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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
artigen Religion, von einer Religion, welche das ganze öffentliche
Leben gestaltete und zugleich so mächtig eindringend auf Geist und
Phantasie wirkte, sagen, sie bedürfe eigentlich keines Glaubens?
Habe ich nicht Recht, wenn ich behaupte, in jener Goethe'schen
Stelle beziehe sich das eine Wort "Glaube" auf zwei verschiedene
Dinge? Gewiss; so verschieden wie die Menschen, deren Seelen sie
widerspiegeln. Goethe geht eben von der semitischen Auffassung
aus, und nach dieser Auffassung richtet sich (im Gegensatz zur
indischen) der religiöse Glaube lediglich auf geschichtliche Daten
und auf materielle Thatsachen: Gott ist hier durch geschichtlich
bezeugte Theophanien (Erscheinungen) bekannt, nicht aus innerer
Erfahrung postuliert, nicht aus Betrachtung der Natur erraten, nicht
durch Kraft und Phantasie ahnend gestaltet; hier ist alles noch ein-
facher als Herrn Ernst Haeckel's Schöpfungsgeschichte. Das Einzige,
was Not thut, ist blinder Glaube, und auf diesen Glauben konzentriert
sich denn auch die ganze Kraft der grossen leitenden Geister und der
verantwortlichen Hüter des Volkes: Strafen auf der einen Seite, Ver-
sprechungen auf der anderen, dazu historische Beweise und naturwidrige
Wunder. -- Man betrachte doch als Kontrast zu jedem unverfälscht
semitischen Credo das sogenannte apostolische Glaubensbekenntnis der
christlichen Kirche! Die Hälfte der Sätze besagt unvorstellbare Mysterien,
von denen die Theologen selber zugeben: "der Laie kann sie nicht ver-
stehen"; in Wahrheit ist aber von einem "Verstehen" in der logischen,
sinnfällig fasslichen Bedeutung des Wortes überhaupt so wenig die Rede,
dass man diesem einen kurzen Credo die verschiedensten, einander
widersprechenden Lehren entnommen hat.1) Und nun nehme man gar
das Athanasische Symbolum! Hier besteht der Stoff des religiösen
Glaubens ausschliesslich aus den abstraktesten Spekulationen des
Menschenhirns. Wie sollte der Glaube, im semitischen Sinn, Begriffe
auffassen können, mit denen nicht ein Mensch in einer Million auch
nur die blasseste Vorstellung zu verbinden vermag? Schon Jesus
Christus selber (und zwar gerade dort, wo er sagt: "derer, welche wie
diese Kinder sind, ist das Himmelreich") sprach dennoch: "Das Wort
fasset nicht Jedermann, sondern denen es gegeben ist. Wer es fassen
mag, der fasse es!" (Matth., XIX., 11, 12).2) Ganz anders der Semit

1) Vergl. z. B. Harnack: Dogmengeschichte (Grundriss, 2. Aufl.), S. 63 fg.
2) In der syrischen Übersetzung des ältesten bekannten Textes steht: "Jeder
der die Kraft besitzt ...", so dass die Deutung nicht zweifelhaft ist (siehe die
Übersetzung der Palimpsesthandschrift von Adalbert Merx, 1897).

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
artigen Religion, von einer Religion, welche das ganze öffentliche
Leben gestaltete und zugleich so mächtig eindringend auf Geist und
Phantasie wirkte, sagen, sie bedürfe eigentlich keines Glaubens?
Habe ich nicht Recht, wenn ich behaupte, in jener Goethe’schen
Stelle beziehe sich das eine Wort »Glaube« auf zwei verschiedene
Dinge? Gewiss; so verschieden wie die Menschen, deren Seelen sie
widerspiegeln. Goethe geht eben von der semitischen Auffassung
aus, und nach dieser Auffassung richtet sich (im Gegensatz zur
indischen) der religiöse Glaube lediglich auf geschichtliche Daten
und auf materielle Thatsachen: Gott ist hier durch geschichtlich
bezeugte Theophanien (Erscheinungen) bekannt, nicht aus innerer
Erfahrung postuliert, nicht aus Betrachtung der Natur erraten, nicht
durch Kraft und Phantasie ahnend gestaltet; hier ist alles noch ein-
facher als Herrn Ernst Haeckel’s Schöpfungsgeschichte. Das Einzige,
was Not thut, ist blinder Glaube, und auf diesen Glauben konzentriert
sich denn auch die ganze Kraft der grossen leitenden Geister und der
verantwortlichen Hüter des Volkes: Strafen auf der einen Seite, Ver-
sprechungen auf der anderen, dazu historische Beweise und naturwidrige
Wunder. — Man betrachte doch als Kontrast zu jedem unverfälscht
semitischen Credo das sogenannte apostolische Glaubensbekenntnis der
christlichen Kirche! Die Hälfte der Sätze besagt unvorstellbare Mysterien,
von denen die Theologen selber zugeben: »der Laie kann sie nicht ver-
stehen«; in Wahrheit ist aber von einem »Verstehen« in der logischen,
sinnfällig fasslichen Bedeutung des Wortes überhaupt so wenig die Rede,
dass man diesem einen kurzen Credo die verschiedensten, einander
widersprechenden Lehren entnommen hat.1) Und nun nehme man gar
das Athanasische Symbolum! Hier besteht der Stoff des religiösen
Glaubens ausschliesslich aus den abstraktesten Spekulationen des
Menschenhirns. Wie sollte der Glaube, im semitischen Sinn, Begriffe
auffassen können, mit denen nicht ein Mensch in einer Million auch
nur die blasseste Vorstellung zu verbinden vermag? Schon Jesus
Christus selber (und zwar gerade dort, wo er sagt: »derer, welche wie
diese Kinder sind, ist das Himmelreich«) sprach dennoch: »Das Wort
fasset nicht Jedermann, sondern denen es gegeben ist. Wer es fassen
mag, der fasse es!« (Matth., XIX., 11, 12).2) Ganz anders der Semit

1) Vergl. z. B. Harnack: Dogmengeschichte (Grundriss, 2. Aufl.), S. 63 fg.
2) In der syrischen Übersetzung des ältesten bekannten Textes steht: »Jeder
der die Kraft besitzt …«, so dass die Deutung nicht zweifelhaft ist (siehe die
Übersetzung der Palimpsesthandschrift von Adalbert Merx, 1897).
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[409/0432] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. artigen Religion, von einer Religion, welche das ganze öffentliche Leben gestaltete und zugleich so mächtig eindringend auf Geist und Phantasie wirkte, sagen, sie bedürfe eigentlich keines Glaubens? Habe ich nicht Recht, wenn ich behaupte, in jener Goethe’schen Stelle beziehe sich das eine Wort »Glaube« auf zwei verschiedene Dinge? Gewiss; so verschieden wie die Menschen, deren Seelen sie widerspiegeln. Goethe geht eben von der semitischen Auffassung aus, und nach dieser Auffassung richtet sich (im Gegensatz zur indischen) der religiöse Glaube lediglich auf geschichtliche Daten und auf materielle Thatsachen: Gott ist hier durch geschichtlich bezeugte Theophanien (Erscheinungen) bekannt, nicht aus innerer Erfahrung postuliert, nicht aus Betrachtung der Natur erraten, nicht durch Kraft und Phantasie ahnend gestaltet; hier ist alles noch ein- facher als Herrn Ernst Haeckel’s Schöpfungsgeschichte. Das Einzige, was Not thut, ist blinder Glaube, und auf diesen Glauben konzentriert sich denn auch die ganze Kraft der grossen leitenden Geister und der verantwortlichen Hüter des Volkes: Strafen auf der einen Seite, Ver- sprechungen auf der anderen, dazu historische Beweise und naturwidrige Wunder. — Man betrachte doch als Kontrast zu jedem unverfälscht semitischen Credo das sogenannte apostolische Glaubensbekenntnis der christlichen Kirche! Die Hälfte der Sätze besagt unvorstellbare Mysterien, von denen die Theologen selber zugeben: »der Laie kann sie nicht ver- stehen«; in Wahrheit ist aber von einem »Verstehen« in der logischen, sinnfällig fasslichen Bedeutung des Wortes überhaupt so wenig die Rede, dass man diesem einen kurzen Credo die verschiedensten, einander widersprechenden Lehren entnommen hat. 1) Und nun nehme man gar das Athanasische Symbolum! Hier besteht der Stoff des religiösen Glaubens ausschliesslich aus den abstraktesten Spekulationen des Menschenhirns. Wie sollte der Glaube, im semitischen Sinn, Begriffe auffassen können, mit denen nicht ein Mensch in einer Million auch nur die blasseste Vorstellung zu verbinden vermag? Schon Jesus Christus selber (und zwar gerade dort, wo er sagt: »derer, welche wie diese Kinder sind, ist das Himmelreich«) sprach dennoch: »Das Wort fasset nicht Jedermann, sondern denen es gegeben ist. Wer es fassen mag, der fasse es!« (Matth., XIX., 11, 12). 2) Ganz anders der Semit 1) Vergl. z. B. Harnack: Dogmengeschichte (Grundriss, 2. Aufl.), S. 63 fg. 2) In der syrischen Übersetzung des ältesten bekannten Textes steht: »Jeder der die Kraft besitzt …«, so dass die Deutung nicht zweifelhaft ist (siehe die Übersetzung der Palimpsesthandschrift von Adalbert Merx, 1897).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/432>, abgerufen am 08.09.2024.