Zur allgemeinen Einführung in dieses Kapitel über das Völker-Wissenschaft- liche Wirrnis. chaos des untergehenden römischen Imperiums werden die Worte genügen, die ich dem Gegenstand desselben in der Einleitung zum zweiten Abschnitt gewidmet habe; sie erklären, was ich räumlich und zeitlich als Völkerchaos bezeichne. Die historischen Kenntnisse setze ich, mindestens in den allgemeinsten Umrissen, hier wie überall, voraus, und da ich nun ausserdem in diesem ganzen Buche kein Wort schreiben möchte, das nicht aus dem Bedürfnis entspränge, unser 19. Jahrhundert besser zu begreifen und zu beurteilen, so glaube ich den vorliegenden Gegenstand vor Allem zu der Prüfung und Beantwortung der wichtigsten Frage benützen zu sollen: ist Nation, ist Rasse ein blosses Wort? Soll, wie der Ethnograph Ratzel es beteuert, die Verschmelzung aller Menschen in eine Einheit als "Ziel und Aufgabe, Hoffnung und Wunsch" uns vorschweben? oder entnehmen wir nicht vielmehr aus dem Beispiel, einerseits von Hellas und Rom, anderseits vom pseudorömischen Imperium, sowie aus manchen anderen Beispielen der Geschichte, dass nur innerhalb jener Abgrenzungen, in denen scharf ausgeprägte, individuelle Volks- charaktere entstehen, der Mensch sein höchstes Mass erreicht? Ist wirklich unser jetziger Zustand in Europa, mit unseren vielen, durch- gebildeten Idiomen, ein jedes mit seiner eigenen, eigenartigen Poesie und Litteratur, ein jedes der Ausdruck einer bestimmten, charakteristischen Volksseele, ist dieser Zustand ein Rückschritt gegenüber der Zeit, wo Lateinisch und Griechisch als eine Art Zwillingsvolapük die vaterlandslosen, römischen Unterthanen alle miteinander verbanden? Ist Blutsgemeinschaft nichts? kann Gemeinsamkeit der Erinnerung und des Glaubens durch abstrakte Ideale ersetzt werden? Vor allem, ist dies Alles eine Sache des persönlichen Gutdünkens, und liegt kein deutlich erkennbares Naturgetz vor, nach welchem unser Urteil sich richten muss? Lehren uns nicht die biologischen Wissenschaften, dass im gesamten Tier- und Pflanzenreich, ausnehmend edle Ge-
Zur allgemeinen Einführung in dieses Kapitel über das Völker-Wissenschaft- liche Wirrnis. chaos des untergehenden römischen Imperiums werden die Worte genügen, die ich dem Gegenstand desselben in der Einleitung zum zweiten Abschnitt gewidmet habe; sie erklären, was ich räumlich und zeitlich als Völkerchaos bezeichne. Die historischen Kenntnisse setze ich, mindestens in den allgemeinsten Umrissen, hier wie überall, voraus, und da ich nun ausserdem in diesem ganzen Buche kein Wort schreiben möchte, das nicht aus dem Bedürfnis entspränge, unser 19. Jahrhundert besser zu begreifen und zu beurteilen, so glaube ich den vorliegenden Gegenstand vor Allem zu der Prüfung und Beantwortung der wichtigsten Frage benützen zu sollen: ist Nation, ist Rasse ein blosses Wort? Soll, wie der Ethnograph Ratzel es beteuert, die Verschmelzung aller Menschen in eine Einheit als »Ziel und Aufgabe, Hoffnung und Wunsch« uns vorschweben? oder entnehmen wir nicht vielmehr aus dem Beispiel, einerseits von Hellas und Rom, anderseits vom pseudorömischen Imperium, sowie aus manchen anderen Beispielen der Geschichte, dass nur innerhalb jener Abgrenzungen, in denen scharf ausgeprägte, individuelle Volks- charaktere entstehen, der Mensch sein höchstes Mass erreicht? Ist wirklich unser jetziger Zustand in Europa, mit unseren vielen, durch- gebildeten Idiomen, ein jedes mit seiner eigenen, eigenartigen Poesie und Litteratur, ein jedes der Ausdruck einer bestimmten, charakteristischen Volksseele, ist dieser Zustand ein Rückschritt gegenüber der Zeit, wo Lateinisch und Griechisch als eine Art Zwillingsvolapük die vaterlandslosen, römischen Unterthanen alle miteinander verbanden? Ist Blutsgemeinschaft nichts? kann Gemeinsamkeit der Erinnerung und des Glaubens durch abstrakte Ideale ersetzt werden? Vor allem, ist dies Alles eine Sache des persönlichen Gutdünkens, und liegt kein deutlich erkennbares Naturgetz vor, nach welchem unser Urteil sich richten muss? Lehren uns nicht die biologischen Wissenschaften, dass im gesamten Tier- und Pflanzenreich, ausnehmend edle Ge-
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Zur allgemeinen Einführung in dieses Kapitel über das Völker-
chaos des untergehenden römischen Imperiums werden die Worte
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zweiten Abschnitt gewidmet habe; sie erklären, was ich räumlich und
zeitlich als Völkerchaos bezeichne. Die historischen Kenntnisse setze
ich, mindestens in den allgemeinsten Umrissen, hier wie überall,
voraus, und da ich nun ausserdem in diesem ganzen Buche kein
Wort schreiben möchte, das nicht aus dem Bedürfnis entspränge,
unser 19. Jahrhundert besser zu begreifen und zu beurteilen, so glaube
ich den vorliegenden Gegenstand vor Allem zu der Prüfung und
Beantwortung der wichtigsten Frage benützen zu sollen: ist Nation,
ist Rasse ein blosses Wort? Soll, wie der Ethnograph Ratzel es
beteuert, die Verschmelzung aller Menschen in eine Einheit
als »Ziel und Aufgabe, Hoffnung und Wunsch« uns vorschweben?
oder entnehmen wir nicht vielmehr aus dem Beispiel, einerseits von
Hellas und Rom, anderseits vom pseudorömischen Imperium, sowie
aus manchen anderen Beispielen der Geschichte, dass nur innerhalb
jener Abgrenzungen, in denen scharf ausgeprägte, individuelle Volks-
charaktere entstehen, der Mensch sein höchstes Mass erreicht? Ist
wirklich unser jetziger Zustand in Europa, mit unseren vielen, durch-
gebildeten Idiomen, ein jedes mit seiner eigenen, eigenartigen Poesie
und Litteratur, ein jedes der Ausdruck einer bestimmten, charakteristischen
Volksseele, ist dieser Zustand ein Rückschritt gegenüber der Zeit,
wo Lateinisch und Griechisch als eine Art Zwillingsvolapük die
vaterlandslosen, römischen Unterthanen alle miteinander verbanden?
Ist Blutsgemeinschaft nichts? kann Gemeinsamkeit der Erinnerung
und des Glaubens durch abstrakte Ideale ersetzt werden? Vor allem,
ist dies Alles eine Sache des persönlichen Gutdünkens, und liegt
kein deutlich erkennbares Naturgetz vor, nach welchem unser Urteil
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Wissenschaft-
liche Wirrnis.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. [263]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/286>, abgerufen am 26.11.2024.
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