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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nie etwas von Sündenfall, von Rechtfertigung durch den Glauben, von
Erlösung, von Gnade gewusst;1) womit er jedoch nur zeigt, dass sie
das, was die übrige Welt Religion nennt, kaum ahnen. In Dr. Ludwig
Philippson's Israelitischer Religionslehre (Leipzig 1861), einer orthodox
jüdischen, "der Zukunft der israelitischen Religion" gewidmeten Dar-
stellung, wird als eines der drei "unterscheidenden Merkmale" dieser
Religion der Satz hingestellt: "Die israelitische Religion hat und kennt
keine Geheimnisse, keine Mysterien" (I, 34). Ebenso gesteht einmal
Renan in einer Anwandlung rücksichtsloser Aufrichtigkeit: "Der semi-
tische Gottesglaube (Monotheismus) ist in Wirklichkeit die Frucht einer
Menschenrasse, deren religiöse Bedürfnisse sehr gering sind. Er be-
deutet ein Minimum an Religion
".2) Ein grosses, wahres Wort,
welches nur darum seine Wirkung verfehlte, weil Renan nicht zeigte,
wieso und inwiefern und aus welchem zwingenden Grund der wegen
der Glut seines Glaubens berühmte Semit dennoch nur ein Minimum
an wahrer Religion besitzt. Die Erklärung liegt offen vor uns: wo
Verstand und Phantasie vom blinden Willen unterjocht sind, da kann,
da darf es kein Wunder geben, nichts Unerreichbares, keinen "Weg
ins Unbetretene, nicht zu Betretende",3) nichts, was die Hand nicht
ergreifen und der Augenblick (sei es auch nur als klar vorstellbare
Hoffnung) nicht besitzen kann. Selbst ein so hoher Geist wie
Deuterojesaia betrachtet den religiösen Glauben als etwas, was auf
empirischer Grundlage ruhe und durch ein gewissermassen gericht-
liches Verfahren geprüft werden könne: "Lasst die Heiden Zeugen
stellen und beweisen, so wird man es hören und sagen: es ist die
Wahrheit" (XLIII, 9). Genau dasselbe lesen wir in der zweiten Sura
des Koran: "Rufet eure Zeugen, wenn ihr wahr sprechet". Der oben
angeführte heutige jüdische Religionslehrer, Philippson, legt ausführlich
auseinander, der Jude glaube einzig und allein das, was er mit
Augen gesehen habe,
ein "blinder Glaube" sei ihm unbekannt,
und in einer langen Anmerkung führt er sämtliche Stellen der Bibel
an, in welchen von "Glauben an Gott" die Rede ist, und behauptet,

1) A. a. O., namentlich S. 514, 524 und 544, aber auch an vielen anderen Orten.
2) Nouvelles considerations sur les peuples semitiques, (Journal Asiatique 1859,
p. 254). Auch Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 33, bezeugt, der
echte Semit habe "wenig Religion".
3) Oder wie die Brihadaranyaka--Upanishad dieselbe Vorstellung wieder-
giebt: "die Wegspur des Weltalls, der man nachzugehen hat, um aus dem Tei
ins ganze Weltall
zu gelangen". (1, 4, 7.)

Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte.
nie etwas von Sündenfall, von Rechtfertigung durch den Glauben, von
Erlösung, von Gnade gewusst;1) womit er jedoch nur zeigt, dass sie
das, was die übrige Welt Religion nennt, kaum ahnen. In Dr. Ludwig
Philippson’s Israelitischer Religionslehre (Leipzig 1861), einer orthodox
jüdischen, »der Zukunft der israelitischen Religion« gewidmeten Dar-
stellung, wird als eines der drei »unterscheidenden Merkmale« dieser
Religion der Satz hingestellt: »Die israelitische Religion hat und kennt
keine Geheimnisse, keine Mysterien« (I, 34). Ebenso gesteht einmal
Renan in einer Anwandlung rücksichtsloser Aufrichtigkeit: »Der semi-
tische Gottesglaube (Monotheismus) ist in Wirklichkeit die Frucht einer
Menschenrasse, deren religiöse Bedürfnisse sehr gering sind. Er be-
deutet ein Minimum an Religion
«.2) Ein grosses, wahres Wort,
welches nur darum seine Wirkung verfehlte, weil Renan nicht zeigte,
wieso und inwiefern und aus welchem zwingenden Grund der wegen
der Glut seines Glaubens berühmte Semit dennoch nur ein Minimum
an wahrer Religion besitzt. Die Erklärung liegt offen vor uns: wo
Verstand und Phantasie vom blinden Willen unterjocht sind, da kann,
da darf es kein Wunder geben, nichts Unerreichbares, keinen »Weg
ins Unbetretene, nicht zu Betretende«,3) nichts, was die Hand nicht
ergreifen und der Augenblick (sei es auch nur als klar vorstellbare
Hoffnung) nicht besitzen kann. Selbst ein so hoher Geist wie
Deuterojesaia betrachtet den religiösen Glauben als etwas, was auf
empirischer Grundlage ruhe und durch ein gewissermassen gericht-
liches Verfahren geprüft werden könne: »Lasst die Heiden Zeugen
stellen und beweisen, so wird man es hören und sagen: es ist die
Wahrheit« (XLIII, 9). Genau dasselbe lesen wir in der zweiten Sura
des Koran: »Rufet eure Zeugen, wenn ihr wahr sprechet«. Der oben
angeführte heutige jüdische Religionslehrer, Philippson, legt ausführlich
auseinander, der Jude glaube einzig und allein das, was er mit
Augen gesehen habe,
ein »blinder Glaube« sei ihm unbekannt,
und in einer langen Anmerkung führt er sämtliche Stellen der Bibel
an, in welchen von »Glauben an Gott« die Rede ist, und behauptet,

1) A. a. O., namentlich S. 514, 524 und 544, aber auch an vielen anderen Orten.
2) Nouvelles considérations sur les peuples sémitiques, (Journal Asiatique 1859,
p. 254). Auch Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 33, bezeugt, der
echte Semit habe »wenig Religion«.
3) Oder wie die Brihadâranyaka—Upanishad dieselbe Vorstellung wieder-
giebt: »die Wegspur des Weltalls, der man nachzugehen hat, um aus dem Tei
ins ganze Weltall
zu gelangen«. (1, 4, 7.)
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[393/0416] Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. nie etwas von Sündenfall, von Rechtfertigung durch den Glauben, von Erlösung, von Gnade gewusst; 1) womit er jedoch nur zeigt, dass sie das, was die übrige Welt Religion nennt, kaum ahnen. In Dr. Ludwig Philippson’s Israelitischer Religionslehre (Leipzig 1861), einer orthodox jüdischen, »der Zukunft der israelitischen Religion« gewidmeten Dar- stellung, wird als eines der drei »unterscheidenden Merkmale« dieser Religion der Satz hingestellt: »Die israelitische Religion hat und kennt keine Geheimnisse, keine Mysterien« (I, 34). Ebenso gesteht einmal Renan in einer Anwandlung rücksichtsloser Aufrichtigkeit: »Der semi- tische Gottesglaube (Monotheismus) ist in Wirklichkeit die Frucht einer Menschenrasse, deren religiöse Bedürfnisse sehr gering sind. Er be- deutet ein Minimum an Religion«. 2) Ein grosses, wahres Wort, welches nur darum seine Wirkung verfehlte, weil Renan nicht zeigte, wieso und inwiefern und aus welchem zwingenden Grund der wegen der Glut seines Glaubens berühmte Semit dennoch nur ein Minimum an wahrer Religion besitzt. Die Erklärung liegt offen vor uns: wo Verstand und Phantasie vom blinden Willen unterjocht sind, da kann, da darf es kein Wunder geben, nichts Unerreichbares, keinen »Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende«, 3) nichts, was die Hand nicht ergreifen und der Augenblick (sei es auch nur als klar vorstellbare Hoffnung) nicht besitzen kann. Selbst ein so hoher Geist wie Deuterojesaia betrachtet den religiösen Glauben als etwas, was auf empirischer Grundlage ruhe und durch ein gewissermassen gericht- liches Verfahren geprüft werden könne: »Lasst die Heiden Zeugen stellen und beweisen, so wird man es hören und sagen: es ist die Wahrheit« (XLIII, 9). Genau dasselbe lesen wir in der zweiten Sura des Koran: »Rufet eure Zeugen, wenn ihr wahr sprechet«. Der oben angeführte heutige jüdische Religionslehrer, Philippson, legt ausführlich auseinander, der Jude glaube einzig und allein das, was er mit Augen gesehen habe, ein »blinder Glaube« sei ihm unbekannt, und in einer langen Anmerkung führt er sämtliche Stellen der Bibel an, in welchen von »Glauben an Gott« die Rede ist, und behauptet, 1) A. a. O., namentlich S. 514, 524 und 544, aber auch an vielen anderen Orten. 2) Nouvelles considérations sur les peuples sémitiques, (Journal Asiatique 1859, p. 254). Auch Robertson Smith: The Prophets of Israel, p. 33, bezeugt, der echte Semit habe »wenig Religion«. 3) Oder wie die Brihadâranyaka—Upanishad dieselbe Vorstellung wieder- giebt: »die Wegspur des Weltalls, der man nachzugehen hat, um aus dem Tei ins ganze Weltall zu gelangen«. (1, 4, 7.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/416>, abgerufen am 07.09.2024.