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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
wie unsere heutigen Materialisten wissen, wie aus Bewegungen der
Atome das Denken entsteht, wusste jener, wie Gott die Welt, und
dass er aus einem Erdenkloss den Menschen gemacht hatte. Die
Schöpfung ist aber das Wenigste; der Jude nahm die Mythologieen,
die er auf seinen Reisen kennen lernte, entkleidete sie nach Thunlich-
keit des Mythologischen und stutzte sie zu möglichst konkret historischen
Geschehnissen zu.1) Dann erst kommt aber sein Meisterstück: aus
dem dürftigen Material, das allen Semiten gemeinsam war,2) konstruierte
der Jude eine ganze Weltgeschichte und brachte sich selbst gleich in
den Mittelpunkt; und von diesem Augenblick an, d. h. von dem
Augenblick an, wo Jahve mit Abraham den Bund schliesst, bildet das
Schicksal Israels die Weltgeschichte, ja, die Geschichte des ganzen
Kosmos, das einzige, worum sich der Weltschöpfer kümmert. Es
ist, als ob die Kreise immer enger würden; zuletzt bleibt nur der
Mittelpunkt, das "ich"; der Wille hat gesiegt. Das war auch in der
That nicht das Werk eines Tages; es geschah allmählich; das eigent-
liche Judentum, d. h. das Alte Testament in seiner jetzigen Gestalt,
hat sich erst bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft
endgültig geformt und befestigt.3) Und nun wurde, was früher mit
unbewusster Genialität geschehen war, bewusst angewandt und aus-
gebildet: die Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit
der Gegenwart, dergestalt, dass jeder einzelne Augenblick ein Zentrum
bildete auf dem schnurgeraden Wege, den das jüdische Volk zu
wandeln hatte und von dem es fortan weder nach rechts noch nach
links abweichen konnte. In der Vergangenheit göttliche Wunder-
thaten zu Gunsten der Juden und in der Zukunft Messiaserwartung
und Weltherrschaft, das waren die beiden einander ergänzenden
Elemente dieser Geschichtsauffassung. Der vergängliche Augenblick
erhielt eine eigentümlich lebendige Bedeutung dadurch, dass man
ihn aus der Vergangenheit herauswachsen sah, als Lohn oder als
Bestrafung, und ihn in Prophezeiungen genau vorhergesagt glaubte.
Hierdurch gewann nun auch die Zukunft eine unerhörte Realität:
man schien sie mit Händen zu halten. Waren auch unzählige Ver-

1) "Les mythologies etrangeres se transforment entre les mains des Semites en
recits platement historiques
" (Renan: Israel, I, 49).
2) Vergl. die Schöpfungsgeschichte des Phöniciers Sanchuniathon.
3) Siehe Kap. 5. Als Anhaltspunkt und um die Verschiedenheiten der
Anlagen recht drastisch hervortreten zu lassen: etwa 300 Jahre nach Homer, kaum
ein Jahrhundert vor Herodot.

Die Erscheinung Christi.
wie unsere heutigen Materialisten wissen, wie aus Bewegungen der
Atome das Denken entsteht, wusste jener, wie Gott die Welt, und
dass er aus einem Erdenkloss den Menschen gemacht hatte. Die
Schöpfung ist aber das Wenigste; der Jude nahm die Mythologieen,
die er auf seinen Reisen kennen lernte, entkleidete sie nach Thunlich-
keit des Mythologischen und stutzte sie zu möglichst konkret historischen
Geschehnissen zu.1) Dann erst kommt aber sein Meisterstück: aus
dem dürftigen Material, das allen Semiten gemeinsam war,2) konstruierte
der Jude eine ganze Weltgeschichte und brachte sich selbst gleich in
den Mittelpunkt; und von diesem Augenblick an, d. h. von dem
Augenblick an, wo Jahve mit Abraham den Bund schliesst, bildet das
Schicksal Israels die Weltgeschichte, ja, die Geschichte des ganzen
Kosmos, das einzige, worum sich der Weltschöpfer kümmert. Es
ist, als ob die Kreise immer enger würden; zuletzt bleibt nur der
Mittelpunkt, das »ich«; der Wille hat gesiegt. Das war auch in der
That nicht das Werk eines Tages; es geschah allmählich; das eigent-
liche Judentum, d. h. das Alte Testament in seiner jetzigen Gestalt,
hat sich erst bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft
endgültig geformt und befestigt.3) Und nun wurde, was früher mit
unbewusster Genialität geschehen war, bewusst angewandt und aus-
gebildet: die Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit
der Gegenwart, dergestalt, dass jeder einzelne Augenblick ein Zentrum
bildete auf dem schnurgeraden Wege, den das jüdische Volk zu
wandeln hatte und von dem es fortan weder nach rechts noch nach
links abweichen konnte. In der Vergangenheit göttliche Wunder-
thaten zu Gunsten der Juden und in der Zukunft Messiaserwartung
und Weltherrschaft, das waren die beiden einander ergänzenden
Elemente dieser Geschichtsauffassung. Der vergängliche Augenblick
erhielt eine eigentümlich lebendige Bedeutung dadurch, dass man
ihn aus der Vergangenheit herauswachsen sah, als Lohn oder als
Bestrafung, und ihn in Prophezeiungen genau vorhergesagt glaubte.
Hierdurch gewann nun auch die Zukunft eine unerhörte Realität:
man schien sie mit Händen zu halten. Waren auch unzählige Ver-

1) »Les mythologies étrangères se transforment entre les mains des Sémites en
récits platement historiques
« (Renan: Israël, I, 49).
2) Vergl. die Schöpfungsgeschichte des Phöniciers Sanchuniathon.
3) Siehe Kap. 5. Als Anhaltspunkt und um die Verschiedenheiten der
Anlagen recht drastisch hervortreten zu lassen: etwa 300 Jahre nach Homer, kaum
ein Jahrhundert vor Herodot.
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[235/0258] Die Erscheinung Christi. wie unsere heutigen Materialisten wissen, wie aus Bewegungen der Atome das Denken entsteht, wusste jener, wie Gott die Welt, und dass er aus einem Erdenkloss den Menschen gemacht hatte. Die Schöpfung ist aber das Wenigste; der Jude nahm die Mythologieen, die er auf seinen Reisen kennen lernte, entkleidete sie nach Thunlich- keit des Mythologischen und stutzte sie zu möglichst konkret historischen Geschehnissen zu. 1) Dann erst kommt aber sein Meisterstück: aus dem dürftigen Material, das allen Semiten gemeinsam war, 2) konstruierte der Jude eine ganze Weltgeschichte und brachte sich selbst gleich in den Mittelpunkt; und von diesem Augenblick an, d. h. von dem Augenblick an, wo Jahve mit Abraham den Bund schliesst, bildet das Schicksal Israels die Weltgeschichte, ja, die Geschichte des ganzen Kosmos, das einzige, worum sich der Weltschöpfer kümmert. Es ist, als ob die Kreise immer enger würden; zuletzt bleibt nur der Mittelpunkt, das »ich«; der Wille hat gesiegt. Das war auch in der That nicht das Werk eines Tages; es geschah allmählich; das eigent- liche Judentum, d. h. das Alte Testament in seiner jetzigen Gestalt, hat sich erst bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft endgültig geformt und befestigt. 3) Und nun wurde, was früher mit unbewusster Genialität geschehen war, bewusst angewandt und aus- gebildet: die Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der Gegenwart, dergestalt, dass jeder einzelne Augenblick ein Zentrum bildete auf dem schnurgeraden Wege, den das jüdische Volk zu wandeln hatte und von dem es fortan weder nach rechts noch nach links abweichen konnte. In der Vergangenheit göttliche Wunder- thaten zu Gunsten der Juden und in der Zukunft Messiaserwartung und Weltherrschaft, das waren die beiden einander ergänzenden Elemente dieser Geschichtsauffassung. Der vergängliche Augenblick erhielt eine eigentümlich lebendige Bedeutung dadurch, dass man ihn aus der Vergangenheit herauswachsen sah, als Lohn oder als Bestrafung, und ihn in Prophezeiungen genau vorhergesagt glaubte. Hierdurch gewann nun auch die Zukunft eine unerhörte Realität: man schien sie mit Händen zu halten. Waren auch unzählige Ver- 1) »Les mythologies étrangères se transforment entre les mains des Sémites en récits platement historiques« (Renan: Israël, I, 49). 2) Vergl. die Schöpfungsgeschichte des Phöniciers Sanchuniathon. 3) Siehe Kap. 5. Als Anhaltspunkt und um die Verschiedenheiten der Anlagen recht drastisch hervortreten zu lassen: etwa 300 Jahre nach Homer, kaum ein Jahrhundert vor Herodot.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/258>, abgerufen am 23.11.2024.