Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Römisches Recht. klassische Autorität, den die Juden als Landsmann beanspruchen, undvon dem die Geschichtswerke berichten, er sei "nicht tief, aber sehr beliebt" gewesen, giebt eine minder extravagante, aber ebenso wenig stichhaltige Definition des Naturrechtes: er identifiziert es mit dem sogenannten jus gentium, d. h. mit dem aus den Rechten der ver- schiedenen Völker der römischen Provinzen entstandenen "gemein- samen Recht"; in zweideutigen Worten setzt er auseinander, dieses Recht sei "allen Völkern der Erde" gemeinsam: eine haarsträubende Behauptung, da das jus gentium ebenso das Werk Roms ist, wie dessen eigenes jus civile und nur das Ergebnis der ordnenden Thätig- keit römischer Jurisprudenz inmitten des Wirrwarrs widersprechender und widerstreitender Rechte darstellt. 1) Gerade das Dasein des jus gentium neben und im Gegensatz zu dem römischen jus civile, sowie die bunte Entstehungsgeschichte dieses "Rechts der Völker" hätte dem blödesten Auge zeigen müssen, dass es nicht ein Recht giebt, sondern viele; auch dass das Recht nicht eine Entität ist, die wissen- schaftlich erforscht wird, sondern ein Erzeugnis der menschlichen Geschicklichkeit, welches in sehr verschiedener Weise aufgefasst und durchgeführt werden kann. Das natürliche Recht spukt aber in den meisten Köpfen lustig weiter; so fern auseinandergehende Rechts- theoretiker wie Hobbes und Rousseau z. B. finden sich in dieser einen Annahme zusammen; das Höchste leistete der berühmte Hugo Grotius mit seiner Einteilung in natürliches, historisches und gött- liches Recht, bei welcher man sich fragt, ob denn das göttliche Recht ein unnatürliches sei? oder das natürliche ein Werk des Teufels? Man musste den leuchtenden Geist und die freiheitliebende Keckheit eines Voltaire besitzen, um schreiben zu dürfen: "rien ne contribue peut- etre plus a rendre un esprit faux, obscur, confus, incertain, que la lecture de Grotius et de Puffendorf". 2) Im unserem Jahrhundert jedoch ist man dem blassen Gedankending scharf auf den Leib ge- rückt; die Historiker des Rechtes und mit ihnen der geniale Theoretiker Jhering haben ihm den Garaus gemacht. Hierzu genügt aber eben- falls die blosse Einsicht, dass das Recht eine Technik ist. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, begreift man nämlich: 1) Siehe S. 138. 2) Dictionnaire philosophique. Auch J. J. Rousseau nennt Grotius: "un enfant, et, que pis est, un enfant de mauvaise foi". (Emile V.) Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 11
Römisches Recht. klassische Autorität, den die Juden als Landsmann beanspruchen, undvon dem die Geschichtswerke berichten, er sei »nicht tief, aber sehr beliebt« gewesen, giebt eine minder extravagante, aber ebenso wenig stichhaltige Definition des Naturrechtes: er identifiziert es mit dem sogenannten jus gentium, d. h. mit dem aus den Rechten der ver- schiedenen Völker der römischen Provinzen entstandenen »gemein- samen Recht«; in zweideutigen Worten setzt er auseinander, dieses Recht sei »allen Völkern der Erde« gemeinsam: eine haarsträubende Behauptung, da das jus gentium ebenso das Werk Roms ist, wie dessen eigenes jus civile und nur das Ergebnis der ordnenden Thätig- keit römischer Jurisprudenz inmitten des Wirrwarrs widersprechender und widerstreitender Rechte darstellt. 1) Gerade das Dasein des jus gentium neben und im Gegensatz zu dem römischen jus civile, sowie die bunte Entstehungsgeschichte dieses »Rechts der Völker« hätte dem blödesten Auge zeigen müssen, dass es nicht ein Recht giebt, sondern viele; auch dass das Recht nicht eine Entität ist, die wissen- schaftlich erforscht wird, sondern ein Erzeugnis der menschlichen Geschicklichkeit, welches in sehr verschiedener Weise aufgefasst und durchgeführt werden kann. Das natürliche Recht spukt aber in den meisten Köpfen lustig weiter; so fern auseinandergehende Rechts- theoretiker wie Hobbes und Rousseau z. B. finden sich in dieser einen Annahme zusammen; das Höchste leistete der berühmte Hugo Grotius mit seiner Einteilung in natürliches, historisches und gött- liches Recht, bei welcher man sich fragt, ob denn das göttliche Recht ein unnatürliches sei? oder das natürliche ein Werk des Teufels? Man musste den leuchtenden Geist und die freiheitliebende Keckheit eines Voltaire besitzen, um schreiben zu dürfen: „rien ne contribue peut- être plus à rendre un esprit faux, obscur, confus, incertain, que la lecture de Grotius et de Puffendorf‟. 2) Im unserem Jahrhundert jedoch ist man dem blassen Gedankending scharf auf den Leib ge- rückt; die Historiker des Rechtes und mit ihnen der geniale Theoretiker Jhering haben ihm den Garaus gemacht. Hierzu genügt aber eben- falls die blosse Einsicht, dass das Recht eine Technik ist. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, begreift man nämlich: 1) Siehe S. 138. 2) Dictionnaire philosophique. Auch J. J. Rousseau nennt Grotius: »un enfant, et, que pis est, un enfant de mauvaise foi«. (Emile V.) Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 11
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Römisches Recht.
klassische Autorität, den die Juden als Landsmann beanspruchen, und
von dem die Geschichtswerke berichten, er sei »nicht tief, aber sehr
beliebt« gewesen, giebt eine minder extravagante, aber ebenso wenig
stichhaltige Definition des Naturrechtes: er identifiziert es mit dem
sogenannten jus gentium, d. h. mit dem aus den Rechten der ver-
schiedenen Völker der römischen Provinzen entstandenen »gemein-
samen Recht«; in zweideutigen Worten setzt er auseinander, dieses
Recht sei »allen Völkern der Erde« gemeinsam: eine haarsträubende
Behauptung, da das jus gentium ebenso das Werk Roms ist, wie
dessen eigenes jus civile und nur das Ergebnis der ordnenden Thätig-
keit römischer Jurisprudenz inmitten des Wirrwarrs widersprechender
und widerstreitender Rechte darstellt. 1) Gerade das Dasein des jus
gentium neben und im Gegensatz zu dem römischen jus civile, sowie
die bunte Entstehungsgeschichte dieses »Rechts der Völker« hätte
dem blödesten Auge zeigen müssen, dass es nicht ein Recht giebt,
sondern viele; auch dass das Recht nicht eine Entität ist, die wissen-
schaftlich erforscht wird, sondern ein Erzeugnis der menschlichen
Geschicklichkeit, welches in sehr verschiedener Weise aufgefasst und
durchgeführt werden kann. Das natürliche Recht spukt aber in den
meisten Köpfen lustig weiter; so fern auseinandergehende Rechts-
theoretiker wie Hobbes und Rousseau z. B. finden sich in dieser
einen Annahme zusammen; das Höchste leistete der berühmte Hugo
Grotius mit seiner Einteilung in natürliches, historisches und gött-
liches Recht, bei welcher man sich fragt, ob denn das göttliche Recht
ein unnatürliches sei? oder das natürliche ein Werk des Teufels? Man
musste den leuchtenden Geist und die freiheitliebende Keckheit eines
Voltaire besitzen, um schreiben zu dürfen: „rien ne contribue peut-
être plus à rendre un esprit faux, obscur, confus, incertain, que la
lecture de Grotius et de Puffendorf‟. 2) Im unserem Jahrhundert
jedoch ist man dem blassen Gedankending scharf auf den Leib ge-
rückt; die Historiker des Rechtes und mit ihnen der geniale Theoretiker
Jhering haben ihm den Garaus gemacht. Hierzu genügt aber eben-
falls die blosse Einsicht, dass das Recht eine Technik ist.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, begreift man nämlich:
dass in Wahrheit der Begriff »Naturrecht« (jus naturae) eine flagrante
contradictio in adjecto enthält. Sobald es zwischen Menschen ein recht-
1) Siehe S. 138.
2) Dictionnaire philosophique. Auch J. J. Rousseau nennt Grotius: »un enfant,
et, que pis est, un enfant de mauvaise foi«. (Emile V.)
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