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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
die Reihe der galiläischen Helden wurde durch Eleasar geschlossen,
der noch Jahre lang nach der Zerstörung Jerusalems mit einer kleinen
Truppe im Gebirge sich verschanzt hielt, wo er und seine Anhänger,
als die letzte Hoffnung verloren war, erst ihre Frauen und Kinder,
dann sich selbst töteten1). In diesen Dingen tritt, das wird wohl Jeder
zugeben, ein besonderer, unterschiedlicher Nationalcharakter zu Tage.
Vielfach wird auch über die Frauen Galiläas berichtet, sie hätten eine
nur ihnen eigentümliche Schönheit besessen; die Christen der ersten
Jahrhunderte erzählen ausserdem von ihrer grossen Güte und ihrem
Entgegenkommen Andersgläubigen gegenüber, im Gegensatz zu der
hochmütig verachtungsvollen Behandlung, die ihnen von den echten
Jüdinnen zu Teil wurde. Dieser besondere Nationalcharakter fand aber
noch einen anderen, unfehlbaren Ausdruck: die Sprache. In Judäa
und den angrenzenden Ländern redete man zu den Zeiten Christi
aramäisch; das Hebräische war bereits eine tote Sprache, die einzig
in den heiligen Schriften weiterlebte. Es wird nun berichtet, die
Galiläer hätten einen so eigentümlichen, fremdartigen Dialekt des
Aramäischen gesprochen, dass man sie gleich am ersten Worte er-
kannte; "deine Sprache verrät dich", rufen die Diener des Hohen-
priesters dem Petrus zu. Das Hebräische sollen sie überhaupt nicht
im Stande gewesen sein zu erlernen, namentlich die Kehllaute bildeten
für sie ein unübersteigliches Hindernis, so dass man Galiläer z. B. zum
Vorbeten nicht zulassen konnte, da "ihre verwahrloste Aussprache
Lachen erregte".2) Diese Thatsache beweist eine physische Abweichung
im Bau des Kehlkopfes und liesse sogar vermuten, dass wirklich eine
starke Beimischung nicht-semitischen Blutes stattgefunden habe; denn
der Reichtum an Kehllauten und die Virtuosität in ihrer Behandlung
ist ein allen Semiten gemeinsamer Zug.3)

1) Auch später noch bildeten die Bewohner Galiläas eine besondere, durch
Kraft und Mut ausgezeichnete Rasse, wie das ihre Teilnahme an dem Feldzug
unter dem Perser Scharbarza und an der Einnahme Jerusalems beweist, im Jahre 614.
2) Vergl. z. B. Graetz a. a. O., I, 575. Über die Eigentümlichkeit der
Sprache der Galiläer und deren Unfähigkeit, die semitischen Kehllaute richtig aus-
zusprechen vergl. namentlich Renan: Langues semitiques, 5e ed., p. 230.
3) Man sehe z. B. die vergleichende Tafel bei Max Müller: Science of
Language
, 9. Aufl., S. 169 und in jedem einzelnen Bande der Sacred Books of the
East.
Die Sanskritsprache kennt nur sechs echte "Gutturales", die hebräische
zehn; am auffallendsten ist jedoch der Unterschied bei dem gutturalen Hauchlaut,
dem h, für welches die indogermanischen Sprachen seit jeher nur einen einzigen
Laut gekannt haben, die semitischen dagegen fünf verschiedene. Dagegen

Das Erbe der alten Welt.
die Reihe der galiläischen Helden wurde durch Eleasar geschlossen,
der noch Jahre lang nach der Zerstörung Jerusalems mit einer kleinen
Truppe im Gebirge sich verschanzt hielt, wo er und seine Anhänger,
als die letzte Hoffnung verloren war, erst ihre Frauen und Kinder,
dann sich selbst töteten1). In diesen Dingen tritt, das wird wohl Jeder
zugeben, ein besonderer, unterschiedlicher Nationalcharakter zu Tage.
Vielfach wird auch über die Frauen Galiläas berichtet, sie hätten eine
nur ihnen eigentümliche Schönheit besessen; die Christen der ersten
Jahrhunderte erzählen ausserdem von ihrer grossen Güte und ihrem
Entgegenkommen Andersgläubigen gegenüber, im Gegensatz zu der
hochmütig verachtungsvollen Behandlung, die ihnen von den echten
Jüdinnen zu Teil wurde. Dieser besondere Nationalcharakter fand aber
noch einen anderen, unfehlbaren Ausdruck: die Sprache. In Judäa
und den angrenzenden Ländern redete man zu den Zeiten Christi
aramäisch; das Hebräische war bereits eine tote Sprache, die einzig
in den heiligen Schriften weiterlebte. Es wird nun berichtet, die
Galiläer hätten einen so eigentümlichen, fremdartigen Dialekt des
Aramäischen gesprochen, dass man sie gleich am ersten Worte er-
kannte; »deine Sprache verrät dich«, rufen die Diener des Hohen-
priesters dem Petrus zu. Das Hebräische sollen sie überhaupt nicht
im Stande gewesen sein zu erlernen, namentlich die Kehllaute bildeten
für sie ein unübersteigliches Hindernis, so dass man Galiläer z. B. zum
Vorbeten nicht zulassen konnte, da »ihre verwahrloste Aussprache
Lachen erregte«.2) Diese Thatsache beweist eine physische Abweichung
im Bau des Kehlkopfes und liesse sogar vermuten, dass wirklich eine
starke Beimischung nicht-semitischen Blutes stattgefunden habe; denn
der Reichtum an Kehllauten und die Virtuosität in ihrer Behandlung
ist ein allen Semiten gemeinsamer Zug.3)

1) Auch später noch bildeten die Bewohner Galiläas eine besondere, durch
Kraft und Mut ausgezeichnete Rasse, wie das ihre Teilnahme an dem Feldzug
unter dem Perser Scharbarza und an der Einnahme Jerusalems beweist, im Jahre 614.
2) Vergl. z. B. Graetz a. a. O., I, 575. Über die Eigentümlichkeit der
Sprache der Galiläer und deren Unfähigkeit, die semitischen Kehllaute richtig aus-
zusprechen vergl. namentlich Renan: Langues sémitiques, 5e éd., p. 230.
3) Man sehe z. B. die vergleichende Tafel bei Max Müller: Science of
Language
, 9. Aufl., S. 169 und in jedem einzelnen Bande der Sacred Books of the
East.
Die Sanskritsprache kennt nur sechs echte »Gutturales«, die hebräische
zehn; am auffallendsten ist jedoch der Unterschied bei dem gutturalen Hauchlaut,
dem h, für welches die indogermanischen Sprachen seit jeher nur einen einzigen
Laut gekannt haben, die semitischen dagegen fünf verschiedene. Dagegen
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[216/0239] Das Erbe der alten Welt. die Reihe der galiläischen Helden wurde durch Eleasar geschlossen, der noch Jahre lang nach der Zerstörung Jerusalems mit einer kleinen Truppe im Gebirge sich verschanzt hielt, wo er und seine Anhänger, als die letzte Hoffnung verloren war, erst ihre Frauen und Kinder, dann sich selbst töteten 1). In diesen Dingen tritt, das wird wohl Jeder zugeben, ein besonderer, unterschiedlicher Nationalcharakter zu Tage. Vielfach wird auch über die Frauen Galiläas berichtet, sie hätten eine nur ihnen eigentümliche Schönheit besessen; die Christen der ersten Jahrhunderte erzählen ausserdem von ihrer grossen Güte und ihrem Entgegenkommen Andersgläubigen gegenüber, im Gegensatz zu der hochmütig verachtungsvollen Behandlung, die ihnen von den echten Jüdinnen zu Teil wurde. Dieser besondere Nationalcharakter fand aber noch einen anderen, unfehlbaren Ausdruck: die Sprache. In Judäa und den angrenzenden Ländern redete man zu den Zeiten Christi aramäisch; das Hebräische war bereits eine tote Sprache, die einzig in den heiligen Schriften weiterlebte. Es wird nun berichtet, die Galiläer hätten einen so eigentümlichen, fremdartigen Dialekt des Aramäischen gesprochen, dass man sie gleich am ersten Worte er- kannte; »deine Sprache verrät dich«, rufen die Diener des Hohen- priesters dem Petrus zu. Das Hebräische sollen sie überhaupt nicht im Stande gewesen sein zu erlernen, namentlich die Kehllaute bildeten für sie ein unübersteigliches Hindernis, so dass man Galiläer z. B. zum Vorbeten nicht zulassen konnte, da »ihre verwahrloste Aussprache Lachen erregte«. 2) Diese Thatsache beweist eine physische Abweichung im Bau des Kehlkopfes und liesse sogar vermuten, dass wirklich eine starke Beimischung nicht-semitischen Blutes stattgefunden habe; denn der Reichtum an Kehllauten und die Virtuosität in ihrer Behandlung ist ein allen Semiten gemeinsamer Zug. 3) 1) Auch später noch bildeten die Bewohner Galiläas eine besondere, durch Kraft und Mut ausgezeichnete Rasse, wie das ihre Teilnahme an dem Feldzug unter dem Perser Scharbarza und an der Einnahme Jerusalems beweist, im Jahre 614. 2) Vergl. z. B. Graetz a. a. O., I, 575. Über die Eigentümlichkeit der Sprache der Galiläer und deren Unfähigkeit, die semitischen Kehllaute richtig aus- zusprechen vergl. namentlich Renan: Langues sémitiques, 5e éd., p. 230. 3) Man sehe z. B. die vergleichende Tafel bei Max Müller: Science of Language, 9. Aufl., S. 169 und in jedem einzelnen Bande der Sacred Books of the East. Die Sanskritsprache kennt nur sechs echte »Gutturales«, die hebräische zehn; am auffallendsten ist jedoch der Unterschied bei dem gutturalen Hauchlaut, dem h, für welches die indogermanischen Sprachen seit jeher nur einen einzigen Laut gekannt haben, die semitischen dagegen fünf verschiedene. Dagegen

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/239>, abgerufen am 18.05.2024.