Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Erbe der alten Welt.
gemacht zu haben. Jetzt sahen wir, dass auch die Erscheinung Christi,
welche auf der Schwelle zwischen Alt- und Neuzeit steht, durchaus
nicht in so einfacher Gestalt unserem ferngerückten Auge sich bietet,
dass wir sie leicht aus dem Labyrinth der Vorurteile und Lügen und
Irrtümer herausschälen könnten. Und doch ist nichts nötiger, als
gerade diese Erscheinung deutlich und wahrheitstreu zu erblicken.
Denn -- wie unwürdig wir uns dessen auch erweisen mögen -- unsere
gesamte Kultur steht, gottlob! noch unter dem Zeichen des Kreuzes
auf Golgatha. Wir sehen wohl dieses Kreuz; wer aber sieht den
Gekreuzigten? Er aber, und Er allein, ist der lebendige Born alles
Christentums, sowohl des intolerant Dogmatischsten wie auch des
durchaus ungläubig sich Gebenden. Dass man das hat bezweifeln
können, dass unser Jahrhundert sich von Büchern genährt hat, in
denen dargethan wurde, das Christentum sei so von ungefähr ent-
standen, aus Zufall, als mythologische Anwandlung, als "dialektische
Antithese", was weiss ich alles, oder wiederum als notwendiges
Erzeugnis des Judentums u. s. w., das wird späteren Zeiten ein beredtes
Zeugnis für die Kindlichkeit unseres Urteils abgeben. Die Bedeutung
des Genies kann gar nicht hoch genug geschätzt werden: wer erkühnt
sich, den Einfluss Homer's auf den Menschengeist zu berechnen?
Christus aber war grösser. Und wie das "ewige Hausfeuer" der Arier,
kann auch die Wahrheitsleuchte, die Er uns anzündete, nie mehr ver-
löschen; mag auch zu Zeiten ein Schatten der Nacht die Menschheit
weithin umfinstern, es genügt ein einziges glühendes Herz, damit von
Neuem Tausende und Millionen taghell aufflammen. -- -- Hier jedoch
gerade kann man mit Christus fragen: "Wenn aber das Licht, das in
dir ist, Finsternis ist, wie gross wird dann die Finsternis selber sein?"
Schon die Entstehung der christlichen Kirche führt uns in tiefste
Finsternis hinein, und ihre weitere Geschichte macht uns mehr den
Eindruck eines Herumtappens im Dunkeln als eines sonnigen Sehens.
Wie sollen wir also unterscheiden können, was in dem sogenannten
Christentum Geist von Christi Geist ist und was dagegen als hellenische,
jüdische, römische, ägyptische Zuthat hinzukam, wenn wir nie gelernt
haben, diese Erscheinung selbst in ihrer erhabenen Einfachheit zu
erblicken? Wie sollen wir über das Christliche in unseren heutigen
Konfessionen, in unseren Litteraturen und Künsten, in unserer Philo-
sophie und Politik, in unseren sozialen Einrichtungen und Idealen
reden, wie sollen wir Christliches von Antichristlichem trennen, und
mit Sicherheit beurteilen können, was in den Bewegungen unseres

Das Erbe der alten Welt.
gemacht zu haben. Jetzt sahen wir, dass auch die Erscheinung Christi,
welche auf der Schwelle zwischen Alt- und Neuzeit steht, durchaus
nicht in so einfacher Gestalt unserem ferngerückten Auge sich bietet,
dass wir sie leicht aus dem Labyrinth der Vorurteile und Lügen und
Irrtümer herausschälen könnten. Und doch ist nichts nötiger, als
gerade diese Erscheinung deutlich und wahrheitstreu zu erblicken.
Denn — wie unwürdig wir uns dessen auch erweisen mögen — unsere
gesamte Kultur steht, gottlob! noch unter dem Zeichen des Kreuzes
auf Golgatha. Wir sehen wohl dieses Kreuz; wer aber sieht den
Gekreuzigten? Er aber, und Er allein, ist der lebendige Born alles
Christentums, sowohl des intolerant Dogmatischsten wie auch des
durchaus ungläubig sich Gebenden. Dass man das hat bezweifeln
können, dass unser Jahrhundert sich von Büchern genährt hat, in
denen dargethan wurde, das Christentum sei so von ungefähr ent-
standen, aus Zufall, als mythologische Anwandlung, als »dialektische
Antithese«, was weiss ich alles, oder wiederum als notwendiges
Erzeugnis des Judentums u. s. w., das wird späteren Zeiten ein beredtes
Zeugnis für die Kindlichkeit unseres Urteils abgeben. Die Bedeutung
des Genies kann gar nicht hoch genug geschätzt werden: wer erkühnt
sich, den Einfluss Homer’s auf den Menschengeist zu berechnen?
Christus aber war grösser. Und wie das »ewige Hausfeuer« der Arier,
kann auch die Wahrheitsleuchte, die Er uns anzündete, nie mehr ver-
löschen; mag auch zu Zeiten ein Schatten der Nacht die Menschheit
weithin umfinstern, es genügt ein einziges glühendes Herz, damit von
Neuem Tausende und Millionen taghell aufflammen. — — Hier jedoch
gerade kann man mit Christus fragen: »Wenn aber das Licht, das in
dir ist, Finsternis ist, wie gross wird dann die Finsternis selber sein?«
Schon die Entstehung der christlichen Kirche führt uns in tiefste
Finsternis hinein, und ihre weitere Geschichte macht uns mehr den
Eindruck eines Herumtappens im Dunkeln als eines sonnigen Sehens.
Wie sollen wir also unterscheiden können, was in dem sogenannten
Christentum Geist von Christi Geist ist und was dagegen als hellenische,
jüdische, römische, ägyptische Zuthat hinzukam, wenn wir nie gelernt
haben, diese Erscheinung selbst in ihrer erhabenen Einfachheit zu
erblicken? Wie sollen wir über das Christliche in unseren heutigen
Konfessionen, in unseren Litteraturen und Künsten, in unserer Philo-
sophie und Politik, in unseren sozialen Einrichtungen und Idealen
reden, wie sollen wir Christliches von Antichristlichem trennen, und
mit Sicherheit beurteilen können, was in den Bewegungen unseres

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0273" n="250"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/>
gemacht zu haben. Jetzt sahen wir, dass auch die Erscheinung Christi,<lb/>
welche auf der Schwelle zwischen Alt- und Neuzeit steht, durchaus<lb/>
nicht in so einfacher Gestalt unserem ferngerückten Auge sich bietet,<lb/>
dass wir sie leicht aus dem Labyrinth der Vorurteile und Lügen und<lb/>
Irrtümer herausschälen könnten. Und doch ist nichts nötiger, als<lb/>
gerade diese Erscheinung deutlich und wahrheitstreu zu erblicken.<lb/>
Denn &#x2014; wie unwürdig wir uns dessen auch erweisen mögen &#x2014; unsere<lb/>
gesamte Kultur steht, gottlob! noch unter dem Zeichen des Kreuzes<lb/>
auf Golgatha. Wir sehen wohl dieses Kreuz; wer aber sieht den<lb/>
Gekreuzigten? Er aber, und Er allein, ist der lebendige Born alles<lb/>
Christentums, sowohl des intolerant Dogmatischsten wie auch des<lb/>
durchaus ungläubig sich Gebenden. Dass man das hat bezweifeln<lb/>
können, dass unser Jahrhundert sich von Büchern genährt hat, in<lb/>
denen dargethan wurde, das Christentum sei so von ungefähr ent-<lb/>
standen, aus Zufall, als mythologische Anwandlung, als »dialektische<lb/>
Antithese«, was weiss ich alles, oder wiederum als notwendiges<lb/>
Erzeugnis des Judentums u. s. w., das wird späteren Zeiten ein beredtes<lb/>
Zeugnis für die Kindlichkeit unseres Urteils abgeben. Die Bedeutung<lb/>
des Genies <hi rendition="#g">kann</hi> gar nicht hoch genug geschätzt werden: wer erkühnt<lb/>
sich, den Einfluss Homer&#x2019;s auf den Menschengeist zu berechnen?<lb/>
Christus aber war grösser. Und wie das »ewige Hausfeuer« der Arier,<lb/>
kann auch die Wahrheitsleuchte, die Er uns anzündete, nie mehr ver-<lb/>
löschen; mag auch zu Zeiten ein Schatten der Nacht die Menschheit<lb/>
weithin umfinstern, es genügt ein einziges glühendes Herz, damit von<lb/>
Neuem Tausende und Millionen taghell aufflammen. &#x2014; &#x2014; Hier jedoch<lb/>
gerade kann man mit Christus fragen: »Wenn aber das Licht, das in<lb/>
dir ist, Finsternis ist, wie gross wird dann die Finsternis selber sein?«<lb/>
Schon die Entstehung der christlichen Kirche führt uns in tiefste<lb/>
Finsternis hinein, und ihre weitere Geschichte macht uns mehr den<lb/>
Eindruck eines Herumtappens im Dunkeln als eines sonnigen Sehens.<lb/>
Wie sollen wir also unterscheiden können, was in dem sogenannten<lb/>
Christentum Geist von Christi Geist ist und was dagegen als hellenische,<lb/>
jüdische, römische, ägyptische Zuthat hinzukam, wenn wir nie gelernt<lb/>
haben, diese Erscheinung selbst in ihrer erhabenen Einfachheit zu<lb/>
erblicken? Wie sollen wir über das Christliche in unseren heutigen<lb/>
Konfessionen, in unseren Litteraturen und Künsten, in unserer Philo-<lb/>
sophie und Politik, in unseren sozialen Einrichtungen und Idealen<lb/>
reden, wie sollen wir Christliches von Antichristlichem trennen, und<lb/>
mit Sicherheit beurteilen können, was in den Bewegungen unseres<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0273] Das Erbe der alten Welt. gemacht zu haben. Jetzt sahen wir, dass auch die Erscheinung Christi, welche auf der Schwelle zwischen Alt- und Neuzeit steht, durchaus nicht in so einfacher Gestalt unserem ferngerückten Auge sich bietet, dass wir sie leicht aus dem Labyrinth der Vorurteile und Lügen und Irrtümer herausschälen könnten. Und doch ist nichts nötiger, als gerade diese Erscheinung deutlich und wahrheitstreu zu erblicken. Denn — wie unwürdig wir uns dessen auch erweisen mögen — unsere gesamte Kultur steht, gottlob! noch unter dem Zeichen des Kreuzes auf Golgatha. Wir sehen wohl dieses Kreuz; wer aber sieht den Gekreuzigten? Er aber, und Er allein, ist der lebendige Born alles Christentums, sowohl des intolerant Dogmatischsten wie auch des durchaus ungläubig sich Gebenden. Dass man das hat bezweifeln können, dass unser Jahrhundert sich von Büchern genährt hat, in denen dargethan wurde, das Christentum sei so von ungefähr ent- standen, aus Zufall, als mythologische Anwandlung, als »dialektische Antithese«, was weiss ich alles, oder wiederum als notwendiges Erzeugnis des Judentums u. s. w., das wird späteren Zeiten ein beredtes Zeugnis für die Kindlichkeit unseres Urteils abgeben. Die Bedeutung des Genies kann gar nicht hoch genug geschätzt werden: wer erkühnt sich, den Einfluss Homer’s auf den Menschengeist zu berechnen? Christus aber war grösser. Und wie das »ewige Hausfeuer« der Arier, kann auch die Wahrheitsleuchte, die Er uns anzündete, nie mehr ver- löschen; mag auch zu Zeiten ein Schatten der Nacht die Menschheit weithin umfinstern, es genügt ein einziges glühendes Herz, damit von Neuem Tausende und Millionen taghell aufflammen. — — Hier jedoch gerade kann man mit Christus fragen: »Wenn aber das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie gross wird dann die Finsternis selber sein?« Schon die Entstehung der christlichen Kirche führt uns in tiefste Finsternis hinein, und ihre weitere Geschichte macht uns mehr den Eindruck eines Herumtappens im Dunkeln als eines sonnigen Sehens. Wie sollen wir also unterscheiden können, was in dem sogenannten Christentum Geist von Christi Geist ist und was dagegen als hellenische, jüdische, römische, ägyptische Zuthat hinzukam, wenn wir nie gelernt haben, diese Erscheinung selbst in ihrer erhabenen Einfachheit zu erblicken? Wie sollen wir über das Christliche in unseren heutigen Konfessionen, in unseren Litteraturen und Künsten, in unserer Philo- sophie und Politik, in unseren sozialen Einrichtungen und Idealen reden, wie sollen wir Christliches von Antichristlichem trennen, und mit Sicherheit beurteilen können, was in den Bewegungen unseres

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/273
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/273>, abgerufen am 25.11.2024.