sage man, wo mehr Religion und wo mehr Aberglaube, wo freie, gesunde, schöpferische Menschenkraft und wo unfruchtbare, unsaubere, im Kreise sich herumdrehende Tretmühlerei anzutreffen ist. Und doch dünken uns die Männer, die in jenem homerischen Kreise stehen, kindlich fromm und abergläubisch, diese dagegen aufgeklärte Denker!1)
Metaphysik.
Nun muss man allerdings zwischen Philosophie und Philosophie unterscheiden, und ich glaube oben meiner Bewunderung für die hellenische Philosophie der grossen Epoche warmen Ausdruck ver- liehen zu haben, namentlich insofern sie als eine der Dichtkunst stammverwandte, schöpferische Bethätigung des Menschengeistes auftrat -- in welchem Bezug Plato's Ideenlehre und Demokrit's atomistische Hypothese alles überstrahlt, während Aristoteles mir als Analytiker und Methodiker unvergleichlich gross, als Philosoph aber, im ange- gebenen Sinne, der eigentliche Urheber der decadence des hellenischen Geistes erscheint. Hier wie anderwärts muss man sich jedoch vor zu weit gehender Vereinfachung hüten; man darf nicht einem einzigen Manne zuschreiben, was seinem Volke eigentümlich war und in ihm nur den bestimmtesten Ausdruck fand. In Wahrheit steckt in der griechischen Philosophie von allem Anfang an der Keim zu ihrer späteren verhängnisvollen Entwickelung; die Erbschaft, die noch immer schwer auf uns lastet, reicht fast bis auf die Zeit Homer's zurück. Denn die alten Hylozoisten zeigen sich, wohl überlegt, den Neoplatonikern stammverwandt: wer mit Thales die Welt so ohne Weiteres als aus dem Wasser entstanden "erklärt", der wird später auch Gott zu "erklären" wissen; sein nächster Nach- folger, Anaximander, stellt als Prinzip "das Unendliche" (das Apeiron), das "in allen Veränderungen Unveränderliche" auf: da stecken wir eigentlich schon im unverfälschten Scholasticismus mitten drin und können gelassen warten, bis das Rad der Zeit Ramon Lull und Thomas von Aquin auf der Erdoberfläche abgesetzt hat. Dass diese ältesten unter den bekannten griechischen Denkern an die Gegenwart zahlloser Dämonen glaubten, dabei aber von Anfang an2) über die
1) Bussell: The School of Plato, 1896, S. 345, schreibt von dieser philo- sophischen Periode: "Die Dämonen monopolisieren eine Andacht, die einer blossen Idee nicht gewidmet werden kann, und die Philosophie haucht ihre Seele aus an den Stufen rauchender Opferaltäre und unter den Beschwörungsformeln und Wahngebilden der Wahrsagung und der Zauberei".
2) Verbürgt wenigstens von Xenophanes und Heraklit an.
Das Erbe der alten Welt.
sage man, wo mehr Religion und wo mehr Aberglaube, wo freie, gesunde, schöpferische Menschenkraft und wo unfruchtbare, unsaubere, im Kreise sich herumdrehende Tretmühlerei anzutreffen ist. Und doch dünken uns die Männer, die in jenem homerischen Kreise stehen, kindlich fromm und abergläubisch, diese dagegen aufgeklärte Denker!1)
Metaphysik.
Nun muss man allerdings zwischen Philosophie und Philosophie unterscheiden, und ich glaube oben meiner Bewunderung für die hellenische Philosophie der grossen Epoche warmen Ausdruck ver- liehen zu haben, namentlich insofern sie als eine der Dichtkunst stammverwandte, schöpferische Bethätigung des Menschengeistes auftrat — in welchem Bezug Plato’s Ideenlehre und Demokrit’s atomistische Hypothese alles überstrahlt, während Aristoteles mir als Analytiker und Methodiker unvergleichlich gross, als Philosoph aber, im ange- gebenen Sinne, der eigentliche Urheber der décadence des hellenischen Geistes erscheint. Hier wie anderwärts muss man sich jedoch vor zu weit gehender Vereinfachung hüten; man darf nicht einem einzigen Manne zuschreiben, was seinem Volke eigentümlich war und in ihm nur den bestimmtesten Ausdruck fand. In Wahrheit steckt in der griechischen Philosophie von allem Anfang an der Keim zu ihrer späteren verhängnisvollen Entwickelung; die Erbschaft, die noch immer schwer auf uns lastet, reicht fast bis auf die Zeit Homer’s zurück. Denn die alten Hylozoisten zeigen sich, wohl überlegt, den Neoplatonikern stammverwandt: wer mit Thales die Welt so ohne Weiteres als aus dem Wasser entstanden »erklärt«, der wird später auch Gott zu »erklären« wissen; sein nächster Nach- folger, Anaximander, stellt als Prinzip »das Unendliche« (das Apeiron), das »in allen Veränderungen Unveränderliche« auf: da stecken wir eigentlich schon im unverfälschten Scholasticismus mitten drin und können gelassen warten, bis das Rad der Zeit Ramon Lull und Thomas von Aquin auf der Erdoberfläche abgesetzt hat. Dass diese ältesten unter den bekannten griechischen Denkern an die Gegenwart zahlloser Dämonen glaubten, dabei aber von Anfang an2) über die
1) Bussell: The School of Plato, 1896, S. 345, schreibt von dieser philo- sophischen Periode: »Die Dämonen monopolisieren eine Andacht, die einer blossen Idee nicht gewidmet werden kann, und die Philosophie haucht ihre Seele aus an den Stufen rauchender Opferaltäre und unter den Beschwörungsformeln und Wahngebilden der Wahrsagung und der Zauberei«.
2) Verbürgt wenigstens von Xenophanes und Heraklit an.
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Das Erbe der alten Welt.
sage man, wo mehr Religion und wo mehr Aberglaube, wo freie,
gesunde, schöpferische Menschenkraft und wo unfruchtbare, unsaubere,
im Kreise sich herumdrehende Tretmühlerei anzutreffen ist. Und
doch dünken uns die Männer, die in jenem homerischen Kreise
stehen, kindlich fromm und abergläubisch, diese dagegen aufgeklärte
Denker! 1)
Nun muss man allerdings zwischen Philosophie und Philosophie
unterscheiden, und ich glaube oben meiner Bewunderung für die
hellenische Philosophie der grossen Epoche warmen Ausdruck ver-
liehen zu haben, namentlich insofern sie als eine der Dichtkunst
stammverwandte, schöpferische Bethätigung des Menschengeistes auftrat
— in welchem Bezug Plato’s Ideenlehre und Demokrit’s atomistische
Hypothese alles überstrahlt, während Aristoteles mir als Analytiker
und Methodiker unvergleichlich gross, als Philosoph aber, im ange-
gebenen Sinne, der eigentliche Urheber der décadence des hellenischen
Geistes erscheint. Hier wie anderwärts muss man sich jedoch vor
zu weit gehender Vereinfachung hüten; man darf nicht einem
einzigen Manne zuschreiben, was seinem Volke eigentümlich war
und in ihm nur den bestimmtesten Ausdruck fand. In Wahrheit
steckt in der griechischen Philosophie von allem Anfang an der Keim
zu ihrer späteren verhängnisvollen Entwickelung; die Erbschaft, die
noch immer schwer auf uns lastet, reicht fast bis auf die Zeit
Homer’s zurück. Denn die alten Hylozoisten zeigen sich, wohl
überlegt, den Neoplatonikern stammverwandt: wer mit Thales die
Welt so ohne Weiteres als aus dem Wasser entstanden »erklärt«,
der wird später auch Gott zu »erklären« wissen; sein nächster Nach-
folger, Anaximander, stellt als Prinzip »das Unendliche« (das Apeiron),
das »in allen Veränderungen Unveränderliche« auf: da stecken wir
eigentlich schon im unverfälschten Scholasticismus mitten drin und
können gelassen warten, bis das Rad der Zeit Ramon Lull und
Thomas von Aquin auf der Erdoberfläche abgesetzt hat. Dass diese
ältesten unter den bekannten griechischen Denkern an die Gegenwart
zahlloser Dämonen glaubten, dabei aber von Anfang an 2) über die
1) Bussell: The School of Plato, 1896, S. 345, schreibt von dieser philo-
sophischen Periode: »Die Dämonen monopolisieren eine Andacht, die einer blossen
Idee nicht gewidmet werden kann, und die Philosophie haucht ihre Seele aus an
den Stufen rauchender Opferaltäre und unter den Beschwörungsformeln und
Wahngebilden der Wahrsagung und der Zauberei«.
2) Verbürgt wenigstens von Xenophanes und Heraklit an.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/129>, abgerufen am 27.07.2024.
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