Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. kurz darauf hindeuten, dass wir in der Person des grossen Leonardoda Vinci ein unserem heutigen Denken und Fühlen nahe verwandtes Beispiel der tiefen Kluft besitzen, welche poetische Erkenntnis von abstrakter Erkenntnis trennt, Religion von theologisierender Philo- sophie. Leonardo brandmarkt die Geisteswissenschaften als "lüg- nerische" (le bugiarde scientie mentali); "alles Wissen", sagt er, "ist eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung, der Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird"; besonders zuwider sind ihm die Dispute und Nachweise über die Wesenheit Gottes und der Seele; er meint, gegen diese Vorstellungen "lehnen sich unsere Sinne auf", deswegen sollen wir uns nicht bethören lassen: "wo Vernunftsgründe und klares Recht fehlen, vertritt Geschrei deren Stelle; bei sicheren Dingen kommt dies dagegen nicht vor"; und somit gelangt er zum Schluss: "dove si grida non e vera scientia", wo man Geschrei macht, da ist kein wahrhaftiges Wissen. (Libro di pittura, 1. Teil, Abschnitt 33, Ausgabe von Heinrich Ludwig.) Das ist Leonardo's Theologie! Dieser selbe Mann ist es jedoch, der -- wohl einzig unter allen, die grössten nicht ausgenommen -- einen Christus malt, der einer Offenbarung gleichkommt, "ganz Gott und zugleich ganz Mensch" (wie es im Athanasischen Glaubensbekenntnis heisst). Hier liegt tiefe Wesensverwandtschaft mit Homer vor: alles Wissen aus Sinneserfahrung geschöpft, und hieraus dann das Göttliche nicht durch Vernunftserwägungen nachgewiesen, sondern unter Zu- grundelegung des Volksglaubens freischöpferisch gestaltet: ein ewig Wahres. Gerade diese Anlage war nun in Griechenland, dank be- sonderen Umständen und besonderen Begabungen, dank vor allem dem Auftreten der einzig Leben spendenden grossen Genies zu einer so intensiven Ausbildung gelangt, dass die Erfahrungswissenschaften (wie später bei uns durch Leonardo) eine noch niemals früher dagewesene Anregung erhielten, wogegen die Reaktion der philosophierenden Abstraktion sich niemals frei und natürlich zu entwickeln vermochte, sondern entweder in Scholasticismus oder in Phantasterei verfiel. Der hellenische Künstler erwachte zum Leben in einem Element, welches ihm zugleich persönliche Freiheit und das erhebende Be- wusstsein, von Allen verstanden zu werden, schenkte; der hellenische Philosoph (sobald er den Weg der logischen Abstraktion wandelte) nicht; dieser war im Gegenteil von allen Seiten gehemmt, äusserlich durch Sitte, Glauben und Staatseinrichtungen, innerlich durch seine ganze eigene, vorwiegend künstlerische Bildung, durch alles was ihn Das Erbe der alten Welt. kurz darauf hindeuten, dass wir in der Person des grossen Leonardoda Vinci ein unserem heutigen Denken und Fühlen nahe verwandtes Beispiel der tiefen Kluft besitzen, welche poetische Erkenntnis von abstrakter Erkenntnis trennt, Religion von theologisierender Philo- sophie. Leonardo brandmarkt die Geisteswissenschaften als »lüg- nerische« (le bugiarde scientie mentali); »alles Wissen«, sagt er, »ist eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung, der Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird«; besonders zuwider sind ihm die Dispute und Nachweise über die Wesenheit Gottes und der Seele; er meint, gegen diese Vorstellungen »lehnen sich unsere Sinne auf«, deswegen sollen wir uns nicht bethören lassen: »wo Vernunftsgründe und klares Recht fehlen, vertritt Geschrei deren Stelle; bei sicheren Dingen kommt dies dagegen nicht vor«; und somit gelangt er zum Schluss: »dove si grida non è vera scientia«, wo man Geschrei macht, da ist kein wahrhaftiges Wissen. (Libro di pittura, 1. Teil, Abschnitt 33, Ausgabe von Heinrich Ludwig.) Das ist Leonardo’s Theologie! Dieser selbe Mann ist es jedoch, der — wohl einzig unter allen, die grössten nicht ausgenommen — einen Christus malt, der einer Offenbarung gleichkommt, »ganz Gott und zugleich ganz Mensch« (wie es im Athanasischen Glaubensbekenntnis heisst). Hier liegt tiefe Wesensverwandtschaft mit Homer vor: alles Wissen aus Sinneserfahrung geschöpft, und hieraus dann das Göttliche nicht durch Vernunftserwägungen nachgewiesen, sondern unter Zu- grundelegung des Volksglaubens freischöpferisch gestaltet: ein ewig Wahres. Gerade diese Anlage war nun in Griechenland, dank be- sonderen Umständen und besonderen Begabungen, dank vor allem dem Auftreten der einzig Leben spendenden grossen Genies zu einer so intensiven Ausbildung gelangt, dass die Erfahrungswissenschaften (wie später bei uns durch Leonardo) eine noch niemals früher dagewesene Anregung erhielten, wogegen die Reaktion der philosophierenden Abstraktion sich niemals frei und natürlich zu entwickeln vermochte, sondern entweder in Scholasticismus oder in Phantasterei verfiel. Der hellenische Künstler erwachte zum Leben in einem Element, welches ihm zugleich persönliche Freiheit und das erhebende Be- wusstsein, von Allen verstanden zu werden, schenkte; der hellenische Philosoph (sobald er den Weg der logischen Abstraktion wandelte) nicht; dieser war im Gegenteil von allen Seiten gehemmt, äusserlich durch Sitte, Glauben und Staatseinrichtungen, innerlich durch seine ganze eigene, vorwiegend künstlerische Bildung, durch alles was ihn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0131" n="108"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/> kurz darauf hindeuten, dass wir in der Person des grossen Leonardo<lb/> da Vinci ein unserem heutigen Denken und Fühlen nahe verwandtes<lb/> Beispiel der tiefen Kluft besitzen, welche poetische Erkenntnis von<lb/> abstrakter Erkenntnis trennt, Religion von theologisierender Philo-<lb/> sophie. Leonardo brandmarkt die Geisteswissenschaften als »lüg-<lb/> nerische« (<hi rendition="#i">le bugiarde scientie mentali</hi>); »alles Wissen«, sagt er, »ist<lb/> eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung, der<lb/> Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird«; besonders zuwider<lb/> sind ihm die Dispute und Nachweise über die Wesenheit Gottes und<lb/> der Seele; er meint, gegen diese Vorstellungen »lehnen sich unsere<lb/> Sinne auf«, deswegen sollen wir uns nicht bethören lassen: »wo<lb/> Vernunftsgründe und klares Recht fehlen, vertritt Geschrei deren<lb/> Stelle; bei sicheren Dingen kommt dies dagegen nicht vor«; und<lb/> somit gelangt er zum Schluss: »dove si grida non è vera scientia«, wo<lb/> man Geschrei macht, da ist kein wahrhaftiges Wissen. (<hi rendition="#i">Libro di<lb/> pittura,</hi> 1. Teil, Abschnitt 33, Ausgabe von Heinrich Ludwig.) Das<lb/> ist Leonardo’s Theologie! Dieser selbe Mann ist es jedoch, der —<lb/> wohl einzig unter allen, die grössten nicht ausgenommen — einen<lb/> Christus malt, der einer Offenbarung gleichkommt, »ganz Gott und<lb/> zugleich ganz Mensch« (wie es im Athanasischen Glaubensbekenntnis<lb/> heisst). Hier liegt tiefe Wesensverwandtschaft mit Homer vor: alles<lb/> Wissen aus Sinneserfahrung geschöpft, und hieraus dann das Göttliche<lb/> nicht durch Vernunftserwägungen nachgewiesen, sondern unter Zu-<lb/> grundelegung des Volksglaubens freischöpferisch gestaltet: ein ewig<lb/> Wahres. Gerade diese Anlage war nun in Griechenland, dank be-<lb/> sonderen Umständen und besonderen Begabungen, dank vor allem dem<lb/> Auftreten der einzig Leben spendenden grossen Genies zu einer so<lb/> intensiven Ausbildung gelangt, dass die Erfahrungswissenschaften (wie<lb/> später bei uns durch Leonardo) eine noch niemals früher dagewesene<lb/> Anregung erhielten, wogegen die Reaktion der philosophierenden<lb/> Abstraktion sich niemals frei und natürlich zu entwickeln vermochte,<lb/> sondern entweder in Scholasticismus oder in Phantasterei verfiel.<lb/> Der hellenische Künstler erwachte zum Leben in einem Element,<lb/> welches ihm zugleich persönliche Freiheit und das erhebende Be-<lb/> wusstsein, von Allen verstanden zu werden, schenkte; der hellenische<lb/> Philosoph (sobald er den Weg der logischen Abstraktion wandelte)<lb/> nicht; dieser war im Gegenteil von allen Seiten gehemmt, äusserlich<lb/> durch Sitte, Glauben und Staatseinrichtungen, innerlich durch seine<lb/> ganze eigene, vorwiegend künstlerische Bildung, durch alles was ihn<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [108/0131]
Das Erbe der alten Welt.
kurz darauf hindeuten, dass wir in der Person des grossen Leonardo
da Vinci ein unserem heutigen Denken und Fühlen nahe verwandtes
Beispiel der tiefen Kluft besitzen, welche poetische Erkenntnis von
abstrakter Erkenntnis trennt, Religion von theologisierender Philo-
sophie. Leonardo brandmarkt die Geisteswissenschaften als »lüg-
nerische« (le bugiarde scientie mentali); »alles Wissen«, sagt er, »ist
eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung, der
Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird«; besonders zuwider
sind ihm die Dispute und Nachweise über die Wesenheit Gottes und
der Seele; er meint, gegen diese Vorstellungen »lehnen sich unsere
Sinne auf«, deswegen sollen wir uns nicht bethören lassen: »wo
Vernunftsgründe und klares Recht fehlen, vertritt Geschrei deren
Stelle; bei sicheren Dingen kommt dies dagegen nicht vor«; und
somit gelangt er zum Schluss: »dove si grida non è vera scientia«, wo
man Geschrei macht, da ist kein wahrhaftiges Wissen. (Libro di
pittura, 1. Teil, Abschnitt 33, Ausgabe von Heinrich Ludwig.) Das
ist Leonardo’s Theologie! Dieser selbe Mann ist es jedoch, der —
wohl einzig unter allen, die grössten nicht ausgenommen — einen
Christus malt, der einer Offenbarung gleichkommt, »ganz Gott und
zugleich ganz Mensch« (wie es im Athanasischen Glaubensbekenntnis
heisst). Hier liegt tiefe Wesensverwandtschaft mit Homer vor: alles
Wissen aus Sinneserfahrung geschöpft, und hieraus dann das Göttliche
nicht durch Vernunftserwägungen nachgewiesen, sondern unter Zu-
grundelegung des Volksglaubens freischöpferisch gestaltet: ein ewig
Wahres. Gerade diese Anlage war nun in Griechenland, dank be-
sonderen Umständen und besonderen Begabungen, dank vor allem dem
Auftreten der einzig Leben spendenden grossen Genies zu einer so
intensiven Ausbildung gelangt, dass die Erfahrungswissenschaften (wie
später bei uns durch Leonardo) eine noch niemals früher dagewesene
Anregung erhielten, wogegen die Reaktion der philosophierenden
Abstraktion sich niemals frei und natürlich zu entwickeln vermochte,
sondern entweder in Scholasticismus oder in Phantasterei verfiel.
Der hellenische Künstler erwachte zum Leben in einem Element,
welches ihm zugleich persönliche Freiheit und das erhebende Be-
wusstsein, von Allen verstanden zu werden, schenkte; der hellenische
Philosoph (sobald er den Weg der logischen Abstraktion wandelte)
nicht; dieser war im Gegenteil von allen Seiten gehemmt, äusserlich
durch Sitte, Glauben und Staatseinrichtungen, innerlich durch seine
ganze eigene, vorwiegend künstlerische Bildung, durch alles was ihn
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |