebiet
der ungewissesten Hypothesen.1) Physisch weichen die Völker, die

1) Selbst mit dieser, so sehr eingeschränkten Behauptung, die ich aus den
besten mir bekannten Büchern schöpfte, scheine ich mehr vorausgesetzt zu haben,
als die Wissenschaft mit Sicherheit behaupten kann; denn ich lese in einer Special-
arbeit: Les Aryens au nord et au sud de l’Hindou-Kousch von Charles de Ujfalvi
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[267/0290] Das Völkerchaos. gebilden bewegt sich die öffentliche Meinung! Man sehe doch wie Gobineau seine Darlegung — so erstaunlich reich an später bestätigten intuitiven Ahnungen und an historischem Wissen — auf die dog- matische Annahme gründet, die Welt sei von Sem, Ham und Japhet bevölkert worden; ein solch’ klaffender Riss in dem Urteilsvermögen genügt, um ein derartiges Werk, trotz aller dokumentarischen Be- gründung, in die hybride Gattung der »wissenschaftlichen Phantasma- gorieen« zu verweisen. Damit hängt dann Gobineau’s weitere Wahn- vorstellung zusammen, die von Hause aus »reinen« edlen Rassen vermischten sich im Verlauf der Geschichte und würden mit jeder Vermischung unwiederbringlich unreiner und unedler, woraus sich dann notwendigerweise eine trostlos pessimistische Ansicht über die Zukunft des Menschengeschlechtes ergeben muss. Die erwähnte An- nahme beruht jedoch auf einer gänzlichen Unkenntnis der physio- logischen Bedeutung dessen, was man unter »Rasse« zu verstehen hat. Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel herab, sondern sie wird nach und nach edel, genau so wie die Obstbäume, und dieser Werdeprozess kann jeden Augenblick von Neuem beginnen, sobald ein geographisch-historischer Zufall oder (wie bei den Juden) ein fester Plan die Bedingungen schafft. Ähnlichen Widersinnigkeiten begegnen wir überall auf Schritt und Tritt. Wir haben z. B. eine mächtige antisemitische Bewegung: ja, sind denn die Juden und die übrigen Semiten identisch? Haben sich nicht die Juden gerade durch ihre Entwickelung zu einer besonderen, reinen Rasse tief differenziert? Ist es sicher, dass der Entstehung dieses Volkes nicht eine wichtige Kreuzung voranging? Und was ist ein Arier? Wir hören so Vieles und Bestimmtes darüber aussagen. Dem Semiten, unter dem wir im gewöhnlichen Leben lediglich den Juden verstehen (was doch wenigstens eine durchaus konkrete, auf Erfahrung beruhende Vorstellung bedeutet), stellen wir den »Arier« entgegen. Was ist das aber für ein Mensch? Welcher konkreten Vorstellung entspricht er? Nur wer nichts von Ethnographie weiss, kann eine bestimmte Antwort auf diese Frage wagen. Sobald man diesen Ausdruck nicht auf die zweifelsohne mit- einander verwandten Indo-Eranier beschränkt, gerät man in das Gebiet der ungewissesten Hypothesen. 1) Physisch weichen die Völker, die 1) Selbst mit dieser, so sehr eingeschränkten Behauptung, die ich aus den besten mir bekannten Büchern schöpfte, scheine ich mehr vorausgesetzt zu haben, als die Wissenschaft mit Sicherheit behaupten kann; denn ich lese in einer Special- arbeit: Les Aryens au nord et au sud de l’Hindou-Kousch von Charles de Ujfalvi

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/290>, abgerufen am 26.11.2024.