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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
kindern Abschied nimmt, um nunmehr, von aller Habe entblösst, von
Wurzeln sich nährend, nackt, in der Einsamkeit der Wälder, seine
letzten Jahre der frommen Betrachtung und der Erlösung seiner Seele
zu widmen, wenn er sein Grab mit eigenen Händen gräbt und beim
Herannahen des Todes sich hineinlegt, um mit gefalteten Händen, er-
geben und beglückt, zu sterben:1) kann man da sagen, er habe "eigentlich
keinen Glauben?" er "halte seinen Glauben nicht für die Wahrheit?"
Nun, über Worte will ich nicht rechten, dieser Mann hat aber jeden-
falls Religion, und zwar, wie mich dünkt, ein Maximum an Religion.
In seiner Jugend hatte er die üppigste Mythologie kennen gelernt, die
ganze Natur war für sein kindliches Auge belebt, beseelt, und zwar
von grossen, freundlichen Gestalten belebt,2) an denen seine Phantasie
sich unaufhörlich übte und durch die immer neuen Lieder, die er nach
und nach zu hören bekam, immer neu angeregt wurde, sich zu üben.
Wie Carlyle von Goethe rühmte, so sah sich dieser indische Jüngling
"vom Wunder umgeben, alles Natürliche in Wahrheit ein Übernatür-
liches". Das ernste Mannesalter brachte Neues; jetzt wurde die Denk-
fähigkeit an den schwierigsten Problemen geübt und gestärkt, zugleich
eine allumfassende Symbolik durch die an die Opferzeremonien geknüpften
Betrachtungen gelehrt, welche unser heutiges Vorstellungsvermögen fast
übersteigt,3) deren Hauptergebnis wir aber aus dem Erfolg deutlich ent-
nehmen. Mehr und mehr begriff der reifende Mann, nicht allein, dass
jene mythologischen Gestalten nur in seinem Hirn Dasein besässen, nur
für seinen besonderen, beschränkten Menschengeist überhaupt Sinn
hätten, mit anderen Worten Symbole eines der Vernunft Unerreich-

1) Noch heute begegnet man frischen Gräbern dieser Art in den Waldes-
tiefen. Ohne Krampf noch Kampf gehen diese heiligen Männer aus der Zeit in
die Ewigkeit ein, so dass man beim Anblick ihrer Leichen glauben würde, es hätte
die Hand der Liebe ihnen die Glieder zurecht gelegt und die Augen geschlossen.
(Nach mündlichen Mitteilungen und Zeichnungen nach der Natur.) Wie lebendig
und unverändert, einem ewig sich gleichbleibenden inneren Nährboden entspriessend,
altarische Religion noch heute blüht, kann man aus Max Müller's zu Weihnachten
1898 erschienen Lebensbericht über einen erst 1886 gestorbenen heiligen Mann
aus brahmanischer Familie ersehen: Ramakrishna, his life and sayings.
2) Oldenberg: Religion des Veda, bezeugt, dass die Götter der arischen Inder,
im Gegensatz zu anderen, lichte, wahre, wohlwollende Gestalten sind, ohne Tücke,
Grausamkeit und Wortbruch (S. 30, 92, 302 etc.).
3) Oldenberg: Religion des Veda: "die Inder sprachen die Verhältnisse des
Opfers an als analoge, durch ein mystisches Band mit ihnen geeinte Verhältnisse
des Universums repräsentirend". Belege hierfür findet man auf jeder Seite des
Satapatha-Brahmana, jenes merkwürdigen Kodex für Opferzeremonien.

Die Erben.
kindern Abschied nimmt, um nunmehr, von aller Habe entblösst, von
Wurzeln sich nährend, nackt, in der Einsamkeit der Wälder, seine
letzten Jahre der frommen Betrachtung und der Erlösung seiner Seele
zu widmen, wenn er sein Grab mit eigenen Händen gräbt und beim
Herannahen des Todes sich hineinlegt, um mit gefalteten Händen, er-
geben und beglückt, zu sterben:1) kann man da sagen, er habe »eigentlich
keinen Glauben?« er »halte seinen Glauben nicht für die Wahrheit
Nun, über Worte will ich nicht rechten, dieser Mann hat aber jeden-
falls Religion, und zwar, wie mich dünkt, ein Maximum an Religion.
In seiner Jugend hatte er die üppigste Mythologie kennen gelernt, die
ganze Natur war für sein kindliches Auge belebt, beseelt, und zwar
von grossen, freundlichen Gestalten belebt,2) an denen seine Phantasie
sich unaufhörlich übte und durch die immer neuen Lieder, die er nach
und nach zu hören bekam, immer neu angeregt wurde, sich zu üben.
Wie Carlyle von Goethe rühmte, so sah sich dieser indische Jüngling
»vom Wunder umgeben, alles Natürliche in Wahrheit ein Übernatür-
liches«. Das ernste Mannesalter brachte Neues; jetzt wurde die Denk-
fähigkeit an den schwierigsten Problemen geübt und gestärkt, zugleich
eine allumfassende Symbolik durch die an die Opferzeremonien geknüpften
Betrachtungen gelehrt, welche unser heutiges Vorstellungsvermögen fast
übersteigt,3) deren Hauptergebnis wir aber aus dem Erfolg deutlich ent-
nehmen. Mehr und mehr begriff der reifende Mann, nicht allein, dass
jene mythologischen Gestalten nur in seinem Hirn Dasein besässen, nur
für seinen besonderen, beschränkten Menschengeist überhaupt Sinn
hätten, mit anderen Worten Symbole eines der Vernunft Unerreich-

1) Noch heute begegnet man frischen Gräbern dieser Art in den Waldes-
tiefen. Ohne Krampf noch Kampf gehen diese heiligen Männer aus der Zeit in
die Ewigkeit ein, so dass man beim Anblick ihrer Leichen glauben würde, es hätte
die Hand der Liebe ihnen die Glieder zurecht gelegt und die Augen geschlossen.
(Nach mündlichen Mitteilungen und Zeichnungen nach der Natur.) Wie lebendig
und unverändert, einem ewig sich gleichbleibenden inneren Nährboden entspriessend,
altarische Religion noch heute blüht, kann man aus Max Müller’s zu Weihnachten
1898 erschienen Lebensbericht über einen erst 1886 gestorbenen heiligen Mann
aus brahmanischer Familie ersehen: Râmakrishna, his life and sayings.
2) Oldenberg: Religion des Veda, bezeugt, dass die Götter der arischen Inder,
im Gegensatz zu anderen, lichte, wahre, wohlwollende Gestalten sind, ohne Tücke,
Grausamkeit und Wortbruch (S. 30, 92, 302 etc.).
3) Oldenberg: Religion des Veda: »die Inder sprachen die Verhältnisse des
Opfers an als analoge, durch ein mystisches Band mit ihnen geeinte Verhältnisse
des Universums repräsentirend«. Belege hierfür findet man auf jeder Seite des
Satapatha-Brâhmana, jenes merkwürdigen Kodex für Opferzeremonien.
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[412/0435] Die Erben. kindern Abschied nimmt, um nunmehr, von aller Habe entblösst, von Wurzeln sich nährend, nackt, in der Einsamkeit der Wälder, seine letzten Jahre der frommen Betrachtung und der Erlösung seiner Seele zu widmen, wenn er sein Grab mit eigenen Händen gräbt und beim Herannahen des Todes sich hineinlegt, um mit gefalteten Händen, er- geben und beglückt, zu sterben: 1) kann man da sagen, er habe »eigentlich keinen Glauben?« er »halte seinen Glauben nicht für die Wahrheit?« Nun, über Worte will ich nicht rechten, dieser Mann hat aber jeden- falls Religion, und zwar, wie mich dünkt, ein Maximum an Religion. In seiner Jugend hatte er die üppigste Mythologie kennen gelernt, die ganze Natur war für sein kindliches Auge belebt, beseelt, und zwar von grossen, freundlichen Gestalten belebt, 2) an denen seine Phantasie sich unaufhörlich übte und durch die immer neuen Lieder, die er nach und nach zu hören bekam, immer neu angeregt wurde, sich zu üben. Wie Carlyle von Goethe rühmte, so sah sich dieser indische Jüngling »vom Wunder umgeben, alles Natürliche in Wahrheit ein Übernatür- liches«. Das ernste Mannesalter brachte Neues; jetzt wurde die Denk- fähigkeit an den schwierigsten Problemen geübt und gestärkt, zugleich eine allumfassende Symbolik durch die an die Opferzeremonien geknüpften Betrachtungen gelehrt, welche unser heutiges Vorstellungsvermögen fast übersteigt, 3) deren Hauptergebnis wir aber aus dem Erfolg deutlich ent- nehmen. Mehr und mehr begriff der reifende Mann, nicht allein, dass jene mythologischen Gestalten nur in seinem Hirn Dasein besässen, nur für seinen besonderen, beschränkten Menschengeist überhaupt Sinn hätten, mit anderen Worten Symbole eines der Vernunft Unerreich- 1) Noch heute begegnet man frischen Gräbern dieser Art in den Waldes- tiefen. Ohne Krampf noch Kampf gehen diese heiligen Männer aus der Zeit in die Ewigkeit ein, so dass man beim Anblick ihrer Leichen glauben würde, es hätte die Hand der Liebe ihnen die Glieder zurecht gelegt und die Augen geschlossen. (Nach mündlichen Mitteilungen und Zeichnungen nach der Natur.) Wie lebendig und unverändert, einem ewig sich gleichbleibenden inneren Nährboden entspriessend, altarische Religion noch heute blüht, kann man aus Max Müller’s zu Weihnachten 1898 erschienen Lebensbericht über einen erst 1886 gestorbenen heiligen Mann aus brahmanischer Familie ersehen: Râmakrishna, his life and sayings. 2) Oldenberg: Religion des Veda, bezeugt, dass die Götter der arischen Inder, im Gegensatz zu anderen, lichte, wahre, wohlwollende Gestalten sind, ohne Tücke, Grausamkeit und Wortbruch (S. 30, 92, 302 etc.). 3) Oldenberg: Religion des Veda: »die Inder sprachen die Verhältnisse des Opfers an als analoge, durch ein mystisches Band mit ihnen geeinte Verhältnisse des Universums repräsentirend«. Belege hierfür findet man auf jeder Seite des Satapatha-Brâhmana, jenes merkwürdigen Kodex für Opferzeremonien.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/435>, abgerufen am 09.09.2024.