Unsereiner wirft alle paar Jahre einmal einen Wahlzettel in die Urne; dass sein Leben auch sonst eine nationale Bedeutung besitzt, weiss er kaum oder gar nicht; der Jude konnte es nie vergessen. Sein Gott hatte ihm versprochen: "kein Volk wird dir widerstehen, bis du es vertilgest", gleich aber hinzugefügt: "Alle Gebote, die ich dir gebiete, sollst du halten!" So war denn Gott dem Bewusstsein ewig gegenwärtig. Ausser materiellem Besitz war dem Juden eigentlich alles verboten; auf Besitz allein war daher sein Sinn gerichtet; und Gott war es, von dem er den Besitz zu erhoffen hatte. -- Wer nun über die hier nur flüchtig skizzierten Verhältnisse noch niemals nach- gedacht hat, wird sich schwer vorstellen können, welche ungeahnte Lebhaftigkeit der Gedanke an Gott unter diesen Bedingungen gewann. Zwar durfte der Jude sich Gott nicht vorstellen; sein Wirken aber, sein thatsächliches, tägliches Eingreifen in die Geschicke der Welt war gewissermassen eine Sache der Erfahrung; die ganze Nation lebte ja davon; darüber nachzudenken war (wenn nicht in der Diaspora, so doch in Palästina) ihre einzige geistige Beschäftigung.
In dieser Umgebung wuchs Christus auf; aus dieser Umgebung trat er niemals heraus. Dank diesem eigentümlichen historischen Sinn der Juden erwachte er zum Bewusstsein so fern wie möglich dem all- umfassenden arischen Naturkultus und seinem Bekenntnis tat-tvam-asi (das bist auch du), am Herde des eigentlichen Anthropomorphismus, wo die ganze Schöpfung nur für den Menschen da war, und alle Menschen nur für dieses eine auserwählte Volk, also in der unmittel- barsten Gegenwart Gottes und göttlicher Vorsehung. Er fand hier, was er sonst nirgends auf der Welt gefunden hätte: ein vollständiges, fertiges Gerüst innerhalb dessen sein durchaus neuer Gottes- und Religionsgedanke aufgebaut werden konnte. Von dem eigentlichen jüdischen Gedanken blieb, nachdem Jesus gelebt hatte, nichts mehr übrig; wie nach vollendetem Tempelbau, konnte das Gerüst abge- tragen werden. Es hatte aber gedient, und der Bau wäre ohne das Gerüst undenkbar. Der Gott, den man um das tägliche Brot bittet, konnte nur dort gedacht werden, wo ein Gott Einem die Dinge dieser Welt verheissen hatte; um Schuldvergebung konnte man nur den an- flehen, der bestimmte Gebote erlassen hatte -- -- -- Fast befürchte ich aber missverstanden zu werden, wenn ich an dieser Stelle mich auf Einzelnheiten einlasse; es genügt, wenn ich die allgemeine Vor- stellung der so ganz eigenartigen Atmosphäre Judäa's geweckt habe, woraus dann die Einsicht sich ergeben wird, dass die idealste Religion
Die Erscheinung Christi.
Unsereiner wirft alle paar Jahre einmal einen Wahlzettel in die Urne; dass sein Leben auch sonst eine nationale Bedeutung besitzt, weiss er kaum oder gar nicht; der Jude konnte es nie vergessen. Sein Gott hatte ihm versprochen: »kein Volk wird dir widerstehen, bis du es vertilgest«, gleich aber hinzugefügt: »Alle Gebote, die ich dir gebiete, sollst du halten!« So war denn Gott dem Bewusstsein ewig gegenwärtig. Ausser materiellem Besitz war dem Juden eigentlich alles verboten; auf Besitz allein war daher sein Sinn gerichtet; und Gott war es, von dem er den Besitz zu erhoffen hatte. — Wer nun über die hier nur flüchtig skizzierten Verhältnisse noch niemals nach- gedacht hat, wird sich schwer vorstellen können, welche ungeahnte Lebhaftigkeit der Gedanke an Gott unter diesen Bedingungen gewann. Zwar durfte der Jude sich Gott nicht vorstellen; sein Wirken aber, sein thatsächliches, tägliches Eingreifen in die Geschicke der Welt war gewissermassen eine Sache der Erfahrung; die ganze Nation lebte ja davon; darüber nachzudenken war (wenn nicht in der Diaspora, so doch in Palästina) ihre einzige geistige Beschäftigung.
In dieser Umgebung wuchs Christus auf; aus dieser Umgebung trat er niemals heraus. Dank diesem eigentümlichen historischen Sinn der Juden erwachte er zum Bewusstsein so fern wie möglich dem all- umfassenden arischen Naturkultus und seinem Bekenntnis tat-tvam-asi (das bist auch du), am Herde des eigentlichen Anthropomorphismus, wo die ganze Schöpfung nur für den Menschen da war, und alle Menschen nur für dieses eine auserwählte Volk, also in der unmittel- barsten Gegenwart Gottes und göttlicher Vorsehung. Er fand hier, was er sonst nirgends auf der Welt gefunden hätte: ein vollständiges, fertiges Gerüst innerhalb dessen sein durchaus neuer Gottes- und Religionsgedanke aufgebaut werden konnte. Von dem eigentlichen jüdischen Gedanken blieb, nachdem Jesus gelebt hatte, nichts mehr übrig; wie nach vollendetem Tempelbau, konnte das Gerüst abge- tragen werden. Es hatte aber gedient, und der Bau wäre ohne das Gerüst undenkbar. Der Gott, den man um das tägliche Brot bittet, konnte nur dort gedacht werden, wo ein Gott Einem die Dinge dieser Welt verheissen hatte; um Schuldvergebung konnte man nur den an- flehen, der bestimmte Gebote erlassen hatte — — — Fast befürchte ich aber missverstanden zu werden, wenn ich an dieser Stelle mich auf Einzelnheiten einlasse; es genügt, wenn ich die allgemeine Vor- stellung der so ganz eigenartigen Atmosphäre Judäa’s geweckt habe, woraus dann die Einsicht sich ergeben wird, dass die idealste Religion
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Die Erscheinung Christi.
Unsereiner wirft alle paar Jahre einmal einen Wahlzettel in die Urne;
dass sein Leben auch sonst eine nationale Bedeutung besitzt, weiss
er kaum oder gar nicht; der Jude konnte es nie vergessen. Sein
Gott hatte ihm versprochen: »kein Volk wird dir widerstehen, bis
du es vertilgest«, gleich aber hinzugefügt: »Alle Gebote, die ich dir
gebiete, sollst du halten!« So war denn Gott dem Bewusstsein ewig
gegenwärtig. Ausser materiellem Besitz war dem Juden eigentlich
alles verboten; auf Besitz allein war daher sein Sinn gerichtet; und
Gott war es, von dem er den Besitz zu erhoffen hatte. — Wer nun
über die hier nur flüchtig skizzierten Verhältnisse noch niemals nach-
gedacht hat, wird sich schwer vorstellen können, welche ungeahnte
Lebhaftigkeit der Gedanke an Gott unter diesen Bedingungen gewann.
Zwar durfte der Jude sich Gott nicht vorstellen; sein Wirken aber,
sein thatsächliches, tägliches Eingreifen in die Geschicke der Welt
war gewissermassen eine Sache der Erfahrung; die ganze Nation
lebte ja davon; darüber nachzudenken war (wenn nicht in der Diaspora,
so doch in Palästina) ihre einzige geistige Beschäftigung.
In dieser Umgebung wuchs Christus auf; aus dieser Umgebung
trat er niemals heraus. Dank diesem eigentümlichen historischen Sinn
der Juden erwachte er zum Bewusstsein so fern wie möglich dem all-
umfassenden arischen Naturkultus und seinem Bekenntnis tat-tvam-asi
(das bist auch du), am Herde des eigentlichen Anthropomorphismus,
wo die ganze Schöpfung nur für den Menschen da war, und alle
Menschen nur für dieses eine auserwählte Volk, also in der unmittel-
barsten Gegenwart Gottes und göttlicher Vorsehung. Er fand hier,
was er sonst nirgends auf der Welt gefunden hätte: ein vollständiges,
fertiges Gerüst innerhalb dessen sein durchaus neuer Gottes- und
Religionsgedanke aufgebaut werden konnte. Von dem eigentlichen
jüdischen Gedanken blieb, nachdem Jesus gelebt hatte, nichts mehr
übrig; wie nach vollendetem Tempelbau, konnte das Gerüst abge-
tragen werden. Es hatte aber gedient, und der Bau wäre ohne das
Gerüst undenkbar. Der Gott, den man um das tägliche Brot bittet,
konnte nur dort gedacht werden, wo ein Gott Einem die Dinge dieser
Welt verheissen hatte; um Schuldvergebung konnte man nur den an-
flehen, der bestimmte Gebote erlassen hatte — — — Fast befürchte
ich aber missverstanden zu werden, wenn ich an dieser Stelle mich
auf Einzelnheiten einlasse; es genügt, wenn ich die allgemeine Vor-
stellung der so ganz eigenartigen Atmosphäre Judäa’s geweckt habe,
woraus dann die Einsicht sich ergeben wird, dass die idealste Religion
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/260>, abgerufen am 23.11.2024.
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