Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Das Erbe der alten Welt. auch nicht -- das Beispiel des Heldenmutes; Mut ist aber die ver-breitetste aller menschlichen Tugenden und die Konstitution eines Staates wie des lakedämonischen liesse eher darauf schliessen, dass die Hellenen zum Mute gezwungen werden mussten, als dass sie von Natur die stolze Todesverachtung besessen hätten, die jeden gallischen Zirkusfechter, jeden spanischen Toreador, jeden türkischen Baschi-Bosuk auszeichnet1). "Die griechische Geschichte", sagt Goethe, "bietet wenig Erfreuliches -- -- -- zudem ist die unserer eigenen Tage durchaus gross und bedeutend; die Schlachten von Leipzig und Waterloo ragen so gewaltig hervor, dass jene von Marathon und ähnliche andere nachgerade verdunkelt werden. Auch sind unsere eigenen Helden nicht zurückgeblieben: die französischen Marschälle und Blücher und Wellington sind denen des Alterthums völlig an die Seite zu setzen."2) Damit hat Goethe aber lange nicht genug gesagt. Die traditionelle griechische Geschichte ist, in manchen Stücken, eine ungeheure Mysti- fikation: das sieht man täglich deutlicher ein; und zwar haben unsere eine Weise aus, wie er fortan geltend bleiben sollte". Und dabei erfüllt doch die Verstümmelung nicht allein von Leichen, sondern auch von Lebendigen, die Folterung, sowie jegliche Grausamkeit, jede Lüge, jeder Verrat die ganze griechische Geschichte! Also, um eine tönende, hohle Phrase anzubringen, um der alten ab- geschmackten Redensart eines Gegensatzes zwischen Orient und Occident (wie lächerlich auf einer sphärischen Welt!) treu zu bleiben, um nur ja die erbgesessenen Vorurteile festzuhalten und noch fester einzubohren, werden von einem ersten Historiker unseres Jahrhunderts sämtliche Thatsachen der Geschichte einfach bei- seite geschoben -- Thatsachen, über die selbst der Ungelehrteste sich bei Duncker: Geschichte des Altertums, Gobineau: Histoire des Perses, Maspero: Les premieres Melees des peuples u. s. w. unterrichten kann -- und dem glaubensseligen Wiss- begierigen wird, auf Grundlage einer zweifelhaften Anekdote, ein offenbares falsum betreffs des moralischen Charakters der verschiedenen Menschenstämme aufgenötigt! Eine so gewissenlose Perfidie kann bei einem solchen Manne einzig durch die Annahme einer das Urteil lahmlegenden "Suggestion" erklärt werden. Aus Indien und aus Persien stammt die eine Gattung der Menschlichkeit und der Milde und der Wahrheitsliebe, aus Judäa und Arabien die andere (aus Reaktion entstandene), -- keine aber aus Griechenland, noch aus Rom, d. h. also, keine aus dem "Occident". Wie erhaben steht Herodot neben solcher tendenziös entstellender Geschichtsmethode! denn, als er von der Verstümmelung des Leonidas erzählt hat, fährt er fort: "eine derartige Behandlung ist sonst bei den Persern nicht Sitte, bei ihnen, mehr als bei allen anderen Völkern, pflegt man tapfere Kriegsmänner zu ehren (VII, 238). 1) Feinsinnig bemerkt Helvetius (De l'Esprit, ed. 1772, II, 52): "La legislation de Lycurgue metamorphosait les hommes en heros". 2) Gespräche mit Eckermann, 24. II. 1824.
Das Erbe der alten Welt. auch nicht — das Beispiel des Heldenmutes; Mut ist aber die ver-breitetste aller menschlichen Tugenden und die Konstitution eines Staates wie des lakedämonischen liesse eher darauf schliessen, dass die Hellenen zum Mute gezwungen werden mussten, als dass sie von Natur die stolze Todesverachtung besessen hätten, die jeden gallischen Zirkusfechter, jeden spanischen Toreador, jeden türkischen Baschi-Bosuk auszeichnet1). »Die griechische Geschichte«, sagt Goethe, »bietet wenig Erfreuliches — — — zudem ist die unserer eigenen Tage durchaus gross und bedeutend; die Schlachten von Leipzig und Waterloo ragen so gewaltig hervor, dass jene von Marathon und ähnliche andere nachgerade verdunkelt werden. Auch sind unsere eigenen Helden nicht zurückgeblieben: die französischen Marschälle und Blücher und Wellington sind denen des Alterthums völlig an die Seite zu setzen.«2) Damit hat Goethe aber lange nicht genug gesagt. Die traditionelle griechische Geschichte ist, in manchen Stücken, eine ungeheure Mysti- fikation: das sieht man täglich deutlicher ein; und zwar haben unsere eine Weise aus, wie er fortan geltend bleiben sollte«. Und dabei erfüllt doch die Verstümmelung nicht allein von Leichen, sondern auch von Lebendigen, die Folterung, sowie jegliche Grausamkeit, jede Lüge, jeder Verrat die ganze griechische Geschichte! Also, um eine tönende, hohle Phrase anzubringen, um der alten ab- geschmackten Redensart eines Gegensatzes zwischen Orient und Occident (wie lächerlich auf einer sphärischen Welt!) treu zu bleiben, um nur ja die erbgesessenen Vorurteile festzuhalten und noch fester einzubohren, werden von einem ersten Historiker unseres Jahrhunderts sämtliche Thatsachen der Geschichte einfach bei- seite geschoben — Thatsachen, über die selbst der Ungelehrteste sich bei Duncker: Geschichte des Altertums, Gobineau: Histoire des Perses, Maspero: Les premières Mêlées des peuples u. s. w. unterrichten kann — und dem glaubensseligen Wiss- begierigen wird, auf Grundlage einer zweifelhaften Anekdote, ein offenbares falsum betreffs des moralischen Charakters der verschiedenen Menschenstämme aufgenötigt! Eine so gewissenlose Perfidie kann bei einem solchen Manne einzig durch die Annahme einer das Urteil lahmlegenden »Suggestion« erklärt werden. Aus Indien und aus Persien stammt die eine Gattung der Menschlichkeit und der Milde und der Wahrheitsliebe, aus Judäa und Arabien die andere (aus Reaktion entstandene), — keine aber aus Griechenland, noch aus Rom, d. h. also, keine aus dem »Occident«. Wie erhaben steht Herodot neben solcher tendenziös entstellender Geschichtsmethode! denn, als er von der Verstümmelung des Leonidas erzählt hat, fährt er fort: »eine derartige Behandlung ist sonst bei den Persern nicht Sitte, bei ihnen, mehr als bei allen anderen Völkern, pflegt man tapfere Kriegsmänner zu ehren (VII, 238). 1) Feinsinnig bemerkt Helvetius (De l’Esprit, ed. 1772, II, 52): »La législation de Lycurgue métamorphosait les hommes en héros«. 2) Gespräche mit Eckermann, 24. II. 1824.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0115" n="92"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/> auch nicht — das Beispiel des Heldenmutes; Mut ist aber die ver-<lb/> breitetste aller menschlichen Tugenden und die Konstitution eines<lb/> Staates wie des lakedämonischen liesse eher darauf schliessen, dass<lb/> die Hellenen zum Mute gezwungen werden mussten, als dass sie<lb/> von Natur die stolze Todesverachtung besessen hätten, die jeden<lb/> gallischen Zirkusfechter, jeden spanischen Toreador, jeden türkischen<lb/> Baschi-Bosuk auszeichnet<note place="foot" n="1)">Feinsinnig bemerkt Helvetius (<hi rendition="#i">De l’Esprit,</hi> ed. 1772, II, 52): »La<lb/> législation de Lycurgue <hi rendition="#g">métamorphosait</hi> les hommes en héros«.</note>. »Die griechische Geschichte«, sagt Goethe,<lb/> »bietet wenig Erfreuliches — — — zudem ist die unserer eigenen Tage<lb/> durchaus gross und bedeutend; die Schlachten von Leipzig und Waterloo<lb/> ragen so gewaltig hervor, dass jene von Marathon und ähnliche andere<lb/> nachgerade verdunkelt werden. Auch sind unsere eigenen Helden<lb/> nicht zurückgeblieben: die französischen Marschälle und Blücher und<lb/> Wellington sind denen des Alterthums völlig an die Seite zu setzen.«<note place="foot" n="2)">Gespräche mit Eckermann, 24. II. 1824.</note><lb/> Damit hat Goethe aber lange nicht genug gesagt. Die traditionelle<lb/> griechische Geschichte ist, in manchen Stücken, eine ungeheure Mysti-<lb/> fikation: das sieht man täglich deutlicher ein; und zwar haben unsere<lb/><note xml:id="seg2pn_7_2" prev="#seg2pn_7_1" place="foot" n="1)">eine Weise aus, wie er fortan geltend bleiben sollte«. Und dabei erfüllt doch<lb/> die Verstümmelung nicht allein von Leichen, sondern auch von Lebendigen, die<lb/> Folterung, sowie jegliche Grausamkeit, jede Lüge, jeder Verrat die ganze griechische<lb/> Geschichte! Also, um eine tönende, hohle Phrase anzubringen, um der alten ab-<lb/> geschmackten Redensart eines Gegensatzes zwischen Orient und Occident (wie<lb/> lächerlich auf einer sphärischen Welt!) treu zu bleiben, um nur ja die erbgesessenen<lb/> Vorurteile festzuhalten und noch fester einzubohren, werden von einem ersten<lb/> Historiker unseres Jahrhunderts sämtliche Thatsachen der Geschichte einfach bei-<lb/> seite geschoben — Thatsachen, über die selbst der Ungelehrteste sich bei Duncker:<lb/><hi rendition="#i">Geschichte des Altertums,</hi> Gobineau: <hi rendition="#i">Histoire des Perses,</hi> Maspero: <hi rendition="#i">Les premières<lb/> Mêlées des peuples</hi> u. s. w. unterrichten kann — und dem glaubensseligen Wiss-<lb/> begierigen wird, auf Grundlage einer zweifelhaften Anekdote, ein offenbares<lb/><hi rendition="#g">falsum</hi> betreffs des moralischen Charakters der verschiedenen Menschenstämme<lb/> aufgenötigt! Eine so gewissenlose Perfidie kann bei einem solchen Manne einzig<lb/> durch die Annahme einer das Urteil lahmlegenden »Suggestion« erklärt werden.<lb/> Aus Indien und aus Persien stammt die eine Gattung der Menschlichkeit und der<lb/> Milde und der Wahrheitsliebe, aus Judäa und Arabien die andere (aus Reaktion<lb/> entstandene), — keine aber aus Griechenland, noch aus Rom, d. h. also, keine<lb/> aus dem »Occident«. Wie erhaben steht <hi rendition="#g">Herodot</hi> neben solcher tendenziös<lb/> entstellender Geschichtsmethode! denn, als er von der Verstümmelung des Leonidas<lb/> erzählt hat, fährt er fort: »eine derartige Behandlung ist sonst bei den Persern<lb/><hi rendition="#g">nicht Sitte,</hi> bei ihnen, <hi rendition="#g">mehr als bei allen anderen Völkern,</hi> pflegt man<lb/> tapfere Kriegsmänner zu ehren (VII, 238).</note><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [92/0115]
Das Erbe der alten Welt.
auch nicht — das Beispiel des Heldenmutes; Mut ist aber die ver-
breitetste aller menschlichen Tugenden und die Konstitution eines
Staates wie des lakedämonischen liesse eher darauf schliessen, dass
die Hellenen zum Mute gezwungen werden mussten, als dass sie
von Natur die stolze Todesverachtung besessen hätten, die jeden
gallischen Zirkusfechter, jeden spanischen Toreador, jeden türkischen
Baschi-Bosuk auszeichnet 1). »Die griechische Geschichte«, sagt Goethe,
»bietet wenig Erfreuliches — — — zudem ist die unserer eigenen Tage
durchaus gross und bedeutend; die Schlachten von Leipzig und Waterloo
ragen so gewaltig hervor, dass jene von Marathon und ähnliche andere
nachgerade verdunkelt werden. Auch sind unsere eigenen Helden
nicht zurückgeblieben: die französischen Marschälle und Blücher und
Wellington sind denen des Alterthums völlig an die Seite zu setzen.« 2)
Damit hat Goethe aber lange nicht genug gesagt. Die traditionelle
griechische Geschichte ist, in manchen Stücken, eine ungeheure Mysti-
fikation: das sieht man täglich deutlicher ein; und zwar haben unsere
1)
1) Feinsinnig bemerkt Helvetius (De l’Esprit, ed. 1772, II, 52): »La
législation de Lycurgue métamorphosait les hommes en héros«.
2) Gespräche mit Eckermann, 24. II. 1824.
1) eine Weise aus, wie er fortan geltend bleiben sollte«. Und dabei erfüllt doch
die Verstümmelung nicht allein von Leichen, sondern auch von Lebendigen, die
Folterung, sowie jegliche Grausamkeit, jede Lüge, jeder Verrat die ganze griechische
Geschichte! Also, um eine tönende, hohle Phrase anzubringen, um der alten ab-
geschmackten Redensart eines Gegensatzes zwischen Orient und Occident (wie
lächerlich auf einer sphärischen Welt!) treu zu bleiben, um nur ja die erbgesessenen
Vorurteile festzuhalten und noch fester einzubohren, werden von einem ersten
Historiker unseres Jahrhunderts sämtliche Thatsachen der Geschichte einfach bei-
seite geschoben — Thatsachen, über die selbst der Ungelehrteste sich bei Duncker:
Geschichte des Altertums, Gobineau: Histoire des Perses, Maspero: Les premières
Mêlées des peuples u. s. w. unterrichten kann — und dem glaubensseligen Wiss-
begierigen wird, auf Grundlage einer zweifelhaften Anekdote, ein offenbares
falsum betreffs des moralischen Charakters der verschiedenen Menschenstämme
aufgenötigt! Eine so gewissenlose Perfidie kann bei einem solchen Manne einzig
durch die Annahme einer das Urteil lahmlegenden »Suggestion« erklärt werden.
Aus Indien und aus Persien stammt die eine Gattung der Menschlichkeit und der
Milde und der Wahrheitsliebe, aus Judäa und Arabien die andere (aus Reaktion
entstandene), — keine aber aus Griechenland, noch aus Rom, d. h. also, keine
aus dem »Occident«. Wie erhaben steht Herodot neben solcher tendenziös
entstellender Geschichtsmethode! denn, als er von der Verstümmelung des Leonidas
erzählt hat, fährt er fort: »eine derartige Behandlung ist sonst bei den Persern
nicht Sitte, bei ihnen, mehr als bei allen anderen Völkern, pflegt man
tapfere Kriegsmänner zu ehren (VII, 238).
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |