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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.
eine rein innere. Was Buddha lehrt, ist gewissermassen ein physischer
Vorgang, es ist die thatsächliche Abtötung des leiblichen und geistigen
Menschen; wer erlöst werden will, muss die drei Gelübde der Keusch-
heit, der Armut und des Gehorsams ablegen. Bei Christus finden wir
nichts Ähnliches: er wohnt Hochzeitsfesten bei, die Ehe erklärt er
für eine heilige Stiftung Gottes und auch die Verirrungen des Fleisches
beurteilt er so nachsichtig, dass er selbst für die Ehebrecherin kein
Wort der Verdammung hat; zwar bezeichnet er Reichtum als einen
erschwerenden Umstand für jene Umkehr der Willensrichtung, der
Reiche, sagt er, wird schwerer in jenes Reich Gottes, welches
inwendig in uns liegt, hineingelangen, als ein Kamel durch ein
Nadelöhr gehen, fügt aber sofort hinzu -- und dies ist das Charakte-
ristische und Entscheidende -- "was bei den Menschen unmöglich
ist, das ist bei Gott möglich". Dies ist wieder eine jener Stellen,
die nicht erfunden sein können, denn nirgends in der ganzen Welt
finden wir Ähnliches. Diatriben gegen den Reichtum hatte es schon
früher in Hülle und Fülle gegeben (man lese nur die jüdischen
Propheten), sie wurden später wiederholt (man lese z. B. die Epistel
Jakobi, Kap. II); für Christus dagegen ist Reichtum etwas ganz Äusser-
liches, sein Besitz kann hinderlich sein, oder auch nicht, denn ihm
kommt es einzig und allein auf eine innere Umwandlung an; was
gerade für diesen Fall der weitaus bedeutendste Apostel später so
schön ausführt: denn hatte Christus dem reichen Jüngling geraten,
"verkaufe was du hast, und gieb es den Armen", so ergänzt Paulus
diesen Ausspruch durch die Bemerkung: "und wenn ich alle meine
Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wäre mir es
nichts nütze". Wer auf den Tod lossteuert, mag sich mit Armut,
Keuschheit und Gehorsam begnügen, wer das Leben erwählt, hat
ganz andere Dinge im Sinne.

Und da ist es nötig, auf noch einen Punkt aufmerksam zu
machen, in welchem das Lebensvolle an Christi Erscheinung und
Beispiel frisch und überzeugend sich kund thut: ich meine die Kampfes-
lust. Die Sprüche Christi über die Demut, die Geduld, seine Er-
mahnung, unsere Feinde zu lieben und diejenigen zu segnen, die uns
fluchen, finden fast gleichwertige Gegenstücke bei Buddha; sie ent-
springen jedoch einem durchaus anderen Motiv. Für Buddha ist jedes
erduldete Unrecht eine Abtötung, für Christus ein Mittel, um die
neue Anschauung des Lebens zu befördern: "Selig sind, die um Ge-
rechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr"

Die Erscheinung Christi.
eine rein innere. Was Buddha lehrt, ist gewissermassen ein physischer
Vorgang, es ist die thatsächliche Abtötung des leiblichen und geistigen
Menschen; wer erlöst werden will, muss die drei Gelübde der Keusch-
heit, der Armut und des Gehorsams ablegen. Bei Christus finden wir
nichts Ähnliches: er wohnt Hochzeitsfesten bei, die Ehe erklärt er
für eine heilige Stiftung Gottes und auch die Verirrungen des Fleisches
beurteilt er so nachsichtig, dass er selbst für die Ehebrecherin kein
Wort der Verdammung hat; zwar bezeichnet er Reichtum als einen
erschwerenden Umstand für jene Umkehr der Willensrichtung, der
Reiche, sagt er, wird schwerer in jenes Reich Gottes, welches
inwendig in uns liegt, hineingelangen, als ein Kamel durch ein
Nadelöhr gehen, fügt aber sofort hinzu — und dies ist das Charakte-
ristische und Entscheidende — »was bei den Menschen unmöglich
ist, das ist bei Gott möglich«. Dies ist wieder eine jener Stellen,
die nicht erfunden sein können, denn nirgends in der ganzen Welt
finden wir Ähnliches. Diatriben gegen den Reichtum hatte es schon
früher in Hülle und Fülle gegeben (man lese nur die jüdischen
Propheten), sie wurden später wiederholt (man lese z. B. die Epistel
Jakobi, Kap. II); für Christus dagegen ist Reichtum etwas ganz Äusser-
liches, sein Besitz kann hinderlich sein, oder auch nicht, denn ihm
kommt es einzig und allein auf eine innere Umwandlung an; was
gerade für diesen Fall der weitaus bedeutendste Apostel später so
schön ausführt: denn hatte Christus dem reichen Jüngling geraten,
»verkaufe was du hast, und gieb es den Armen«, so ergänzt Paulus
diesen Ausspruch durch die Bemerkung: »und wenn ich alle meine
Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wäre mir es
nichts nütze«. Wer auf den Tod lossteuert, mag sich mit Armut,
Keuschheit und Gehorsam begnügen, wer das Leben erwählt, hat
ganz andere Dinge im Sinne.

Und da ist es nötig, auf noch einen Punkt aufmerksam zu
machen, in welchem das Lebensvolle an Christi Erscheinung und
Beispiel frisch und überzeugend sich kund thut: ich meine die Kampfes-
lust. Die Sprüche Christi über die Demut, die Geduld, seine Er-
mahnung, unsere Feinde zu lieben und diejenigen zu segnen, die uns
fluchen, finden fast gleichwertige Gegenstücke bei Buddha; sie ent-
springen jedoch einem durchaus anderen Motiv. Für Buddha ist jedes
erduldete Unrecht eine Abtötung, für Christus ein Mittel, um die
neue Anschauung des Lebens zu befördern: »Selig sind, die um Ge-
rechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr«

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[203/0226] Die Erscheinung Christi. eine rein innere. Was Buddha lehrt, ist gewissermassen ein physischer Vorgang, es ist die thatsächliche Abtötung des leiblichen und geistigen Menschen; wer erlöst werden will, muss die drei Gelübde der Keusch- heit, der Armut und des Gehorsams ablegen. Bei Christus finden wir nichts Ähnliches: er wohnt Hochzeitsfesten bei, die Ehe erklärt er für eine heilige Stiftung Gottes und auch die Verirrungen des Fleisches beurteilt er so nachsichtig, dass er selbst für die Ehebrecherin kein Wort der Verdammung hat; zwar bezeichnet er Reichtum als einen erschwerenden Umstand für jene Umkehr der Willensrichtung, der Reiche, sagt er, wird schwerer in jenes Reich Gottes, welches inwendig in uns liegt, hineingelangen, als ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, fügt aber sofort hinzu — und dies ist das Charakte- ristische und Entscheidende — »was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich«. Dies ist wieder eine jener Stellen, die nicht erfunden sein können, denn nirgends in der ganzen Welt finden wir Ähnliches. Diatriben gegen den Reichtum hatte es schon früher in Hülle und Fülle gegeben (man lese nur die jüdischen Propheten), sie wurden später wiederholt (man lese z. B. die Epistel Jakobi, Kap. II); für Christus dagegen ist Reichtum etwas ganz Äusser- liches, sein Besitz kann hinderlich sein, oder auch nicht, denn ihm kommt es einzig und allein auf eine innere Umwandlung an; was gerade für diesen Fall der weitaus bedeutendste Apostel später so schön ausführt: denn hatte Christus dem reichen Jüngling geraten, »verkaufe was du hast, und gieb es den Armen«, so ergänzt Paulus diesen Ausspruch durch die Bemerkung: »und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wäre mir es nichts nütze«. Wer auf den Tod lossteuert, mag sich mit Armut, Keuschheit und Gehorsam begnügen, wer das Leben erwählt, hat ganz andere Dinge im Sinne. Und da ist es nötig, auf noch einen Punkt aufmerksam zu machen, in welchem das Lebensvolle an Christi Erscheinung und Beispiel frisch und überzeugend sich kund thut: ich meine die Kampfes- lust. Die Sprüche Christi über die Demut, die Geduld, seine Er- mahnung, unsere Feinde zu lieben und diejenigen zu segnen, die uns fluchen, finden fast gleichwertige Gegenstücke bei Buddha; sie ent- springen jedoch einem durchaus anderen Motiv. Für Buddha ist jedes erduldete Unrecht eine Abtötung, für Christus ein Mittel, um die neue Anschauung des Lebens zu befördern: »Selig sind, die um Ge- rechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/226>, abgerufen am 25.11.2024.