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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
Hellenen) zum erstenmale die Seele vom Körper losgetrennt, jene selbe
Seele, über die dann Aristoteles aus der Stille seiner Studierstube so
viel Erbauliches zu melden wusste; in der dionysischen Verzücktheit
fühlte sich der Mensch eins mit den unsterblichen Göttern und folgerte
daraus, dass auch seine individuelle, menschliche Seele unsterblich sein
müsse, was dann wiederum später Aristoteles und andere scharfsinnig
zu begründen suchten.1) Mich dünkt, es wirbelt uns noch immer ein
wenig im Kopf herum! Trotzdem wollen wir versuchen, über diese
uns so zäh anhaftende Erbschaft ein wenig zur Besinnung zu kommen.

Zu diesem Seelenglauben hat die hellenische Dichtkunst als
solche nichts beigetragen; sie schickte sich ehrfurchsvoll in das
Übliche -- die feierliche Bestattung des Patroklos z. B., der vor der-
selben zur letzten Ruhe nicht eingehen konnte, die Vollführung der
nötigen Weiheakte durch Antigone an der Leiche ihres Bruders -- weiter
nichts. Dem Unsterblichkeitsglauben hat sie allerdings unbewusst Vor-
schub geleistet, indem sie die Götter zwar nicht als unerschaffen,
doch aber zu ihrer grösseren Verherrlichung als unsterblich auffassen
zu müssen glaubte -- was z. B. bei den arischen Indern nicht der
Fall war.2) Der Begriff der Sempiternität, d. h. der Unsterblich-

zu verwundern; es war altes Stammgut; sehr auffallend ist dagegen, dass der Hellene
in der Blütezeit seiner Kraft diesen Glauben verloren hatte, oder vielmehr sich
vollkommen indifferent dagegen verhielt. "Ein endloses Weiterleben der Seele
wird auf diesem (homerischen) Standpunkte weder behauptet noch geleugnet; dieser
Gedanke fällt hier überhaupt gar nicht in den Kreis der Betrachtung" (Rhode,
Psyche, S. 195). Eine merkwürdige Bestätigung von Schiller's Behauptung,
dass der ästhetische Mensch, d. h. Derjenige, in dem das Sinnliche und Moralische
einander nicht feindlich entgegen streben, "keine Unsterblichkeit brauche, um sich
zu stützen und zu halten" (Brief an Goethe vom 9. 7. 1796). Ob die Geten
Goten und folglich Germanen waren, wie Jakob Grimm behauptete, oder nicht,
kann uns hier gleichgültig sein; eine erschöpfende Diskussion dieser übrigens sehr
interessanten Frage findet man in Wietersheim-Dalm: Geschichte der Völker-
wanderung,
I, 597 fg.; das Ergebnis fällt gegen Grimm's Ansicht aus. -- Die Märe,
dass der Getenkönig Zalmoxis die Unsterblichkeitslehre von Pythagoras gelernt
habe, bezeichnet Rhode als "eine absurde pragmatisierende Fabel" (Psyche, S. 320).
1) Über diesen äusserst wichtigen Punkt, die Genese des Unsterblichkeits-
glaubens bei den Griechen betreffend, vergl. namentlich Rhode|: Psyche, S. 296.
2) Ich citierte schon oben (S. 71) ein altes Vedalied, nach welchem "die
Götter diesseits der Schöpfung entstanden sind"; in ihrer Eigenschaft als Indivi-
duen können sie aber nach indischer Überzeugung die "Sempiternität" ebenfalls
nicht besitzen, und Cankara sagt in den Vendanta-Sautra's, von den einzelnen
Göttern redend: "Solche Worte wie Indra u. s. w. bedeuten, ähnlich wie z. B. das
Wort ,General', nur das Innehaben eines bestimmten Postens. Wer also gerade

Hellenische Kunst und Philosophie.
Hellenen) zum erstenmale die Seele vom Körper losgetrennt, jene selbe
Seele, über die dann Aristoteles aus der Stille seiner Studierstube so
viel Erbauliches zu melden wusste; in der dionysischen Verzücktheit
fühlte sich der Mensch eins mit den unsterblichen Göttern und folgerte
daraus, dass auch seine individuelle, menschliche Seele unsterblich sein
müsse, was dann wiederum später Aristoteles und andere scharfsinnig
zu begründen suchten.1) Mich dünkt, es wirbelt uns noch immer ein
wenig im Kopf herum! Trotzdem wollen wir versuchen, über diese
uns so zäh anhaftende Erbschaft ein wenig zur Besinnung zu kommen.

Zu diesem Seelenglauben hat die hellenische Dichtkunst als
solche nichts beigetragen; sie schickte sich ehrfurchsvoll in das
Übliche — die feierliche Bestattung des Patroklos z. B., der vor der-
selben zur letzten Ruhe nicht eingehen konnte, die Vollführung der
nötigen Weiheakte durch Antigone an der Leiche ihres Bruders — weiter
nichts. Dem Unsterblichkeitsglauben hat sie allerdings unbewusst Vor-
schub geleistet, indem sie die Götter zwar nicht als unerschaffen,
doch aber zu ihrer grösseren Verherrlichung als unsterblich auffassen
zu müssen glaubte — was z. B. bei den arischen Indern nicht der
Fall war.2) Der Begriff der Sempiternität, d. h. der Unsterblich-

zu verwundern; es war altes Stammgut; sehr auffallend ist dagegen, dass der Hellene
in der Blütezeit seiner Kraft diesen Glauben verloren hatte, oder vielmehr sich
vollkommen indifferent dagegen verhielt. »Ein endloses Weiterleben der Seele
wird auf diesem (homerischen) Standpunkte weder behauptet noch geleugnet; dieser
Gedanke fällt hier überhaupt gar nicht in den Kreis der Betrachtung« (Rhode,
Psyche, S. 195). Eine merkwürdige Bestätigung von Schiller’s Behauptung,
dass der ästhetische Mensch, d. h. Derjenige, in dem das Sinnliche und Moralische
einander nicht feindlich entgegen streben, »keine Unsterblichkeit brauche, um sich
zu stützen und zu halten« (Brief an Goethe vom 9. 7. 1796). Ob die Geten
Goten und folglich Germanen waren, wie Jakob Grimm behauptete, oder nicht,
kann uns hier gleichgültig sein; eine erschöpfende Diskussion dieser übrigens sehr
interessanten Frage findet man in Wietersheim-Dalm: Geschichte der Völker-
wanderung,
I, 597 fg.; das Ergebnis fällt gegen Grimm’s Ansicht aus. — Die Märe,
dass der Getenkönig Zalmoxis die Unsterblichkeitslehre von Pythagoras gelernt
habe, bezeichnet Rhode als »eine absurde pragmatisierende Fabel« (Psyche, S. 320).
1) Über diesen äusserst wichtigen Punkt, die Genese des Unsterblichkeits-
glaubens bei den Griechen betreffend, vergl. namentlich Rhode|: Psyche, S. 296.
2) Ich citierte schon oben (S. 71) ein altes Vedalied, nach welchem »die
Götter diesseits der Schöpfung entstanden sind«; in ihrer Eigenschaft als Indivi-
duen können sie aber nach indischer Überzeugung die »Sempiternität« ebenfalls
nicht besitzen, und Çankara sagt in den Vendânta-Sûtra’s, von den einzelnen
Göttern redend: »Solche Worte wie Indra u. s. w. bedeuten, ähnlich wie z. B. das
Wort ‚General‛, nur das Innehaben eines bestimmten Postens. Wer also gerade
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[103/0126] Hellenische Kunst und Philosophie. Hellenen) zum erstenmale die Seele vom Körper losgetrennt, jene selbe Seele, über die dann Aristoteles aus der Stille seiner Studierstube so viel Erbauliches zu melden wusste; in der dionysischen Verzücktheit fühlte sich der Mensch eins mit den unsterblichen Göttern und folgerte daraus, dass auch seine individuelle, menschliche Seele unsterblich sein müsse, was dann wiederum später Aristoteles und andere scharfsinnig zu begründen suchten. 1) Mich dünkt, es wirbelt uns noch immer ein wenig im Kopf herum! Trotzdem wollen wir versuchen, über diese uns so zäh anhaftende Erbschaft ein wenig zur Besinnung zu kommen. Zu diesem Seelenglauben hat die hellenische Dichtkunst als solche nichts beigetragen; sie schickte sich ehrfurchsvoll in das Übliche — die feierliche Bestattung des Patroklos z. B., der vor der- selben zur letzten Ruhe nicht eingehen konnte, die Vollführung der nötigen Weiheakte durch Antigone an der Leiche ihres Bruders — weiter nichts. Dem Unsterblichkeitsglauben hat sie allerdings unbewusst Vor- schub geleistet, indem sie die Götter zwar nicht als unerschaffen, doch aber zu ihrer grösseren Verherrlichung als unsterblich auffassen zu müssen glaubte — was z. B. bei den arischen Indern nicht der Fall war. 2) Der Begriff der Sempiternität, d. h. der Unsterblich- 2) 1) Über diesen äusserst wichtigen Punkt, die Genese des Unsterblichkeits- glaubens bei den Griechen betreffend, vergl. namentlich Rhode|: Psyche, S. 296. 2) Ich citierte schon oben (S. 71) ein altes Vedalied, nach welchem »die Götter diesseits der Schöpfung entstanden sind«; in ihrer Eigenschaft als Indivi- duen können sie aber nach indischer Überzeugung die »Sempiternität« ebenfalls nicht besitzen, und Çankara sagt in den Vendânta-Sûtra’s, von den einzelnen Göttern redend: »Solche Worte wie Indra u. s. w. bedeuten, ähnlich wie z. B. das Wort ‚General‛, nur das Innehaben eines bestimmten Postens. Wer also gerade 2) zu verwundern; es war altes Stammgut; sehr auffallend ist dagegen, dass der Hellene in der Blütezeit seiner Kraft diesen Glauben verloren hatte, oder vielmehr sich vollkommen indifferent dagegen verhielt. »Ein endloses Weiterleben der Seele wird auf diesem (homerischen) Standpunkte weder behauptet noch geleugnet; dieser Gedanke fällt hier überhaupt gar nicht in den Kreis der Betrachtung« (Rhode, Psyche, S. 195). Eine merkwürdige Bestätigung von Schiller’s Behauptung, dass der ästhetische Mensch, d. h. Derjenige, in dem das Sinnliche und Moralische einander nicht feindlich entgegen streben, »keine Unsterblichkeit brauche, um sich zu stützen und zu halten« (Brief an Goethe vom 9. 7. 1796). Ob die Geten Goten und folglich Germanen waren, wie Jakob Grimm behauptete, oder nicht, kann uns hier gleichgültig sein; eine erschöpfende Diskussion dieser übrigens sehr interessanten Frage findet man in Wietersheim-Dalm: Geschichte der Völker- wanderung, I, 597 fg.; das Ergebnis fällt gegen Grimm’s Ansicht aus. — Die Märe, dass der Getenkönig Zalmoxis die Unsterblichkeitslehre von Pythagoras gelernt habe, bezeichnet Rhode als »eine absurde pragmatisierende Fabel« (Psyche, S. 320).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/126>, abgerufen am 24.11.2024.