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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
erhabensten Anschauungen der indischen Denker genau übereinstimmt.1)
Man vergleiche aber Plato und die Inder, seine Werke und ihre Werke!
Da wird man nicht länger im Zweifel sein, warum Plato lebt und
wirkt, die indischen Weisen dagegen zwar auch noch leben, ohne
aber auf die weite Welt, auf die werdende Menschheit unmittelbar
zu wirken. Das indische Denken ist, was Tiefe und umfassende Viel-
seitigkeit anbelangt, unerreicht; meinte aber Herr Zeller, Plato sei
"zu sehr Dichter, um ganz Philosoph zu sein", so ersehen wir aus
dem Beispiel der Inder, was aus einer Weltanschauung wird, wenn
ein Denker zu ganz Philosoph ist, um noch zugleich ein bisschen
Dichter zu sein! Dieses reine Denken der Inder entbehrt aller Mit-
teilbarkeit, -- was einen zugleich naiven und tiefen Ausdruck darin
findet, dass nach den indischen Büchern, die höchste, letzte Weisheit
einzig durch Schweigen gelehrt werden kann.2) Ganz anders der
Grieche! Koste, was es wolle, er muss "die Vorstellung unerforsch-
licher Dinge hinausprojizieren und gestalten". Man lese in diesem
Zusammenhang die mühsame Auseinandersetzung in Plato's Theaitetos,
wo Sokrates zuletzt zugiebt, es könne einer im Besitz der Wahrheit
sein, ohne dass er sie zu erklären vermöge, das sei aber noch keine
Erkenntnis; was Erkenntnis sei, bleibt allerdings zum Schluss (ein
Beweis von Plato's Tiefsinnigkeit) unentschieden; im kulminierenden
Punkte des Dialogs jedoch wird sie als "richtige Vorstellung" be-
zeichnet, und gesagt, über richtige Vorstellung müsse man "Rede
stehen und Erklärung geben können"; ebenfalls hierher gehört

1) Für den Vergleich zwischen Plato und den Indern in Bezug auf die
Erkenntnis der empirischen Realität und transcendentalen Idealität der Erfahrung
siehe namentlich Max Müller: Three lectures on the Vedanta Philosophy (1894),
S. 128 fg. Plato's Stellung den Eleaten gegenüber wird hierdurch eigentlich erst
ganz klar. Umfassenderes in Deussen's Werken, namentlich in seinem Vortrag:
"Über die Philosophie des Vedanta in ihrem Verhältnis zu den methaphysischen
Lehren des Westens" in englischer Sprache gehalten und in Bombay (1893) er-
schienen. (Eine deutsche Übersetzung aus meiner Feder brachten die Bayreuther
Blätter,
Jahrgang 1895, S. 125 fg.)
2) "Als Bahva von dem Vashkali befragt wurde, da erklärte ihm dieser das
Brahman dadurch, dass er schwieg. Und Vashkali sprach: lehre mir, o Ehr-
würdiger, das Brahman! Jener aber schwieg stille. Als nun der andere zum
zweitenmale oder drittenmale fragte, da sprach er: ich lehre dich es ja, du aber
verstehst es nicht; dieses Brahman ist Schweigen." (Cankara in den Sautra's des
Vedanta,
III, 2, 17). Und in der Taittireiya-Upanishad lesen wir (II, 4): "Vor
der Wonne der Erkenntnis kehrt alle Sprache um, auch die Gedanken, unfähig sie
zu erreichen."
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 6

Hellenische Kunst und Philosophie.
erhabensten Anschauungen der indischen Denker genau übereinstimmt.1)
Man vergleiche aber Plato und die Inder, seine Werke und ihre Werke!
Da wird man nicht länger im Zweifel sein, warum Plato lebt und
wirkt, die indischen Weisen dagegen zwar auch noch leben, ohne
aber auf die weite Welt, auf die werdende Menschheit unmittelbar
zu wirken. Das indische Denken ist, was Tiefe und umfassende Viel-
seitigkeit anbelangt, unerreicht; meinte aber Herr Zeller, Plato sei
»zu sehr Dichter, um ganz Philosoph zu sein«, so ersehen wir aus
dem Beispiel der Inder, was aus einer Weltanschauung wird, wenn
ein Denker zu ganz Philosoph ist, um noch zugleich ein bisschen
Dichter zu sein! Dieses reine Denken der Inder entbehrt aller Mit-
teilbarkeit, — was einen zugleich naiven und tiefen Ausdruck darin
findet, dass nach den indischen Büchern, die höchste, letzte Weisheit
einzig durch Schweigen gelehrt werden kann.2) Ganz anders der
Grieche! Koste, was es wolle, er muss »die Vorstellung unerforsch-
licher Dinge hinausprojizieren und gestalten«. Man lese in diesem
Zusammenhang die mühsame Auseinandersetzung in Plato’s Theaitetos,
wo Sokrates zuletzt zugiebt, es könne einer im Besitz der Wahrheit
sein, ohne dass er sie zu erklären vermöge, das sei aber noch keine
Erkenntnis; was Erkenntnis sei, bleibt allerdings zum Schluss (ein
Beweis von Plato’s Tiefsinnigkeit) unentschieden; im kulminierenden
Punkte des Dialogs jedoch wird sie als »richtige Vorstellung« be-
zeichnet, und gesagt, über richtige Vorstellung müsse man »Rede
stehen und Erklärung geben können«; ebenfalls hierher gehört

1) Für den Vergleich zwischen Plato und den Indern in Bezug auf die
Erkenntnis der empirischen Realität und transcendentalen Idealität der Erfahrung
siehe namentlich Max Müller: Three lectures on the Vedânta Philosophy (1894),
S. 128 fg. Plato’s Stellung den Eleaten gegenüber wird hierdurch eigentlich erst
ganz klar. Umfassenderes in Deussen’s Werken, namentlich in seinem Vortrag:
»Über die Philosophie des Vedânta in ihrem Verhältnis zu den methaphysischen
Lehren des Westens« in englischer Sprache gehalten und in Bombay (1893) er-
schienen. (Eine deutsche Übersetzung aus meiner Feder brachten die Bayreuther
Blätter,
Jahrgang 1895, S. 125 fg.)
2) »Als Bâhva von dem Vâshkali befragt wurde, da erklärte ihm dieser das
Brahman dadurch, dass er schwieg. Und Vâshkali sprach: lehre mir, o Ehr-
würdiger, das Brahman! Jener aber schwieg stille. Als nun der andere zum
zweitenmale oder drittenmale fragte, da sprach er: ich lehre dich es ja, du aber
verstehst es nicht; dieses Brahman ist Schweigen.« (Çankara in den Sûtra’s des
Vedânta,
III, 2, 17). Und in der Taittirîya-Upanishad lesen wir (II, 4): »Vor
der Wonne der Erkenntnis kehrt alle Sprache um, auch die Gedanken, unfähig sie
zu erreichen.«
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 6
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[81/0104] Hellenische Kunst und Philosophie. erhabensten Anschauungen der indischen Denker genau übereinstimmt. 1) Man vergleiche aber Plato und die Inder, seine Werke und ihre Werke! Da wird man nicht länger im Zweifel sein, warum Plato lebt und wirkt, die indischen Weisen dagegen zwar auch noch leben, ohne aber auf die weite Welt, auf die werdende Menschheit unmittelbar zu wirken. Das indische Denken ist, was Tiefe und umfassende Viel- seitigkeit anbelangt, unerreicht; meinte aber Herr Zeller, Plato sei »zu sehr Dichter, um ganz Philosoph zu sein«, so ersehen wir aus dem Beispiel der Inder, was aus einer Weltanschauung wird, wenn ein Denker zu ganz Philosoph ist, um noch zugleich ein bisschen Dichter zu sein! Dieses reine Denken der Inder entbehrt aller Mit- teilbarkeit, — was einen zugleich naiven und tiefen Ausdruck darin findet, dass nach den indischen Büchern, die höchste, letzte Weisheit einzig durch Schweigen gelehrt werden kann. 2) Ganz anders der Grieche! Koste, was es wolle, er muss »die Vorstellung unerforsch- licher Dinge hinausprojizieren und gestalten«. Man lese in diesem Zusammenhang die mühsame Auseinandersetzung in Plato’s Theaitetos, wo Sokrates zuletzt zugiebt, es könne einer im Besitz der Wahrheit sein, ohne dass er sie zu erklären vermöge, das sei aber noch keine Erkenntnis; was Erkenntnis sei, bleibt allerdings zum Schluss (ein Beweis von Plato’s Tiefsinnigkeit) unentschieden; im kulminierenden Punkte des Dialogs jedoch wird sie als »richtige Vorstellung« be- zeichnet, und gesagt, über richtige Vorstellung müsse man »Rede stehen und Erklärung geben können«; ebenfalls hierher gehört 1) Für den Vergleich zwischen Plato und den Indern in Bezug auf die Erkenntnis der empirischen Realität und transcendentalen Idealität der Erfahrung siehe namentlich Max Müller: Three lectures on the Vedânta Philosophy (1894), S. 128 fg. Plato’s Stellung den Eleaten gegenüber wird hierdurch eigentlich erst ganz klar. Umfassenderes in Deussen’s Werken, namentlich in seinem Vortrag: »Über die Philosophie des Vedânta in ihrem Verhältnis zu den methaphysischen Lehren des Westens« in englischer Sprache gehalten und in Bombay (1893) er- schienen. (Eine deutsche Übersetzung aus meiner Feder brachten die Bayreuther Blätter, Jahrgang 1895, S. 125 fg.) 2) »Als Bâhva von dem Vâshkali befragt wurde, da erklärte ihm dieser das Brahman dadurch, dass er schwieg. Und Vâshkali sprach: lehre mir, o Ehr- würdiger, das Brahman! Jener aber schwieg stille. Als nun der andere zum zweitenmale oder drittenmale fragte, da sprach er: ich lehre dich es ja, du aber verstehst es nicht; dieses Brahman ist Schweigen.« (Çankara in den Sûtra’s des Vedânta, III, 2, 17). Und in der Taittirîya-Upanishad lesen wir (II, 4): »Vor der Wonne der Erkenntnis kehrt alle Sprache um, auch die Gedanken, unfähig sie zu erreichen.« Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 6

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/104>, abgerufen am 23.11.2024.