Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Erbe der alten Welt.
gehoben werden, wie die vielseitige, verwickelte Eigenart der Erbschaft
selber.

Vor einer Zusammenfassung scheue ich zurück. Was ich über
unsere reiche, in unser geistiges Leben so tief eingreifende hellenische
Erbschaft vorgebracht habe, ist ja schon an und für sich ein blosser
Auszug, eine blosse Andeutung; wird ein derartiges Verfahren noch
weiter getrieben, so wird zuletzt jeder konkrete Inhalt sublimiert, die
geschwungenen Linien des Lebens schrumpfen zu Geraden zusammen,
es bleibt eine geometrische Figur zurück, eine Konstruktion des Geistes,
nicht ein Abbild der mannigfaltigen, alle Widersprüche in sich ver-
einigenden Wahrheit. Die Geschichtsphilosophie selbst der bedeutendsten
Männer -- als Beispiel will ich einzig Herder nennen -- regt immer
eher zu Widerspruch als zu richtigen Erkenntnissen an. Ausserdem
ist diesem Werke ein näheres Ziel gesteckt: nicht das Hellenentum
hatte hier beurteilt oder geschichtlich erklärt zu werden, sondern es
genügte, unserem Bewusstsein nahezubringen, wie unendlich viel von
ihm auf uns übergegangen ist und noch heute gestaltend auf unser
Dichten, Denken, Glauben, Forschen wirkt. In Ermangelung von
Vollständigkeit suchte ich Lebendigkeit und Wahrheit. Ich kann dem
Leser jedoch nicht die Mühe ersparen, meine Ausführungen von
Anfang bis Ende durchzulesen.



Das Erbe der alten Welt.
gehoben werden, wie die vielseitige, verwickelte Eigenart der Erbschaft
selber.

Vor einer Zusammenfassung scheue ich zurück. Was ich über
unsere reiche, in unser geistiges Leben so tief eingreifende hellenische
Erbschaft vorgebracht habe, ist ja schon an und für sich ein blosser
Auszug, eine blosse Andeutung; wird ein derartiges Verfahren noch
weiter getrieben, so wird zuletzt jeder konkrete Inhalt sublimiert, die
geschwungenen Linien des Lebens schrumpfen zu Geraden zusammen,
es bleibt eine geometrische Figur zurück, eine Konstruktion des Geistes,
nicht ein Abbild der mannigfaltigen, alle Widersprüche in sich ver-
einigenden Wahrheit. Die Geschichtsphilosophie selbst der bedeutendsten
Männer — als Beispiel will ich einzig Herder nennen — regt immer
eher zu Widerspruch als zu richtigen Erkenntnissen an. Ausserdem
ist diesem Werke ein näheres Ziel gesteckt: nicht das Hellenentum
hatte hier beurteilt oder geschichtlich erklärt zu werden, sondern es
genügte, unserem Bewusstsein nahezubringen, wie unendlich viel von
ihm auf uns übergegangen ist und noch heute gestaltend auf unser
Dichten, Denken, Glauben, Forschen wirkt. In Ermangelung von
Vollständigkeit suchte ich Lebendigkeit und Wahrheit. Ich kann dem
Leser jedoch nicht die Mühe ersparen, meine Ausführungen von
Anfang bis Ende durchzulesen.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0141" n="118"/><fw place="top" type="header">Das Erbe der alten Welt.</fw><lb/>
gehoben werden, wie die vielseitige, verwickelte Eigenart der Erbschaft<lb/>
selber.</p><lb/>
            <p>Vor einer Zusammenfassung scheue ich zurück. Was ich über<lb/>
unsere reiche, in unser geistiges Leben so tief eingreifende hellenische<lb/>
Erbschaft vorgebracht habe, ist ja schon an und für sich ein blosser<lb/>
Auszug, eine blosse Andeutung; wird ein derartiges Verfahren noch<lb/>
weiter getrieben, so wird zuletzt jeder konkrete Inhalt sublimiert, die<lb/>
geschwungenen Linien des Lebens schrumpfen zu Geraden zusammen,<lb/>
es bleibt eine geometrische Figur zurück, eine Konstruktion des Geistes,<lb/>
nicht ein Abbild der mannigfaltigen, alle Widersprüche in sich ver-<lb/>
einigenden Wahrheit. Die Geschichtsphilosophie selbst der bedeutendsten<lb/>
Männer &#x2014; als Beispiel will ich einzig Herder nennen &#x2014; regt immer<lb/>
eher zu Widerspruch als zu richtigen Erkenntnissen an. Ausserdem<lb/>
ist diesem Werke ein näheres Ziel gesteckt: nicht das Hellenentum<lb/>
hatte hier beurteilt oder geschichtlich erklärt zu werden, sondern es<lb/>
genügte, unserem Bewusstsein nahezubringen, wie unendlich viel von<lb/>
ihm auf uns übergegangen ist und noch heute gestaltend auf unser<lb/>
Dichten, Denken, Glauben, Forschen wirkt. In Ermangelung von<lb/>
Vollständigkeit suchte ich Lebendigkeit und Wahrheit. Ich kann dem<lb/>
Leser jedoch nicht die Mühe ersparen, meine Ausführungen von<lb/>
Anfang bis Ende durchzulesen.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0141] Das Erbe der alten Welt. gehoben werden, wie die vielseitige, verwickelte Eigenart der Erbschaft selber. Vor einer Zusammenfassung scheue ich zurück. Was ich über unsere reiche, in unser geistiges Leben so tief eingreifende hellenische Erbschaft vorgebracht habe, ist ja schon an und für sich ein blosser Auszug, eine blosse Andeutung; wird ein derartiges Verfahren noch weiter getrieben, so wird zuletzt jeder konkrete Inhalt sublimiert, die geschwungenen Linien des Lebens schrumpfen zu Geraden zusammen, es bleibt eine geometrische Figur zurück, eine Konstruktion des Geistes, nicht ein Abbild der mannigfaltigen, alle Widersprüche in sich ver- einigenden Wahrheit. Die Geschichtsphilosophie selbst der bedeutendsten Männer — als Beispiel will ich einzig Herder nennen — regt immer eher zu Widerspruch als zu richtigen Erkenntnissen an. Ausserdem ist diesem Werke ein näheres Ziel gesteckt: nicht das Hellenentum hatte hier beurteilt oder geschichtlich erklärt zu werden, sondern es genügte, unserem Bewusstsein nahezubringen, wie unendlich viel von ihm auf uns übergegangen ist und noch heute gestaltend auf unser Dichten, Denken, Glauben, Forschen wirkt. In Ermangelung von Vollständigkeit suchte ich Lebendigkeit und Wahrheit. Ich kann dem Leser jedoch nicht die Mühe ersparen, meine Ausführungen von Anfang bis Ende durchzulesen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/141
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/141>, abgerufen am 20.12.2024.