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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
und das, was eine feste Errungenschaft der Geschichte ausmacht, ist:
erstens, dass das israelitische Volk das Produkt vielfältiger Mischungen
darstellt, und zwar nicht Mischungen zwischen verwandten Typen
(wie etwa die alten Griechen oder die heutigen Engländer), sondern
zwischen physisch und moralisch durchaus von einander abweichenden
Typen; zweitens, dass echt semitisches Blut (wenn dieser Notbegriff
überhaupt einen Sinn behalten soll) wohl kaum die Hälfte dieses Ge-
menges ausmacht. Das sind sichere Ergebnisse der exakten ana-
tomischen Anthropologie und der Geschichtsforschung, zweier Wissens-
zweige, welche sich hier gegenseitig helfend die Hand reichen.
Eine dritte Einsicht ergänzt die genannten; wir verdanken sie den
kritischen Bemühungen der biblischen Archäologie, durch welche in
die höchst verwickelte Chronologie der aus den verschiedensten Jahr-
hunderten stammenden und dann ganz willkürlich, doch nicht plan-
los, zusammengestellten Schriften des Alten Testamentes endlich Licht
gebracht worden ist: diese belehren uns, dass der eigentliche Jude
nicht mit dem Israeliten im weiteren Sinne des Wortes zu identifi-
zieren ist, dass das Haus Juda schon bei der Ansiedlung in Palästina
sich von dem (die übrigen Stämme umfassenden) Hause Joseph durch
Blutmischung und Anlagen in etlichen Punkten unterschied und zwar
so, dass der Judäer zum Josephiten in einer Art geistiger Abhängigkeit
stand, und dass er erst relativ sehr spät, nach der gewaltsamen Ab-
sonderung von seinen Brüdern, eigene Wege -- die Wege, die zum
Judentum führten -- zu wandeln begann, welche ihn dann bald durch
seine zum religiösen Prinzip erhobene Inzucht von der ganzen Welt
isolierten. Der Jude kann insofern ein Israelit genannt werden, als
er ein Schössling aus jener Familie ist; der Israelit dagegen, auch der
aus dem Stamme Juda, war zunächst kein Jude, sondern der Jude
begann erst dann zu entstehen, als die kräftigeren Stämme des Nordens
durch die Assyrer vernichtet worden waren. Um zu erfahren, wer
der Jude ist, haben wir also zunächst festzustellen, wer der Israelit
war, und sodann erst nachzufragen, wie der Israelit des Stammes Juda
(und Benjamin) zum Juden wurde. Und da ist Vorsicht im Gebrauch
der Quellen nötig. Erst nach der babylonischen Gefangenschaft
künstelte man nämlich den spezifisch jüdischen Charakter in die Bibel
hinein, indem ganze Bücher erfunden und dem Moses zugeschrieben
wurden, und indem häufig Vers für Vers Interpolationen und Korrek-
turen die freiere Anschauung Altisraels verwischten und durch den
engen jerusalemitischen Jahvekultus ersetzten, als habe dieser von jeher

Die Erben.
und das, was eine feste Errungenschaft der Geschichte ausmacht, ist:
erstens, dass das israelitische Volk das Produkt vielfältiger Mischungen
darstellt, und zwar nicht Mischungen zwischen verwandten Typen
(wie etwa die alten Griechen oder die heutigen Engländer), sondern
zwischen physisch und moralisch durchaus von einander abweichenden
Typen; zweitens, dass echt semitisches Blut (wenn dieser Notbegriff
überhaupt einen Sinn behalten soll) wohl kaum die Hälfte dieses Ge-
menges ausmacht. Das sind sichere Ergebnisse der exakten ana-
tomischen Anthropologie und der Geschichtsforschung, zweier Wissens-
zweige, welche sich hier gegenseitig helfend die Hand reichen.
Eine dritte Einsicht ergänzt die genannten; wir verdanken sie den
kritischen Bemühungen der biblischen Archäologie, durch welche in
die höchst verwickelte Chronologie der aus den verschiedensten Jahr-
hunderten stammenden und dann ganz willkürlich, doch nicht plan-
los, zusammengestellten Schriften des Alten Testamentes endlich Licht
gebracht worden ist: diese belehren uns, dass der eigentliche Jude
nicht mit dem Israeliten im weiteren Sinne des Wortes zu identifi-
zieren ist, dass das Haus Juda schon bei der Ansiedlung in Palästina
sich von dem (die übrigen Stämme umfassenden) Hause Joseph durch
Blutmischung und Anlagen in etlichen Punkten unterschied und zwar
so, dass der Judäer zum Josephiten in einer Art geistiger Abhängigkeit
stand, und dass er erst relativ sehr spät, nach der gewaltsamen Ab-
sonderung von seinen Brüdern, eigene Wege — die Wege, die zum
Judentum führten — zu wandeln begann, welche ihn dann bald durch
seine zum religiösen Prinzip erhobene Inzucht von der ganzen Welt
isolierten. Der Jude kann insofern ein Israelit genannt werden, als
er ein Schössling aus jener Familie ist; der Israelit dagegen, auch der
aus dem Stamme Juda, war zunächst kein Jude, sondern der Jude
begann erst dann zu entstehen, als die kräftigeren Stämme des Nordens
durch die Assyrer vernichtet worden waren. Um zu erfahren, wer
der Jude ist, haben wir also zunächst festzustellen, wer der Israelit
war, und sodann erst nachzufragen, wie der Israelit des Stammes Juda
(und Benjamin) zum Juden wurde. Und da ist Vorsicht im Gebrauch
der Quellen nötig. Erst nach der babylonischen Gefangenschaft
künstelte man nämlich den spezifisch jüdischen Charakter in die Bibel
hinein, indem ganze Bücher erfunden und dem Moses zugeschrieben
wurden, und indem häufig Vers für Vers Interpolationen und Korrek-
turen die freiere Anschauung Altisraels verwischten und durch den
engen jerusalemitischen Jahvekultus ersetzten, als habe dieser von jeher

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[346/0369] Die Erben. und das, was eine feste Errungenschaft der Geschichte ausmacht, ist: erstens, dass das israelitische Volk das Produkt vielfältiger Mischungen darstellt, und zwar nicht Mischungen zwischen verwandten Typen (wie etwa die alten Griechen oder die heutigen Engländer), sondern zwischen physisch und moralisch durchaus von einander abweichenden Typen; zweitens, dass echt semitisches Blut (wenn dieser Notbegriff überhaupt einen Sinn behalten soll) wohl kaum die Hälfte dieses Ge- menges ausmacht. Das sind sichere Ergebnisse der exakten ana- tomischen Anthropologie und der Geschichtsforschung, zweier Wissens- zweige, welche sich hier gegenseitig helfend die Hand reichen. Eine dritte Einsicht ergänzt die genannten; wir verdanken sie den kritischen Bemühungen der biblischen Archäologie, durch welche in die höchst verwickelte Chronologie der aus den verschiedensten Jahr- hunderten stammenden und dann ganz willkürlich, doch nicht plan- los, zusammengestellten Schriften des Alten Testamentes endlich Licht gebracht worden ist: diese belehren uns, dass der eigentliche Jude nicht mit dem Israeliten im weiteren Sinne des Wortes zu identifi- zieren ist, dass das Haus Juda schon bei der Ansiedlung in Palästina sich von dem (die übrigen Stämme umfassenden) Hause Joseph durch Blutmischung und Anlagen in etlichen Punkten unterschied und zwar so, dass der Judäer zum Josephiten in einer Art geistiger Abhängigkeit stand, und dass er erst relativ sehr spät, nach der gewaltsamen Ab- sonderung von seinen Brüdern, eigene Wege — die Wege, die zum Judentum führten — zu wandeln begann, welche ihn dann bald durch seine zum religiösen Prinzip erhobene Inzucht von der ganzen Welt isolierten. Der Jude kann insofern ein Israelit genannt werden, als er ein Schössling aus jener Familie ist; der Israelit dagegen, auch der aus dem Stamme Juda, war zunächst kein Jude, sondern der Jude begann erst dann zu entstehen, als die kräftigeren Stämme des Nordens durch die Assyrer vernichtet worden waren. Um zu erfahren, wer der Jude ist, haben wir also zunächst festzustellen, wer der Israelit war, und sodann erst nachzufragen, wie der Israelit des Stammes Juda (und Benjamin) zum Juden wurde. Und da ist Vorsicht im Gebrauch der Quellen nötig. Erst nach der babylonischen Gefangenschaft künstelte man nämlich den spezifisch jüdischen Charakter in die Bibel hinein, indem ganze Bücher erfunden und dem Moses zugeschrieben wurden, und indem häufig Vers für Vers Interpolationen und Korrek- turen die freiere Anschauung Altisraels verwischten und durch den engen jerusalemitischen Jahvekultus ersetzten, als habe dieser von jeher

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/369>, abgerufen am 03.09.2024.