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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
tausende gewährt hat, ehe die mathematisch beweisbare, sinnfällig vor-
stellbare Struktur des Kosmos ein fester, allgemeiner Besitz des mensch-
lichen Wissens wurde!1) Ist nicht der Verstand mit seinen Augen und
mit seinem unfehlbaren Brevier von 2 mal 2 ist 4 leichter zu modeln
als das blinde, ewig durch Eigensucht bethörte Herz? Nun wird ein
Mann geboren und lebt ein Leben, durch welches die Auffassung
von der sittlichen Bedeutung des Menschen, die gesamte "moralische
Weltanschauung" eine völlige Umwandlung erleiden -- wodurch
zugleich das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, sein Verhältnis
zu Anderen und sein Verhältnis zur umgebenden Natur eine früher
ungeahnte Beleuchtung erhalten muss, so dass alle Handlungsmotive
und Ideale, alle Herzensbegehr und Hoffnung nunmehr umzugestalten
und vom Fundament aus neu aufzubauen sind! Und man glaubt, das
könne das Werk einiger Jahrhunderte sein? Man glaubt, das könne
durch Missverständnisse und Lügen, durch politische Intriguen und
ökumenische Konzilien, durch den Befehl ehrgeiztoller Könige und
habgieriger Pfaffen, durch dreitausend Bände scholastischer Beweis-
führung, durch den Glaubensfanatismus beschränkter Bauernseelen und
den edlen Eifer vereinzelter "Fürtrefflichsten", durch Krieg, Mord
und Scheiterhaufen, durch bürgerliche Gesetzbücher und gesellschaft-
liche Intoleranz bewirkt werden? Ich für mein Teil glaube es nicht.
Ich glaube vielmehr, dass wir noch fern, sehr fern von dem Moment
sind, wo die umbildende Macht der Erscheinung Christi sich in ihrem
vollen Umfang auf die gesittete Menschheit geltend machen wird.
Sollten unsere Kirchen in ihrer bisherigen Gestalt auch zu Grunde
gehen, die christliche Idee wird nur umso machtvoller hervortreten.
Im 9. Kapitel werde ich zeigen, wie unsere neue germanische Welt-
anschauung dahin drängt. Das Christentum geht noch auf Kinder-
füssen, kaum dämmert seine Mannesreife unserem blöden Blicke.
Wer weiss, ob nicht ein Tag kommt, wo man die blutige Kirchen-
geschichte der ersten 18 christlichen Jahrhunderte als die Geschichte
der bösen Kinderkrankheiten des Christentums betrachtet?

Lassen wir uns also bei der Betrachtung der Erscheinung Christi
durch keinerlei historische Vorspiegelungen und ebensowenig durch
die vorübergehenden Ansichten unseres Jahrhunderts das Urteil trüben.
Seien wir überzeugt, dass wir gerade von dieser einen Erbschaft bis
heute nur den kleinsten Teil angetreten haben, und, wollen wir wissen,

1) Siehe S. 86.

Das Erbe der alten Welt.
tausende gewährt hat, ehe die mathematisch beweisbare, sinnfällig vor-
stellbare Struktur des Kosmos ein fester, allgemeiner Besitz des mensch-
lichen Wissens wurde!1) Ist nicht der Verstand mit seinen Augen und
mit seinem unfehlbaren Brevier von 2 mal 2 ist 4 leichter zu modeln
als das blinde, ewig durch Eigensucht bethörte Herz? Nun wird ein
Mann geboren und lebt ein Leben, durch welches die Auffassung
von der sittlichen Bedeutung des Menschen, die gesamte »moralische
Weltanschauung« eine völlige Umwandlung erleiden — wodurch
zugleich das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, sein Verhältnis
zu Anderen und sein Verhältnis zur umgebenden Natur eine früher
ungeahnte Beleuchtung erhalten muss, so dass alle Handlungsmotive
und Ideale, alle Herzensbegehr und Hoffnung nunmehr umzugestalten
und vom Fundament aus neu aufzubauen sind! Und man glaubt, das
könne das Werk einiger Jahrhunderte sein? Man glaubt, das könne
durch Missverständnisse und Lügen, durch politische Intriguen und
ökumenische Konzilien, durch den Befehl ehrgeiztoller Könige und
habgieriger Pfaffen, durch dreitausend Bände scholastischer Beweis-
führung, durch den Glaubensfanatismus beschränkter Bauernseelen und
den edlen Eifer vereinzelter »Fürtrefflichsten«, durch Krieg, Mord
und Scheiterhaufen, durch bürgerliche Gesetzbücher und gesellschaft-
liche Intoleranz bewirkt werden? Ich für mein Teil glaube es nicht.
Ich glaube vielmehr, dass wir noch fern, sehr fern von dem Moment
sind, wo die umbildende Macht der Erscheinung Christi sich in ihrem
vollen Umfang auf die gesittete Menschheit geltend machen wird.
Sollten unsere Kirchen in ihrer bisherigen Gestalt auch zu Grunde
gehen, die christliche Idee wird nur umso machtvoller hervortreten.
Im 9. Kapitel werde ich zeigen, wie unsere neue germanische Welt-
anschauung dahin drängt. Das Christentum geht noch auf Kinder-
füssen, kaum dämmert seine Mannesreife unserem blöden Blicke.
Wer weiss, ob nicht ein Tag kommt, wo man die blutige Kirchen-
geschichte der ersten 18 christlichen Jahrhunderte als die Geschichte
der bösen Kinderkrankheiten des Christentums betrachtet?

Lassen wir uns also bei der Betrachtung der Erscheinung Christi
durch keinerlei historische Vorspiegelungen und ebensowenig durch
die vorübergehenden Ansichten unseres Jahrhunderts das Urteil trüben.
Seien wir überzeugt, dass wir gerade von dieser einen Erbschaft bis
heute nur den kleinsten Teil angetreten haben, und, wollen wir wissen,

1) Siehe S. 86.
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[190/0213] Das Erbe der alten Welt. tausende gewährt hat, ehe die mathematisch beweisbare, sinnfällig vor- stellbare Struktur des Kosmos ein fester, allgemeiner Besitz des mensch- lichen Wissens wurde! 1) Ist nicht der Verstand mit seinen Augen und mit seinem unfehlbaren Brevier von 2 mal 2 ist 4 leichter zu modeln als das blinde, ewig durch Eigensucht bethörte Herz? Nun wird ein Mann geboren und lebt ein Leben, durch welches die Auffassung von der sittlichen Bedeutung des Menschen, die gesamte »moralische Weltanschauung« eine völlige Umwandlung erleiden — wodurch zugleich das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, sein Verhältnis zu Anderen und sein Verhältnis zur umgebenden Natur eine früher ungeahnte Beleuchtung erhalten muss, so dass alle Handlungsmotive und Ideale, alle Herzensbegehr und Hoffnung nunmehr umzugestalten und vom Fundament aus neu aufzubauen sind! Und man glaubt, das könne das Werk einiger Jahrhunderte sein? Man glaubt, das könne durch Missverständnisse und Lügen, durch politische Intriguen und ökumenische Konzilien, durch den Befehl ehrgeiztoller Könige und habgieriger Pfaffen, durch dreitausend Bände scholastischer Beweis- führung, durch den Glaubensfanatismus beschränkter Bauernseelen und den edlen Eifer vereinzelter »Fürtrefflichsten«, durch Krieg, Mord und Scheiterhaufen, durch bürgerliche Gesetzbücher und gesellschaft- liche Intoleranz bewirkt werden? Ich für mein Teil glaube es nicht. Ich glaube vielmehr, dass wir noch fern, sehr fern von dem Moment sind, wo die umbildende Macht der Erscheinung Christi sich in ihrem vollen Umfang auf die gesittete Menschheit geltend machen wird. Sollten unsere Kirchen in ihrer bisherigen Gestalt auch zu Grunde gehen, die christliche Idee wird nur umso machtvoller hervortreten. Im 9. Kapitel werde ich zeigen, wie unsere neue germanische Welt- anschauung dahin drängt. Das Christentum geht noch auf Kinder- füssen, kaum dämmert seine Mannesreife unserem blöden Blicke. Wer weiss, ob nicht ein Tag kommt, wo man die blutige Kirchen- geschichte der ersten 18 christlichen Jahrhunderte als die Geschichte der bösen Kinderkrankheiten des Christentums betrachtet? Lassen wir uns also bei der Betrachtung der Erscheinung Christi durch keinerlei historische Vorspiegelungen und ebensowenig durch die vorübergehenden Ansichten unseres Jahrhunderts das Urteil trüben. Seien wir überzeugt, dass wir gerade von dieser einen Erbschaft bis heute nur den kleinsten Teil angetreten haben, und, wollen wir wissen, 1) Siehe S. 86.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/213>, abgerufen am 22.05.2024.