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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
ist durchaus nicht gleichgültig, ob wir durch eine scharfe Analyse ge-
naue Begriffe davon bekommen haben, was in dieser Gestalt jüdisch
ist, was nicht. Hierüber herrscht von den Anfängen der christlichen
Ära bis zum heutigen Tage und von den Niederungen der intellektuellen
Welt bis zu ihren höchsten Höhen eine heillose Konfusion. Nicht
allein war eine so hohe Gestalt für keinen Menschen leicht zu erfassen
und in ihren organischen Beziehungen zur Mitwelt zu überblicken,
sondern es traf alles zusammen um ihre wahren Züge zu verwischen
und zu fälschen: jüdische religiöse Eigenart, syrischer Mysticismus,
ägyptische Askese, hellenische Metaphysik, bald auch römische Staats-
und Pontifikaltraditionen, dazu die Aberglauben der Barbaren: jeder
Missverstand und jeder Unverstand beteiligten sich an dem Werke.
In unserem Jahrhundert hat man sich nun viel mit der Entwirrung dieser
Frage abgegeben, doch, so viel mir bekannt, ohne dass es irgend Einem
gelungen wäre, die wenigen Hauptpunkte aus der Thatsachenmasse
herauszuscheiden und vor aller Augen klar hinzustellen. Gegen Vor-
urteil und Voreingenommenheit schützt eben selbst ehrliche Gelehr-
samkeit nicht. Wir wollen hier versuchen, zwar leider ohne Gelehr-
samkeit, doch auch ohne Vorurteil, zu erforschen, in wiefern Christus
zu seiner Umgebung gehörte und ihrer Anschauungsformen sich be-
diente, inwiefern er sich von ihr unterschied und sich himmelhoch
über sie erhob; nur auf diese Art kann es gelingen, die Persönlichkeit
in ihrer vollen autonomen Würde aus allen Zufälligkeiten heraus-
zulösen.

Fragen wir uns also zunächst: war Christus ein Jude, der
Stammesangehörigkeit nach?

Diese Frage hat im ersten Augenblick etwas Kleinliches. Vor
einer derartigen Erscheinung schrumpfen die Eigentümlichkeiten der
Rassen zu einem Nichts zusammen. Ein Jesaia, ja! wie sehr er seine
Zeitgenossen auch überragen mag, er bleibt Jude durch und durch;
kein Wort, das nicht aus der Geschichte und aus dem Geiste seines
Volkes hervorquölle; auch dort, wo er das charakteristisch Jüdische
erbarmungslos blosslegt und verdammt, bewährt er sich -- gerade
darin -- als Jude: bei Christus ist hiervon keine Spur. Oder wieder
ein Homer! Dieser erweckt als erster das hellenische Volk zum Be-
wusstsein seiner selbst; um das zu können, musste er die Quintessenz
alles Griechentums im eigenen Busen bergen. Wo aber ist das Volk,
welches, von Christus zum Leben erweckt, sich dadurch das kostbare Recht
erworben hätte -- und wohnte es auch an den Antipoden -- Christum

Das Erbe der alten Welt.
ist durchaus nicht gleichgültig, ob wir durch eine scharfe Analyse ge-
naue Begriffe davon bekommen haben, was in dieser Gestalt jüdisch
ist, was nicht. Hierüber herrscht von den Anfängen der christlichen
Ära bis zum heutigen Tage und von den Niederungen der intellektuellen
Welt bis zu ihren höchsten Höhen eine heillose Konfusion. Nicht
allein war eine so hohe Gestalt für keinen Menschen leicht zu erfassen
und in ihren organischen Beziehungen zur Mitwelt zu überblicken,
sondern es traf alles zusammen um ihre wahren Züge zu verwischen
und zu fälschen: jüdische religiöse Eigenart, syrischer Mysticismus,
ägyptische Askese, hellenische Metaphysik, bald auch römische Staats-
und Pontifikaltraditionen, dazu die Aberglauben der Barbaren: jeder
Missverstand und jeder Unverstand beteiligten sich an dem Werke.
In unserem Jahrhundert hat man sich nun viel mit der Entwirrung dieser
Frage abgegeben, doch, so viel mir bekannt, ohne dass es irgend Einem
gelungen wäre, die wenigen Hauptpunkte aus der Thatsachenmasse
herauszuscheiden und vor aller Augen klar hinzustellen. Gegen Vor-
urteil und Voreingenommenheit schützt eben selbst ehrliche Gelehr-
samkeit nicht. Wir wollen hier versuchen, zwar leider ohne Gelehr-
samkeit, doch auch ohne Vorurteil, zu erforschen, in wiefern Christus
zu seiner Umgebung gehörte und ihrer Anschauungsformen sich be-
diente, inwiefern er sich von ihr unterschied und sich himmelhoch
über sie erhob; nur auf diese Art kann es gelingen, die Persönlichkeit
in ihrer vollen autonomen Würde aus allen Zufälligkeiten heraus-
zulösen.

Fragen wir uns also zunächst: war Christus ein Jude, der
Stammesangehörigkeit nach?

Diese Frage hat im ersten Augenblick etwas Kleinliches. Vor
einer derartigen Erscheinung schrumpfen die Eigentümlichkeiten der
Rassen zu einem Nichts zusammen. Ein Jesaia, ja! wie sehr er seine
Zeitgenossen auch überragen mag, er bleibt Jude durch und durch;
kein Wort, das nicht aus der Geschichte und aus dem Geiste seines
Volkes hervorquölle; auch dort, wo er das charakteristisch Jüdische
erbarmungslos blosslegt und verdammt, bewährt er sich — gerade
darin — als Jude: bei Christus ist hiervon keine Spur. Oder wieder
ein Homer! Dieser erweckt als erster das hellenische Volk zum Be-
wusstsein seiner selbst; um das zu können, musste er die Quintessenz
alles Griechentums im eigenen Busen bergen. Wo aber ist das Volk,
welches, von Christus zum Leben erweckt, sich dadurch das kostbare Recht
erworben hätte — und wohnte es auch an den Antipoden — Christum

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[210/0233] Das Erbe der alten Welt. ist durchaus nicht gleichgültig, ob wir durch eine scharfe Analyse ge- naue Begriffe davon bekommen haben, was in dieser Gestalt jüdisch ist, was nicht. Hierüber herrscht von den Anfängen der christlichen Ära bis zum heutigen Tage und von den Niederungen der intellektuellen Welt bis zu ihren höchsten Höhen eine heillose Konfusion. Nicht allein war eine so hohe Gestalt für keinen Menschen leicht zu erfassen und in ihren organischen Beziehungen zur Mitwelt zu überblicken, sondern es traf alles zusammen um ihre wahren Züge zu verwischen und zu fälschen: jüdische religiöse Eigenart, syrischer Mysticismus, ägyptische Askese, hellenische Metaphysik, bald auch römische Staats- und Pontifikaltraditionen, dazu die Aberglauben der Barbaren: jeder Missverstand und jeder Unverstand beteiligten sich an dem Werke. In unserem Jahrhundert hat man sich nun viel mit der Entwirrung dieser Frage abgegeben, doch, so viel mir bekannt, ohne dass es irgend Einem gelungen wäre, die wenigen Hauptpunkte aus der Thatsachenmasse herauszuscheiden und vor aller Augen klar hinzustellen. Gegen Vor- urteil und Voreingenommenheit schützt eben selbst ehrliche Gelehr- samkeit nicht. Wir wollen hier versuchen, zwar leider ohne Gelehr- samkeit, doch auch ohne Vorurteil, zu erforschen, in wiefern Christus zu seiner Umgebung gehörte und ihrer Anschauungsformen sich be- diente, inwiefern er sich von ihr unterschied und sich himmelhoch über sie erhob; nur auf diese Art kann es gelingen, die Persönlichkeit in ihrer vollen autonomen Würde aus allen Zufälligkeiten heraus- zulösen. Fragen wir uns also zunächst: war Christus ein Jude, der Stammesangehörigkeit nach? Diese Frage hat im ersten Augenblick etwas Kleinliches. Vor einer derartigen Erscheinung schrumpfen die Eigentümlichkeiten der Rassen zu einem Nichts zusammen. Ein Jesaia, ja! wie sehr er seine Zeitgenossen auch überragen mag, er bleibt Jude durch und durch; kein Wort, das nicht aus der Geschichte und aus dem Geiste seines Volkes hervorquölle; auch dort, wo er das charakteristisch Jüdische erbarmungslos blosslegt und verdammt, bewährt er sich — gerade darin — als Jude: bei Christus ist hiervon keine Spur. Oder wieder ein Homer! Dieser erweckt als erster das hellenische Volk zum Be- wusstsein seiner selbst; um das zu können, musste er die Quintessenz alles Griechentums im eigenen Busen bergen. Wo aber ist das Volk, welches, von Christus zum Leben erweckt, sich dadurch das kostbare Recht erworben hätte — und wohnte es auch an den Antipoden — Christum

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/233>, abgerufen am 24.11.2024.