wusste, durchaus nur den praktischen Lebensinteressen zugewandte Volk. Sobald Einer über dieses Mass hinaus wollte, wurde er, not- gedrungen, Verbrecher am Gemeinwesen.
Rom, ich wiederhole es, denn dies ist die Grunderkenntnis, aus der jede andere erst entfliesst, Rom ist nicht die Schöpfung einzelner Männer, sondern eines ganzen Volkes; im Gegensatz zu Hellas ist hier alles wahrhaft Grosse "anonym"; keiner seiner grossen Männer ragt an die Grösse des gesamten römischen Volkes heran. Sehr richtig und beherzigenswert ist darum, was Cicero sagt (Republik, II, 1): "Aus folgendem Grunde ist die Verfassung unseres Staates anderen Staaten überlegen: anderwärts waren es einzelne Männer, welche durch Gesetze und Institute die Staatsordnung begründeten, wie z. B. auf Kreta Minos, in Lakedämonien Lykurg, in Athen (wo gar häufiger Wechsel stattfand) das eine Mal Theseus, das andere Mal Drako, dann wieder Solon, Kleisthenes und noch viele andere; dagegen gründet sich unser römisches Gemeinwesen auf das Genie nicht eines einzelnen Mannes, sondern vieler Männer, noch genügte zu seiner Errichtung die Spanne eines flüchtigen Menschenlebens, sondern es ist das Werk von Jahrhunderten und von aufeinander folgenden Gene- rationen." Selbst der Feldherr brauchte in Rom nur die Tugenden, die seine ganze Armee besass, frei gewähren zu lassen -- Geduld, Ausdauer, Selbstlosigkeit, Todesverachtung, den praktischen Sinn, vor allem das hohe Bewusstsein der staatlichen Verantwortlichkeit -- und er war des Sieges sicher, wenn nicht heute, dann morgen. Ebenso wie die Truppen aus Bürgern bestanden, waren ihre Befehls- haber Magistrate, die nur vorübergehend das Amt eines Administrators oder eines Gesetzberaters und Rechtssprechers mit dem eines Feld- herrn vertauschten; im allgemeinen machte es auch wenig Unterschied, wenn im regelmässigen Wechsel der Ämter der eine Beamte den anderen im Kommando ablöste; der Begriff "Soldat" kam erst in der Zeit des Verfalles auf. Nicht als Abenteurer, als die sesshaftesten aller Bürger und Bauern haben die Römer die Welt erobert.
Römische Ideale.
Ja, hier drängt sich die Frage auf: ist es überhaupt zulässig, bei den Römern von "Eroberern" zu reden? Ich glaube kaum. Er- oberer waren die Germanen, die Araber, die Türken; die Römer dagegen, von dem Tag an, wo sie in die Geschichte als individuell gesonderte Nation eintreten, zeichnen sich durch ihre fanatische, warmherzige und wenn man will, engherzige Liebe für ihr Vaterland aus; sie sind an diesen Fleck Erde -- kein hervorragend gesunder,
Das Erbe der alten Welt.
wusste, durchaus nur den praktischen Lebensinteressen zugewandte Volk. Sobald Einer über dieses Mass hinaus wollte, wurde er, not- gedrungen, Verbrecher am Gemeinwesen.
Rom, ich wiederhole es, denn dies ist die Grunderkenntnis, aus der jede andere erst entfliesst, Rom ist nicht die Schöpfung einzelner Männer, sondern eines ganzen Volkes; im Gegensatz zu Hellas ist hier alles wahrhaft Grosse »anonym«; keiner seiner grossen Männer ragt an die Grösse des gesamten römischen Volkes heran. Sehr richtig und beherzigenswert ist darum, was Cicero sagt (Republik, II, 1): »Aus folgendem Grunde ist die Verfassung unseres Staates anderen Staaten überlegen: anderwärts waren es einzelne Männer, welche durch Gesetze und Institute die Staatsordnung begründeten, wie z. B. auf Kreta Minos, in Lakedämonien Lykurg, in Athen (wo gar häufiger Wechsel stattfand) das eine Mal Theseus, das andere Mal Drako, dann wieder Solon, Kleisthenes und noch viele andere; dagegen gründet sich unser römisches Gemeinwesen auf das Genie nicht eines einzelnen Mannes, sondern vieler Männer, noch genügte zu seiner Errichtung die Spanne eines flüchtigen Menschenlebens, sondern es ist das Werk von Jahrhunderten und von aufeinander folgenden Gene- rationen.« Selbst der Feldherr brauchte in Rom nur die Tugenden, die seine ganze Armee besass, frei gewähren zu lassen — Geduld, Ausdauer, Selbstlosigkeit, Todesverachtung, den praktischen Sinn, vor allem das hohe Bewusstsein der staatlichen Verantwortlichkeit — und er war des Sieges sicher, wenn nicht heute, dann morgen. Ebenso wie die Truppen aus Bürgern bestanden, waren ihre Befehls- haber Magistrate, die nur vorübergehend das Amt eines Administrators oder eines Gesetzberaters und Rechtssprechers mit dem eines Feld- herrn vertauschten; im allgemeinen machte es auch wenig Unterschied, wenn im regelmässigen Wechsel der Ämter der eine Beamte den anderen im Kommando ablöste; der Begriff »Soldat« kam erst in der Zeit des Verfalles auf. Nicht als Abenteurer, als die sesshaftesten aller Bürger und Bauern haben die Römer die Welt erobert.
Römische Ideale.
Ja, hier drängt sich die Frage auf: ist es überhaupt zulässig, bei den Römern von »Eroberern« zu reden? Ich glaube kaum. Er- oberer waren die Germanen, die Araber, die Türken; die Römer dagegen, von dem Tag an, wo sie in die Geschichte als individuell gesonderte Nation eintreten, zeichnen sich durch ihre fanatische, warmherzige und wenn man will, engherzige Liebe für ihr Vaterland aus; sie sind an diesen Fleck Erde — kein hervorragend gesunder,
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Das Erbe der alten Welt.
wusste, durchaus nur den praktischen Lebensinteressen zugewandte
Volk. Sobald Einer über dieses Mass hinaus wollte, wurde er, not-
gedrungen, Verbrecher am Gemeinwesen.
Rom, ich wiederhole es, denn dies ist die Grunderkenntnis, aus
der jede andere erst entfliesst, Rom ist nicht die Schöpfung einzelner
Männer, sondern eines ganzen Volkes; im Gegensatz zu Hellas ist
hier alles wahrhaft Grosse »anonym«; keiner seiner grossen Männer
ragt an die Grösse des gesamten römischen Volkes heran. Sehr
richtig und beherzigenswert ist darum, was Cicero sagt (Republik, II, 1):
»Aus folgendem Grunde ist die Verfassung unseres Staates anderen
Staaten überlegen: anderwärts waren es einzelne Männer, welche
durch Gesetze und Institute die Staatsordnung begründeten, wie z. B.
auf Kreta Minos, in Lakedämonien Lykurg, in Athen (wo gar häufiger
Wechsel stattfand) das eine Mal Theseus, das andere Mal Drako,
dann wieder Solon, Kleisthenes und noch viele andere; dagegen
gründet sich unser römisches Gemeinwesen auf das Genie nicht eines
einzelnen Mannes, sondern vieler Männer, noch genügte zu seiner
Errichtung die Spanne eines flüchtigen Menschenlebens, sondern es ist
das Werk von Jahrhunderten und von aufeinander folgenden Gene-
rationen.« Selbst der Feldherr brauchte in Rom nur die Tugenden,
die seine ganze Armee besass, frei gewähren zu lassen — Geduld,
Ausdauer, Selbstlosigkeit, Todesverachtung, den praktischen Sinn, vor
allem das hohe Bewusstsein der staatlichen Verantwortlichkeit —
und er war des Sieges sicher, wenn nicht heute, dann morgen.
Ebenso wie die Truppen aus Bürgern bestanden, waren ihre Befehls-
haber Magistrate, die nur vorübergehend das Amt eines Administrators
oder eines Gesetzberaters und Rechtssprechers mit dem eines Feld-
herrn vertauschten; im allgemeinen machte es auch wenig Unterschied,
wenn im regelmässigen Wechsel der Ämter der eine Beamte den
anderen im Kommando ablöste; der Begriff »Soldat« kam erst in der
Zeit des Verfalles auf. Nicht als Abenteurer, als die sesshaftesten aller
Bürger und Bauern haben die Römer die Welt erobert.
Ja, hier drängt sich die Frage auf: ist es überhaupt zulässig,
bei den Römern von »Eroberern« zu reden? Ich glaube kaum. Er-
oberer waren die Germanen, die Araber, die Türken; die Römer
dagegen, von dem Tag an, wo sie in die Geschichte als individuell
gesonderte Nation eintreten, zeichnen sich durch ihre fanatische,
warmherzige und wenn man will, engherzige Liebe für ihr Vaterland
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/153>, abgerufen am 22.11.2024.
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