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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
dadurch, dass er sein eigenes dem allgemeinen Wohl zu opfern
wusste, bewies er seine Befähigung, über die Rechte des Privat-
eigentums und der individuellen Freiheit gültige Grundsätze auf-
zustellen. Zu den hohen moralischen Eigenschaften mussten aber
auch ungewöhnliche geistige hinzutreten. Der Römer, als Philosoph
ohne jegliche Bedeutung, war der grösste Meister in der Abstraktion
fester Prinzipien aus den Erfahrungen des Lebens, -- eine Meister-
schaft, die besonders durch den Vergleich mit anderen Völkern her-
vortritt, z. B. mit den Athenern, welche, so fabelhaft begabt, so
grosse Liebhaber der Rechtshändel und der sophistischen Rechtsrätsel
sie auch waren, doch gerade in diesem Punkte ewig Stümper blieben. 1)
Diese eigentümliche Fähigkeit, bestimmte praktische Verhältnisse zu
fest umschriebenen "Begriffen" zu erheben, bedeutet eine grosse
Geistesthat; jetzt erst kommt Ordnung und Übersichtlichkeit in die
gesellschaftlichen Verhältnisse, ähnlich wie erst durch die Bildung
abstrakter Sammelworte die Sprache ein höheres, geordnetes Denken
ermöglicht hatte. Jetzt handelt es sich nicht mehr um dunkle Instinkte,
auch nicht um unklare, wechselnde Vorstellungen von Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit, sondern in klaren "Gattungen" geordnet stehen
die Verhältnisse alle vor unseren Augen, welche durch die Erfindung
neuer Rechtsnormen oder den weiteren Ausbau schon vorhandener
geregelt werden sollen. Und da das Leben die Erfahrung allmählich
mehrt oder selber verwickeltere Formen annimmt, entdeckt der
römische Scharfsinn nach und nach innerhalb der einzelnen Gattungen
die "Arten". "In Betreff feiner durchdachter Rechtsbegriffe
ist das römische Recht der immerwährende Lehrmeister für die
civilisierte Welt und wird es bleiben", sagt Professor Leist, also
gerade der Mann, der mehr als irgend ein anderer gethan hat, um
nachzuweisen, dass die Hochschulen den jetzigen einseitig römischen
Standpunkt der Rechtsgeschichte aufgeben und römisches Recht als
ein Glied in der Kette zu erkennen lehren sollten, als eine der Stufen,
"die der arische Geist in der Klärung der Rechtsbegriffe erstiegen hat".
Je genauer man die zahlreichen Versuche zu einer Rechtsbildung vor
und neben dem römischen studiert, um so mehr sieht man eben
die unvergleichlichen Verdienste des römischen ein und lernt erkennen,
dass es nicht vom Himmel fiel, sondern von prächtigen, wackeren

1) Vergl. Leist: Gräco-ital. Rechtsgeschichte, S. 694, und für das folgende
Citat S. 682.

Römisches Recht.
dadurch, dass er sein eigenes dem allgemeinen Wohl zu opfern
wusste, bewies er seine Befähigung, über die Rechte des Privat-
eigentums und der individuellen Freiheit gültige Grundsätze auf-
zustellen. Zu den hohen moralischen Eigenschaften mussten aber
auch ungewöhnliche geistige hinzutreten. Der Römer, als Philosoph
ohne jegliche Bedeutung, war der grösste Meister in der Abstraktion
fester Prinzipien aus den Erfahrungen des Lebens, — eine Meister-
schaft, die besonders durch den Vergleich mit anderen Völkern her-
vortritt, z. B. mit den Athenern, welche, so fabelhaft begabt, so
grosse Liebhaber der Rechtshändel und der sophistischen Rechtsrätsel
sie auch waren, doch gerade in diesem Punkte ewig Stümper blieben. 1)
Diese eigentümliche Fähigkeit, bestimmte praktische Verhältnisse zu
fest umschriebenen »Begriffen« zu erheben, bedeutet eine grosse
Geistesthat; jetzt erst kommt Ordnung und Übersichtlichkeit in die
gesellschaftlichen Verhältnisse, ähnlich wie erst durch die Bildung
abstrakter Sammelworte die Sprache ein höheres, geordnetes Denken
ermöglicht hatte. Jetzt handelt es sich nicht mehr um dunkle Instinkte,
auch nicht um unklare, wechselnde Vorstellungen von Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit, sondern in klaren »Gattungen« geordnet stehen
die Verhältnisse alle vor unseren Augen, welche durch die Erfindung
neuer Rechtsnormen oder den weiteren Ausbau schon vorhandener
geregelt werden sollen. Und da das Leben die Erfahrung allmählich
mehrt oder selber verwickeltere Formen annimmt, entdeckt der
römische Scharfsinn nach und nach innerhalb der einzelnen Gattungen
die »Arten«. »In Betreff feiner durchdachter Rechtsbegriffe
ist das römische Recht der immerwährende Lehrmeister für die
civilisierte Welt und wird es bleiben«, sagt Professor Leist, also
gerade der Mann, der mehr als irgend ein anderer gethan hat, um
nachzuweisen, dass die Hochschulen den jetzigen einseitig römischen
Standpunkt der Rechtsgeschichte aufgeben und römisches Recht als
ein Glied in der Kette zu erkennen lehren sollten, als eine der Stufen,
»die der arische Geist in der Klärung der Rechtsbegriffe erstiegen hat«.
Je genauer man die zahlreichen Versuche zu einer Rechtsbildung vor
und neben dem römischen studiert, um so mehr sieht man eben
die unvergleichlichen Verdienste des römischen ein und lernt erkennen,
dass es nicht vom Himmel fiel, sondern von prächtigen, wackeren

1) Vergl. Leist: Gräco-ital. Rechtsgeschichte, S. 694, und für das folgende
Citat S. 682.
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[165/0188] Römisches Recht. dadurch, dass er sein eigenes dem allgemeinen Wohl zu opfern wusste, bewies er seine Befähigung, über die Rechte des Privat- eigentums und der individuellen Freiheit gültige Grundsätze auf- zustellen. Zu den hohen moralischen Eigenschaften mussten aber auch ungewöhnliche geistige hinzutreten. Der Römer, als Philosoph ohne jegliche Bedeutung, war der grösste Meister in der Abstraktion fester Prinzipien aus den Erfahrungen des Lebens, — eine Meister- schaft, die besonders durch den Vergleich mit anderen Völkern her- vortritt, z. B. mit den Athenern, welche, so fabelhaft begabt, so grosse Liebhaber der Rechtshändel und der sophistischen Rechtsrätsel sie auch waren, doch gerade in diesem Punkte ewig Stümper blieben. 1) Diese eigentümliche Fähigkeit, bestimmte praktische Verhältnisse zu fest umschriebenen »Begriffen« zu erheben, bedeutet eine grosse Geistesthat; jetzt erst kommt Ordnung und Übersichtlichkeit in die gesellschaftlichen Verhältnisse, ähnlich wie erst durch die Bildung abstrakter Sammelworte die Sprache ein höheres, geordnetes Denken ermöglicht hatte. Jetzt handelt es sich nicht mehr um dunkle Instinkte, auch nicht um unklare, wechselnde Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, sondern in klaren »Gattungen« geordnet stehen die Verhältnisse alle vor unseren Augen, welche durch die Erfindung neuer Rechtsnormen oder den weiteren Ausbau schon vorhandener geregelt werden sollen. Und da das Leben die Erfahrung allmählich mehrt oder selber verwickeltere Formen annimmt, entdeckt der römische Scharfsinn nach und nach innerhalb der einzelnen Gattungen die »Arten«. »In Betreff feiner durchdachter Rechtsbegriffe ist das römische Recht der immerwährende Lehrmeister für die civilisierte Welt und wird es bleiben«, sagt Professor Leist, also gerade der Mann, der mehr als irgend ein anderer gethan hat, um nachzuweisen, dass die Hochschulen den jetzigen einseitig römischen Standpunkt der Rechtsgeschichte aufgeben und römisches Recht als ein Glied in der Kette zu erkennen lehren sollten, als eine der Stufen, »die der arische Geist in der Klärung der Rechtsbegriffe erstiegen hat«. Je genauer man die zahlreichen Versuche zu einer Rechtsbildung vor und neben dem römischen studiert, um so mehr sieht man eben die unvergleichlichen Verdienste des römischen ein und lernt erkennen, dass es nicht vom Himmel fiel, sondern von prächtigen, wackeren 1) Vergl. Leist: Gräco-ital. Rechtsgeschichte, S. 694, und für das folgende Citat S. 682.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/188>, abgerufen am 24.11.2024.