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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
und auch an die Freiheit des menschlichen Willens,1) sowie die fast
ausschliessliche Betonung der moralischen Natur der Menschen und
ihrer Gleichheit vor Gott ("die Letzten werden die Ersten sein"),
Grundpfeiler der Persönlichkeit Christi bilden. Weit mehr als das
Anknüpfen an die Propheten, weit mehr auch als seine Achtung vor
den jüdischen Gesetzesvorschriften, lassen uns diese Grundanschauungen
Christum als moralisch zu den Juden gehörig erkennen. Ja, wenn
wir sehr tief hinabsteigen, bis zu jenem Mittelpunkt der Erscheinung
Christi, der Umkehr des Willens, so müssen wir erkennen --
und ich habe es am Anfang dieses Kapitels in dem Vergleich mit
Buddha schon angedeutet -- dass hier ein Jüdisches vorliegt, im
Gegensatz zur arischen Verneinung des Willens. Letztere ist eine
Frucht der Erkenntnis, der übergrossen Erkenntnis; Christus dagegen
wendet sich an Menschen, bei denen der Wille übermächtig ist, nicht
der Gedanke; was er um sich erblickt, ist der unersättliche, ewig
gierige, ewig beide Hände nach aussen ausstreckende jüdische Wille,
er erkennt die Macht dieses Willens und gebietet ihm -- nicht
Schweigen, sondern eine andere, neue Richtung. Hier muss man
sagen: Christus ist ein Jude, und seine Erscheinung kann nur ver-
standen werden, wenn wir diese speziell jüdischen Anschauungen,
die er vorfand und sich zu eigen machte, kritisch begreifen gelernt
haben.

Ich sagte soeben, Christus gehöre "moralisch" zu den Juden.
Dieses ziemlich zweideutige Wort "Moral" muss hier in einer engeren
Bedeutung gefasst werden. Denn gerade in der moralischen An-
wendung
dieser Vorstellungen von Gottes Allmacht und Vorsehung,
von den daraus folgenden unmittelbaren Beziehungen zwischen dem
Menschen und der Gottheit und von dem Gebrauch des freien mensch-
lichen Willens wich der Heiland in toto von den Lehren des Judentums
ab; das liegt Jedem offen dar und ich habe es ausserdem im Vorher-
gehenden deutlich fühlbar zu machen gesucht; die Vorstellungen selbst
aber, der Rahmen, in welchen die moralische Persönlichkeit sich ein-
fügte und aus welchem sie nicht herausgelöst werden kann, die fraglose
Annahme dieser Voraussetzungen, Gott und den Menschen betreffend,
welche dem menschlichen Geist durchaus nicht ohne Weiteres zu eigen
sind, sondern im Gegenteil die ganz individuelle Errungenschaft eines

1) Letzterer allerdings, wie es scheint, mit bedeutenden Einschränkungen,
da der arische Gedanke der Gnade bei Christus mehr als einmal deutlich auftritt.

Das Erbe der alten Welt.
und auch an die Freiheit des menschlichen Willens,1) sowie die fast
ausschliessliche Betonung der moralischen Natur der Menschen und
ihrer Gleichheit vor Gott (»die Letzten werden die Ersten sein«),
Grundpfeiler der Persönlichkeit Christi bilden. Weit mehr als das
Anknüpfen an die Propheten, weit mehr auch als seine Achtung vor
den jüdischen Gesetzesvorschriften, lassen uns diese Grundanschauungen
Christum als moralisch zu den Juden gehörig erkennen. Ja, wenn
wir sehr tief hinabsteigen, bis zu jenem Mittelpunkt der Erscheinung
Christi, der Umkehr des Willens, so müssen wir erkennen —
und ich habe es am Anfang dieses Kapitels in dem Vergleich mit
Buddha schon angedeutet — dass hier ein Jüdisches vorliegt, im
Gegensatz zur arischen Verneinung des Willens. Letztere ist eine
Frucht der Erkenntnis, der übergrossen Erkenntnis; Christus dagegen
wendet sich an Menschen, bei denen der Wille übermächtig ist, nicht
der Gedanke; was er um sich erblickt, ist der unersättliche, ewig
gierige, ewig beide Hände nach aussen ausstreckende jüdische Wille,
er erkennt die Macht dieses Willens und gebietet ihm — nicht
Schweigen, sondern eine andere, neue Richtung. Hier muss man
sagen: Christus ist ein Jude, und seine Erscheinung kann nur ver-
standen werden, wenn wir diese speziell jüdischen Anschauungen,
die er vorfand und sich zu eigen machte, kritisch begreifen gelernt
haben.

Ich sagte soeben, Christus gehöre »moralisch« zu den Juden.
Dieses ziemlich zweideutige Wort »Moral« muss hier in einer engeren
Bedeutung gefasst werden. Denn gerade in der moralischen An-
wendung
dieser Vorstellungen von Gottes Allmacht und Vorsehung,
von den daraus folgenden unmittelbaren Beziehungen zwischen dem
Menschen und der Gottheit und von dem Gebrauch des freien mensch-
lichen Willens wich der Heiland in toto von den Lehren des Judentums
ab; das liegt Jedem offen dar und ich habe es ausserdem im Vorher-
gehenden deutlich fühlbar zu machen gesucht; die Vorstellungen selbst
aber, der Rahmen, in welchen die moralische Persönlichkeit sich ein-
fügte und aus welchem sie nicht herausgelöst werden kann, die fraglose
Annahme dieser Voraussetzungen, Gott und den Menschen betreffend,
welche dem menschlichen Geist durchaus nicht ohne Weiteres zu eigen
sind, sondern im Gegenteil die ganz individuelle Errungenschaft eines

1) Letzterer allerdings, wie es scheint, mit bedeutenden Einschränkungen,
da der arische Gedanke der Gnade bei Christus mehr als einmal deutlich auftritt.
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[248/0271] Das Erbe der alten Welt. und auch an die Freiheit des menschlichen Willens, 1) sowie die fast ausschliessliche Betonung der moralischen Natur der Menschen und ihrer Gleichheit vor Gott (»die Letzten werden die Ersten sein«), Grundpfeiler der Persönlichkeit Christi bilden. Weit mehr als das Anknüpfen an die Propheten, weit mehr auch als seine Achtung vor den jüdischen Gesetzesvorschriften, lassen uns diese Grundanschauungen Christum als moralisch zu den Juden gehörig erkennen. Ja, wenn wir sehr tief hinabsteigen, bis zu jenem Mittelpunkt der Erscheinung Christi, der Umkehr des Willens, so müssen wir erkennen — und ich habe es am Anfang dieses Kapitels in dem Vergleich mit Buddha schon angedeutet — dass hier ein Jüdisches vorliegt, im Gegensatz zur arischen Verneinung des Willens. Letztere ist eine Frucht der Erkenntnis, der übergrossen Erkenntnis; Christus dagegen wendet sich an Menschen, bei denen der Wille übermächtig ist, nicht der Gedanke; was er um sich erblickt, ist der unersättliche, ewig gierige, ewig beide Hände nach aussen ausstreckende jüdische Wille, er erkennt die Macht dieses Willens und gebietet ihm — nicht Schweigen, sondern eine andere, neue Richtung. Hier muss man sagen: Christus ist ein Jude, und seine Erscheinung kann nur ver- standen werden, wenn wir diese speziell jüdischen Anschauungen, die er vorfand und sich zu eigen machte, kritisch begreifen gelernt haben. Ich sagte soeben, Christus gehöre »moralisch« zu den Juden. Dieses ziemlich zweideutige Wort »Moral« muss hier in einer engeren Bedeutung gefasst werden. Denn gerade in der moralischen An- wendung dieser Vorstellungen von Gottes Allmacht und Vorsehung, von den daraus folgenden unmittelbaren Beziehungen zwischen dem Menschen und der Gottheit und von dem Gebrauch des freien mensch- lichen Willens wich der Heiland in toto von den Lehren des Judentums ab; das liegt Jedem offen dar und ich habe es ausserdem im Vorher- gehenden deutlich fühlbar zu machen gesucht; die Vorstellungen selbst aber, der Rahmen, in welchen die moralische Persönlichkeit sich ein- fügte und aus welchem sie nicht herausgelöst werden kann, die fraglose Annahme dieser Voraussetzungen, Gott und den Menschen betreffend, welche dem menschlichen Geist durchaus nicht ohne Weiteres zu eigen sind, sondern im Gegenteil die ganz individuelle Errungenschaft eines 1) Letzterer allerdings, wie es scheint, mit bedeutenden Einschränkungen, da der arische Gedanke der Gnade bei Christus mehr als einmal deutlich auftritt.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/271>, abgerufen am 24.11.2024.