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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
ideale Kraft die Stadt Rom und mit ihr Europa geschaffen hatte. Das
politische Recht war freilich nunmehr für alle gleich geworden; es
war die Gleichheit der absoluten Rechtlosigkeit. Das Wort civis
(Bürger) wich jetzt dem Ausdruck subjectus (Unterthan): umso be-
merkenswerter, als allen Zweigen der Indoeuropäer der Begriff des
Unterthanenseins ebenso fremd war, wie der des Grosskönigtums, so
dass wir schon in dieser einen Umwandlung des Rechtsbegriffes den
unwiderlegbaren Beweis semitischen Einflusses besitzen (nach Leist:
Gräco-italische Rechtsgeschichte, S. 106 u. 108). Der römische Ge-
danke bestand allerdings noch immer, er hatte sich aber in einer
einzigen Person, dem Kaiser, konzentriert -- oder, wenn man will,
sich in sie verflüchtigt; die Privilegien Roms und ihre Machtvoll-
kommenheiten waren nicht etwa aus der Welt entschwunden, sie
waren aber alle auf einen einzigen Mann übergegangen: das ist der
Verlauf von Augustus bis Diocletian und Konstantin. Der erste Caesar
hatte sich begnügt, alle wichtigsten Staatsämter in seinen Händen zu.
vereinen1), und das war ihm nur zu einem bestimmten, zeitlich be-
schränkten Zweck bewilligt worden, zur Wiederherstellung der recht-
lichen Ordnung in der civilisierten Welt (restauratio orbis); innerhalb
dreier Jahrhunderte war man nun auf diesem Wege dahin gekommen,
nicht allein alle Ämter, sondern auch alle Rechte sämtlicher Bürger
einem einzigen zu verleihen. Wie schon in frühen Zeiten (bei dem.
ersten Nachfolger des Augustus) die Majestät vom Volk auf den einen
übergegangen war, so nach und nach alle und jede Gewalt, alles und
jedes Recht. Augustus hatte noch, wie jeder andere Bürger, in den
Komitien seine Stimme abgegeben; jetzt sitzt auf dem Thron ein
Monarch, dem man nur auf den Knieen "anbetend" nahen darf, und
vor ihm sind alle Menschen gleich, denn alle, vom ersten Staats-
minister bis zum letzten Bauern, sind seine Unterthanen. Und während
so der "Grosskönig" und mit ihm alles, was zu seinem Hofe gehörte,
an Reichtum und Würden immer höher stieg, sanken alle übrigen

1) Augustus war zugleich: 1. Princeps, das heisst erster Bürger, damals
eigentlich nur ein Ehrentitel, 2. Imperator, oberster Kriegsherr, 3. lebenslänglicher
Volkstribun, 4. Pontifex maximus, das höchste, religiöse, von jeher lebenslängliche
Amt, 5. zwar nicht lebenslänglicher Consul, doch im dauernden Besitz der kon-
sularischen Gewalt, 6. desgleichen der prokonsularischen, welche die Regierung
sämtlicher Provinzen umfasste, 7. desgleichen der censorischen, welche die
Sittenkontrolle und die Befugnis, Senatoren, Ritter u. s. w. zu ernennen und zu
kassieren, umfasste.

Das Erbe der alten Welt.
ideale Kraft die Stadt Rom und mit ihr Europa geschaffen hatte. Das
politische Recht war freilich nunmehr für alle gleich geworden; es
war die Gleichheit der absoluten Rechtlosigkeit. Das Wort civis
(Bürger) wich jetzt dem Ausdruck subjectus (Unterthan): umso be-
merkenswerter, als allen Zweigen der Indoeuropäer der Begriff des
Unterthanenseins ebenso fremd war, wie der des Grosskönigtums, so
dass wir schon in dieser einen Umwandlung des Rechtsbegriffes den
unwiderlegbaren Beweis semitischen Einflusses besitzen (nach Leist:
Gräco-italische Rechtsgeschichte, S. 106 u. 108). Der römische Ge-
danke bestand allerdings noch immer, er hatte sich aber in einer
einzigen Person, dem Kaiser, konzentriert — oder, wenn man will,
sich in sie verflüchtigt; die Privilegien Roms und ihre Machtvoll-
kommenheiten waren nicht etwa aus der Welt entschwunden, sie
waren aber alle auf einen einzigen Mann übergegangen: das ist der
Verlauf von Augustus bis Diocletian und Konstantin. Der erste Caesar
hatte sich begnügt, alle wichtigsten Staatsämter in seinen Händen zu.
vereinen1), und das war ihm nur zu einem bestimmten, zeitlich be-
schränkten Zweck bewilligt worden, zur Wiederherstellung der recht-
lichen Ordnung in der civilisierten Welt (restauratio orbis); innerhalb
dreier Jahrhunderte war man nun auf diesem Wege dahin gekommen,
nicht allein alle Ämter, sondern auch alle Rechte sämtlicher Bürger
einem einzigen zu verleihen. Wie schon in frühen Zeiten (bei dem.
ersten Nachfolger des Augustus) die Majestät vom Volk auf den einen
übergegangen war, so nach und nach alle und jede Gewalt, alles und
jedes Recht. Augustus hatte noch, wie jeder andere Bürger, in den
Komitien seine Stimme abgegeben; jetzt sitzt auf dem Thron ein
Monarch, dem man nur auf den Knieen »anbetend« nahen darf, und
vor ihm sind alle Menschen gleich, denn alle, vom ersten Staats-
minister bis zum letzten Bauern, sind seine Unterthanen. Und während
so der »Grosskönig« und mit ihm alles, was zu seinem Hofe gehörte,
an Reichtum und Würden immer höher stieg, sanken alle übrigen

1) Augustus war zugleich: 1. Princeps, das heisst erster Bürger, damals
eigentlich nur ein Ehrentitel, 2. Imperator, oberster Kriegsherr, 3. lebenslänglicher
Volkstribun, 4. Pontifex maximus, das höchste, religiöse, von jeher lebenslängliche
Amt, 5. zwar nicht lebenslänglicher Consul, doch im dauernden Besitz der kon-
sularischen Gewalt, 6. desgleichen der prokonsularischen, welche die Regierung
sämtlicher Provinzen umfasste, 7. desgleichen der censorischen, welche die
Sittenkontrolle und die Befugnis, Senatoren, Ritter u. s. w. zu ernennen und zu
kassieren, umfasste.
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[148/0171] Das Erbe der alten Welt. ideale Kraft die Stadt Rom und mit ihr Europa geschaffen hatte. Das politische Recht war freilich nunmehr für alle gleich geworden; es war die Gleichheit der absoluten Rechtlosigkeit. Das Wort civis (Bürger) wich jetzt dem Ausdruck subjectus (Unterthan): umso be- merkenswerter, als allen Zweigen der Indoeuropäer der Begriff des Unterthanenseins ebenso fremd war, wie der des Grosskönigtums, so dass wir schon in dieser einen Umwandlung des Rechtsbegriffes den unwiderlegbaren Beweis semitischen Einflusses besitzen (nach Leist: Gräco-italische Rechtsgeschichte, S. 106 u. 108). Der römische Ge- danke bestand allerdings noch immer, er hatte sich aber in einer einzigen Person, dem Kaiser, konzentriert — oder, wenn man will, sich in sie verflüchtigt; die Privilegien Roms und ihre Machtvoll- kommenheiten waren nicht etwa aus der Welt entschwunden, sie waren aber alle auf einen einzigen Mann übergegangen: das ist der Verlauf von Augustus bis Diocletian und Konstantin. Der erste Caesar hatte sich begnügt, alle wichtigsten Staatsämter in seinen Händen zu. vereinen 1), und das war ihm nur zu einem bestimmten, zeitlich be- schränkten Zweck bewilligt worden, zur Wiederherstellung der recht- lichen Ordnung in der civilisierten Welt (restauratio orbis); innerhalb dreier Jahrhunderte war man nun auf diesem Wege dahin gekommen, nicht allein alle Ämter, sondern auch alle Rechte sämtlicher Bürger einem einzigen zu verleihen. Wie schon in frühen Zeiten (bei dem. ersten Nachfolger des Augustus) die Majestät vom Volk auf den einen übergegangen war, so nach und nach alle und jede Gewalt, alles und jedes Recht. Augustus hatte noch, wie jeder andere Bürger, in den Komitien seine Stimme abgegeben; jetzt sitzt auf dem Thron ein Monarch, dem man nur auf den Knieen »anbetend« nahen darf, und vor ihm sind alle Menschen gleich, denn alle, vom ersten Staats- minister bis zum letzten Bauern, sind seine Unterthanen. Und während so der »Grosskönig« und mit ihm alles, was zu seinem Hofe gehörte, an Reichtum und Würden immer höher stieg, sanken alle übrigen 1) Augustus war zugleich: 1. Princeps, das heisst erster Bürger, damals eigentlich nur ein Ehrentitel, 2. Imperator, oberster Kriegsherr, 3. lebenslänglicher Volkstribun, 4. Pontifex maximus, das höchste, religiöse, von jeher lebenslängliche Amt, 5. zwar nicht lebenslänglicher Consul, doch im dauernden Besitz der kon- sularischen Gewalt, 6. desgleichen der prokonsularischen, welche die Regierung sämtlicher Provinzen umfasste, 7. desgleichen der censorischen, welche die Sittenkontrolle und die Befugnis, Senatoren, Ritter u. s. w. zu ernennen und zu kassieren, umfasste.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/171>, abgerufen am 24.11.2024.