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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Römisches Recht.
umso nötiger, als wir sowohl vom römischen Staatsgedanken als vom
römischen Privatrecht gar Vieles noch heute Wirksame geerbt haben,
-- ganz abgesehen von den durch den römischen Staatsgedanken that-
sächlich geschaffenen, politischen Verhältnissen, denen wir Europäer
die Möglichkeit unseres Daseins als gesittete Nationen überhaupt ver-
danken. Daher mag es zweckmässig sein, uns zuerst zu fragen: was
für ein Volk war dieses römische? was hat es als Gesamterscheinung
für die Geschichte zu bedeuten? Es kann sich hier nur um einen
flüchtigsten Umriss handeln; er wird aber hoffentlich genügen, um
uns eine klare Vorstellung von dem politischen Wirken dieses grossen
Volkes in seinen Hauptlinien zu geben, zugleich um die etwas ver-
wickelte Natur der auf unser Jahrhundert überkommenen, politischen
und staatsrechtlichen Erbschaft deutlich zu kennzeichnen. Dann erst
wird eine Betrachtung unserer privatrechtlichen Erbschaft durchführbar
und nützlich sein.

Man sollte meinen, da die lateinische Sprache und die GeschichteRömische
Geschichte.

Roms eine so grosse Rolle in unseren Schulen spielen, müsse jeder
gebildete Mann wenigstens eine deutliche Gesamtvorstellung von dem
Werden und Schaffen des römischen Volkes besitzen. Das ist aber
nicht der Fall, ist auch nach den üblichen Unterrichtsmethoden gar
nicht möglich. Zwar ist jeder Gebildete in der römischen Geschichte
bis zu einem gewissen Grade zu Hause: der sagenhafte Romulus, Numa
Pompilius, Brutus, die Horatier und die Curatier, die Gracchen,
Marius, Sulla, Caesar, Pompejus, Trajan, Diocletian und unzählige
Andere, sie alle sind uns mindestens ebenso vertraut (d. h. dem Namen
und den Daten nach), wie unsere eigenen grossen Männer; ein Jüng-
ling, der über den zweiten punischen Krieg nicht Auskunft geben
könnte, oder der die verschiedenen Scipione untereinander verwechselte,
stünde ebenso beschämt da, als wenn er die Vorzüge der römischen
Legiones und Manipuli vor der makedonischen Phalanx nicht aus-
einanderzusetzen vermöchte. Man muss auch zugeben, die römische
Geschichte in der üblichen Darstellung ist ein ungemein reichhaltiges
Magazin interessanter Anekdoten; aus ihrer Kenntnis ergiebt sich jedoch
ein einseitiges und durchaus mangelhaftes Verständnis. Fast gewinnt
die gesamte Geschichte Roms den Anschein eines grossen und grau-
samen Sports, gespielt von Politikern und Feldherren, die zum Zeit-
vertreib die Welt erobern, wobei sie in der Kunst der systematischen
Unterdrückung der fremden Völker und der Aufhetzung des eigenen

Römisches Recht.
umso nötiger, als wir sowohl vom römischen Staatsgedanken als vom
römischen Privatrecht gar Vieles noch heute Wirksame geerbt haben,
— ganz abgesehen von den durch den römischen Staatsgedanken that-
sächlich geschaffenen, politischen Verhältnissen, denen wir Europäer
die Möglichkeit unseres Daseins als gesittete Nationen überhaupt ver-
danken. Daher mag es zweckmässig sein, uns zuerst zu fragen: was
für ein Volk war dieses römische? was hat es als Gesamterscheinung
für die Geschichte zu bedeuten? Es kann sich hier nur um einen
flüchtigsten Umriss handeln; er wird aber hoffentlich genügen, um
uns eine klare Vorstellung von dem politischen Wirken dieses grossen
Volkes in seinen Hauptlinien zu geben, zugleich um die etwas ver-
wickelte Natur der auf unser Jahrhundert überkommenen, politischen
und staatsrechtlichen Erbschaft deutlich zu kennzeichnen. Dann erst
wird eine Betrachtung unserer privatrechtlichen Erbschaft durchführbar
und nützlich sein.

Man sollte meinen, da die lateinische Sprache und die GeschichteRömische
Geschichte.

Roms eine so grosse Rolle in unseren Schulen spielen, müsse jeder
gebildete Mann wenigstens eine deutliche Gesamtvorstellung von dem
Werden und Schaffen des römischen Volkes besitzen. Das ist aber
nicht der Fall, ist auch nach den üblichen Unterrichtsmethoden gar
nicht möglich. Zwar ist jeder Gebildete in der römischen Geschichte
bis zu einem gewissen Grade zu Hause: der sagenhafte Romulus, Numa
Pompilius, Brutus, die Horatier und die Curatier, die Gracchen,
Marius, Sulla, Caesar, Pompejus, Trajan, Diocletian und unzählige
Andere, sie alle sind uns mindestens ebenso vertraut (d. h. dem Namen
und den Daten nach), wie unsere eigenen grossen Männer; ein Jüng-
ling, der über den zweiten punischen Krieg nicht Auskunft geben
könnte, oder der die verschiedenen Scipione untereinander verwechselte,
stünde ebenso beschämt da, als wenn er die Vorzüge der römischen
Legiones und Manipuli vor der makedonischen Phalanx nicht aus-
einanderzusetzen vermöchte. Man muss auch zugeben, die römische
Geschichte in der üblichen Darstellung ist ein ungemein reichhaltiges
Magazin interessanter Anekdoten; aus ihrer Kenntnis ergiebt sich jedoch
ein einseitiges und durchaus mangelhaftes Verständnis. Fast gewinnt
die gesamte Geschichte Roms den Anschein eines grossen und grau-
samen Sports, gespielt von Politikern und Feldherren, die zum Zeit-
vertreib die Welt erobern, wobei sie in der Kunst der systematischen
Unterdrückung der fremden Völker und der Aufhetzung des eigenen

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[123/0146] Römisches Recht. umso nötiger, als wir sowohl vom römischen Staatsgedanken als vom römischen Privatrecht gar Vieles noch heute Wirksame geerbt haben, — ganz abgesehen von den durch den römischen Staatsgedanken that- sächlich geschaffenen, politischen Verhältnissen, denen wir Europäer die Möglichkeit unseres Daseins als gesittete Nationen überhaupt ver- danken. Daher mag es zweckmässig sein, uns zuerst zu fragen: was für ein Volk war dieses römische? was hat es als Gesamterscheinung für die Geschichte zu bedeuten? Es kann sich hier nur um einen flüchtigsten Umriss handeln; er wird aber hoffentlich genügen, um uns eine klare Vorstellung von dem politischen Wirken dieses grossen Volkes in seinen Hauptlinien zu geben, zugleich um die etwas ver- wickelte Natur der auf unser Jahrhundert überkommenen, politischen und staatsrechtlichen Erbschaft deutlich zu kennzeichnen. Dann erst wird eine Betrachtung unserer privatrechtlichen Erbschaft durchführbar und nützlich sein. Man sollte meinen, da die lateinische Sprache und die Geschichte Roms eine so grosse Rolle in unseren Schulen spielen, müsse jeder gebildete Mann wenigstens eine deutliche Gesamtvorstellung von dem Werden und Schaffen des römischen Volkes besitzen. Das ist aber nicht der Fall, ist auch nach den üblichen Unterrichtsmethoden gar nicht möglich. Zwar ist jeder Gebildete in der römischen Geschichte bis zu einem gewissen Grade zu Hause: der sagenhafte Romulus, Numa Pompilius, Brutus, die Horatier und die Curatier, die Gracchen, Marius, Sulla, Caesar, Pompejus, Trajan, Diocletian und unzählige Andere, sie alle sind uns mindestens ebenso vertraut (d. h. dem Namen und den Daten nach), wie unsere eigenen grossen Männer; ein Jüng- ling, der über den zweiten punischen Krieg nicht Auskunft geben könnte, oder der die verschiedenen Scipione untereinander verwechselte, stünde ebenso beschämt da, als wenn er die Vorzüge der römischen Legiones und Manipuli vor der makedonischen Phalanx nicht aus- einanderzusetzen vermöchte. Man muss auch zugeben, die römische Geschichte in der üblichen Darstellung ist ein ungemein reichhaltiges Magazin interessanter Anekdoten; aus ihrer Kenntnis ergiebt sich jedoch ein einseitiges und durchaus mangelhaftes Verständnis. Fast gewinnt die gesamte Geschichte Roms den Anschein eines grossen und grau- samen Sports, gespielt von Politikern und Feldherren, die zum Zeit- vertreib die Welt erobern, wobei sie in der Kunst der systematischen Unterdrückung der fremden Völker und der Aufhetzung des eigenen Römische Geschichte.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/146>, abgerufen am 22.11.2024.