dabei nicht bloß an die Form des Körpers, sondern an die Entwickelung aller Lebenserscheinungen, auch an die der Seele. Es ist nur ein Zeichen seiner Consequenz, wenn er bei dem Versuche, die Verwandlung der Arten aus Ursachen zu erklären, welche in der Natur der Körperwelt begründet sind, auch die letztere in ähnlicher Weise behandelt. Hier sagt er ausdrücklich: "Ich sehe in diesem künstlich angenommenen Wesen, für welches mir die Natur kein Modell darbietet, nur ein Mittel, wel- ches man sich ausgedacht hat, die sonst nicht zu hebenden Schwierig- keiten zu lösen, so lange man die Gesetze der Natur nicht hinreichend untersucht hat"71).
Lamarck war nach den hier angezogenen Aussprüchen der Gründer derjenigen Theorie von dem Ursprung der Arten, welche man jetzt all- gemein die Descendenztheorie nennt. Umfaßt auch seine Ansicht noch nicht die wichtigen Momente, welche ihr später zur Begründung gege- ben wurden, so weist er doch darauf hin, daß es nur Individuen gibt, daß die Zeit grenzenlos ist, also keine Schranke für etwaige langsame Umbildungen zieht, daß der Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe sie stärkt oder atrophiren läßt. Die Goethe'schen Ideen von einem Urtypus, aus dem sich alle Thiere entwickelt hätten, sind zu vag, als daß sie für mehr als ein Zeichen des allgemeinen geistigen Drängens nach einer Richtung hin genommen werden können. Oken's Bilder von der Entwickelung aus dem Wasser zum Lande und zur Luft hin, sind ohne irgend welche Anknüpfung an thatsächliche Erscheinungen hinge- stellt. Und selbst wenn man beiden den Rang von Vorläufern einräu- men wollte, so bliebe doch Lamarck immer das Verdienst, der Theorie zuerst einen wissenschaftlichen Boden bereitet zu haben. Eine besondere Erwähnung als Vertreter einer ganz ähnlichen Anschauung gebührt F. S. Voigt, welcher in seinen 1817 erschienenen Grundzügen einer Naturgeschichte mehrfach der Wahrheit nahe kommt. Freilich nimmt er an, daß die hauptsächlichsten Umänderungen an den früher einfachen Thieren eingetreten seien, ehe das Geschlecht ausgebildet war, und ver- schließt sich hierdurch die Möglichkeit, spätere Umwandlungen anzuneh-
71) ebenda T. II. p. 173.
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Entwickelung der Thierwelt.
dabei nicht bloß an die Form des Körpers, ſondern an die Entwickelung aller Lebenserſcheinungen, auch an die der Seele. Es iſt nur ein Zeichen ſeiner Conſequenz, wenn er bei dem Verſuche, die Verwandlung der Arten aus Urſachen zu erklären, welche in der Natur der Körperwelt begründet ſind, auch die letztere in ähnlicher Weiſe behandelt. Hier ſagt er ausdrücklich: „Ich ſehe in dieſem künſtlich angenommenen Weſen, für welches mir die Natur kein Modell darbietet, nur ein Mittel, wel- ches man ſich ausgedacht hat, die ſonſt nicht zu hebenden Schwierig- keiten zu löſen, ſo lange man die Geſetze der Natur nicht hinreichend unterſucht hat“71).
Lamarck war nach den hier angezogenen Ausſprüchen der Gründer derjenigen Theorie von dem Urſprung der Arten, welche man jetzt all- gemein die Deſcendenztheorie nennt. Umfaßt auch ſeine Anſicht noch nicht die wichtigen Momente, welche ihr ſpäter zur Begründung gege- ben wurden, ſo weiſt er doch darauf hin, daß es nur Individuen gibt, daß die Zeit grenzenlos iſt, alſo keine Schranke für etwaige langſame Umbildungen zieht, daß der Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe ſie ſtärkt oder atrophiren läßt. Die Goethe'ſchen Ideen von einem Urtypus, aus dem ſich alle Thiere entwickelt hätten, ſind zu vag, als daß ſie für mehr als ein Zeichen des allgemeinen geiſtigen Drängens nach einer Richtung hin genommen werden können. Oken's Bilder von der Entwickelung aus dem Waſſer zum Lande und zur Luft hin, ſind ohne irgend welche Anknüpfung an thatſächliche Erſcheinungen hinge- ſtellt. Und ſelbſt wenn man beiden den Rang von Vorläufern einräu- men wollte, ſo bliebe doch Lamarck immer das Verdienſt, der Theorie zuerſt einen wiſſenſchaftlichen Boden bereitet zu haben. Eine beſondere Erwähnung als Vertreter einer ganz ähnlichen Anſchauung gebührt F. S. Voigt, welcher in ſeinen 1817 erſchienenen Grundzügen einer Naturgeſchichte mehrfach der Wahrheit nahe kommt. Freilich nimmt er an, daß die hauptſächlichſten Umänderungen an den früher einfachen Thieren eingetreten ſeien, ehe das Geſchlecht ausgebildet war, und ver- ſchließt ſich hierdurch die Möglichkeit, ſpätere Umwandlungen anzuneh-
71) ebenda T. II. p. 173.
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Entwickelung der Thierwelt.
dabei nicht bloß an die Form des Körpers, ſondern an die Entwickelung
aller Lebenserſcheinungen, auch an die der Seele. Es iſt nur ein
Zeichen ſeiner Conſequenz, wenn er bei dem Verſuche, die Verwandlung
der Arten aus Urſachen zu erklären, welche in der Natur der Körperwelt
begründet ſind, auch die letztere in ähnlicher Weiſe behandelt. Hier ſagt
er ausdrücklich: „Ich ſehe in dieſem künſtlich angenommenen Weſen,
für welches mir die Natur kein Modell darbietet, nur ein Mittel, wel-
ches man ſich ausgedacht hat, die ſonſt nicht zu hebenden Schwierig-
keiten zu löſen, ſo lange man die Geſetze der Natur nicht hinreichend
unterſucht hat“ 71).
Lamarck war nach den hier angezogenen Ausſprüchen der Gründer
derjenigen Theorie von dem Urſprung der Arten, welche man jetzt all-
gemein die Deſcendenztheorie nennt. Umfaßt auch ſeine Anſicht noch
nicht die wichtigen Momente, welche ihr ſpäter zur Begründung gege-
ben wurden, ſo weiſt er doch darauf hin, daß es nur Individuen gibt,
daß die Zeit grenzenlos iſt, alſo keine Schranke für etwaige langſame
Umbildungen zieht, daß der Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe
ſie ſtärkt oder atrophiren läßt. Die Goethe'ſchen Ideen von einem
Urtypus, aus dem ſich alle Thiere entwickelt hätten, ſind zu vag, als
daß ſie für mehr als ein Zeichen des allgemeinen geiſtigen Drängens
nach einer Richtung hin genommen werden können. Oken's Bilder von
der Entwickelung aus dem Waſſer zum Lande und zur Luft hin, ſind
ohne irgend welche Anknüpfung an thatſächliche Erſcheinungen hinge-
ſtellt. Und ſelbſt wenn man beiden den Rang von Vorläufern einräu-
men wollte, ſo bliebe doch Lamarck immer das Verdienſt, der Theorie
zuerſt einen wiſſenſchaftlichen Boden bereitet zu haben. Eine beſondere
Erwähnung als Vertreter einer ganz ähnlichen Anſchauung gebührt
F. S. Voigt, welcher in ſeinen 1817 erſchienenen Grundzügen einer
Naturgeſchichte mehrfach der Wahrheit nahe kommt. Freilich nimmt er
an, daß die hauptſächlichſten Umänderungen an den früher einfachen
Thieren eingetreten ſeien, ehe das Geſchlecht ausgebildet war, und ver-
ſchließt ſich hierdurch die Möglichkeit, ſpätere Umwandlungen anzuneh-
71) ebenda T. II. p. 173.
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 723. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/734>, abgerufen am 22.11.2024.
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