tigkeit zu bringen. Es zeigte sich aber bald, daß die Thatsachen der Ent- wickelungsgeschichte neben den Momenten, welche das Zustandekommen der Lebenserscheinungen erklärten oder zu erklären suchten und welche vorzugsweise dynamischer Art waren, fast ganz unvermittelt dastanden, daß aber die vergleichende Anatomie selbst unerwartete Aufklärungen aus ihnen schöpfen konnte. Hiernach bestimmte sich die Richtung, welche bei der Bearbeitung der Entwickelungsgeschichte eingeschlagen wurde, beinahe von selbst in der Weise, daß vorwaltend anfangs empi- rische Verhältnisse über das Auftreten einzelner anatomischer Systeme und Organe in bestimmten Thiergruppen klar gestellt wurden und daß sich hieran einerseits die Untersuchungen über die Entwickelung derselben Systeme durch größere Thierreihen und endlich solche über den gemein- samen, der ganzen Entwickelung in diesen Reihen zu Grunde liegenden Plan schlossen. Als nothwendiges Complement fiel dann noch der letzten Untersuchungsreihe der Ausgangspunkt aller Entwickelung, das Ei selbst, zu, dessen Natur, Beschaffenheit und Zusammenhang nach- gewiesen werden mußte, um dann später in Verbindung mit der Zellen- lehre den Schlußstein in die Lehre von der einheitlichen Zusammensetzung aller Thiere zu fügen.
Zunächst waren es die Wirbelthiere, besonders die Säugethiere, deren Embryonen und Eihüllen man untersuchte, um die betreffenden noch immer in sehr widersprechender Weise geschilderten Verhältnisse beim Menschen aufzuklären, während das leichter zugängliche Hühnchen Aufschlüsse über die allmählichen Formveränderungen des Körpers und einzelner Theile zu geben hatte. Aus einer Reihe von Abbildungen, wie sie Everard Home in seinen Vorlesungen von der Entwickelung des letztern mittheilt, war freilich nicht viel mehr zu ersehn, als daß der junge Vogel allmählich an Größe zunimmt. Daneben erschienen aber wichtige Einzeldarstellungen; so untersuchte Oken das Ei der Säuge- thiere, und obgleich er manches entschieden falsch deutete, so bildete doch seine Arbeit in mehr als einer Beziehung den Wendepunkt in diesem Gebiete und fesselte das Interesse einer großen Zahl von Forschern an diese Aufgabe. Es können von diesen nur diejenigen erwähnt werden, welche auch allgemeinere Vergleichungen berücksichtigten. Untersuchun-
Periode der Morphologie.
tigkeit zu bringen. Es zeigte ſich aber bald, daß die Thatſachen der Ent- wickelungsgeſchichte neben den Momenten, welche das Zuſtandekommen der Lebenserſcheinungen erklärten oder zu erklären ſuchten und welche vorzugsweiſe dynamiſcher Art waren, faſt ganz unvermittelt daſtanden, daß aber die vergleichende Anatomie ſelbſt unerwartete Aufklärungen aus ihnen ſchöpfen konnte. Hiernach beſtimmte ſich die Richtung, welche bei der Bearbeitung der Entwickelungsgeſchichte eingeſchlagen wurde, beinahe von ſelbſt in der Weiſe, daß vorwaltend anfangs empi- riſche Verhältniſſe über das Auftreten einzelner anatomiſcher Syſteme und Organe in beſtimmten Thiergruppen klar geſtellt wurden und daß ſich hieran einerſeits die Unterſuchungen über die Entwickelung derſelben Syſteme durch größere Thierreihen und endlich ſolche über den gemein- ſamen, der ganzen Entwickelung in dieſen Reihen zu Grunde liegenden Plan ſchloſſen. Als nothwendiges Complement fiel dann noch der letzten Unterſuchungsreihe der Ausgangspunkt aller Entwickelung, das Ei ſelbſt, zu, deſſen Natur, Beſchaffenheit und Zuſammenhang nach- gewieſen werden mußte, um dann ſpäter in Verbindung mit der Zellen- lehre den Schlußſtein in die Lehre von der einheitlichen Zuſammenſetzung aller Thiere zu fügen.
Zunächſt waren es die Wirbelthiere, beſonders die Säugethiere, deren Embryonen und Eihüllen man unterſuchte, um die betreffenden noch immer in ſehr widerſprechender Weiſe geſchilderten Verhältniſſe beim Menſchen aufzuklären, während das leichter zugängliche Hühnchen Aufſchlüſſe über die allmählichen Formveränderungen des Körpers und einzelner Theile zu geben hatte. Aus einer Reihe von Abbildungen, wie ſie Everard Home in ſeinen Vorleſungen von der Entwickelung des letztern mittheilt, war freilich nicht viel mehr zu erſehn, als daß der junge Vogel allmählich an Größe zunimmt. Daneben erſchienen aber wichtige Einzeldarſtellungen; ſo unterſuchte Oken das Ei der Säuge- thiere, und obgleich er manches entſchieden falſch deutete, ſo bildete doch ſeine Arbeit in mehr als einer Beziehung den Wendepunkt in dieſem Gebiete und feſſelte das Intereſſe einer großen Zahl von Forſchern an dieſe Aufgabe. Es können von dieſen nur diejenigen erwähnt werden, welche auch allgemeinere Vergleichungen berückſichtigten. Unterſuchun-
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[620/0631]
Periode der Morphologie.
tigkeit zu bringen. Es zeigte ſich aber bald, daß die Thatſachen der Ent-
wickelungsgeſchichte neben den Momenten, welche das Zuſtandekommen
der Lebenserſcheinungen erklärten oder zu erklären ſuchten und welche
vorzugsweiſe dynamiſcher Art waren, faſt ganz unvermittelt daſtanden,
daß aber die vergleichende Anatomie ſelbſt unerwartete Aufklärungen
aus ihnen ſchöpfen konnte. Hiernach beſtimmte ſich die Richtung,
welche bei der Bearbeitung der Entwickelungsgeſchichte eingeſchlagen
wurde, beinahe von ſelbſt in der Weiſe, daß vorwaltend anfangs empi-
riſche Verhältniſſe über das Auftreten einzelner anatomiſcher Syſteme
und Organe in beſtimmten Thiergruppen klar geſtellt wurden und daß
ſich hieran einerſeits die Unterſuchungen über die Entwickelung derſelben
Syſteme durch größere Thierreihen und endlich ſolche über den gemein-
ſamen, der ganzen Entwickelung in dieſen Reihen zu Grunde liegenden
Plan ſchloſſen. Als nothwendiges Complement fiel dann noch der
letzten Unterſuchungsreihe der Ausgangspunkt aller Entwickelung, das
Ei ſelbſt, zu, deſſen Natur, Beſchaffenheit und Zuſammenhang nach-
gewieſen werden mußte, um dann ſpäter in Verbindung mit der Zellen-
lehre den Schlußſtein in die Lehre von der einheitlichen Zuſammenſetzung
aller Thiere zu fügen.
Zunächſt waren es die Wirbelthiere, beſonders die Säugethiere,
deren Embryonen und Eihüllen man unterſuchte, um die betreffenden
noch immer in ſehr widerſprechender Weiſe geſchilderten Verhältniſſe
beim Menſchen aufzuklären, während das leichter zugängliche Hühnchen
Aufſchlüſſe über die allmählichen Formveränderungen des Körpers und
einzelner Theile zu geben hatte. Aus einer Reihe von Abbildungen,
wie ſie Everard Home in ſeinen Vorleſungen von der Entwickelung
des letztern mittheilt, war freilich nicht viel mehr zu erſehn, als daß der
junge Vogel allmählich an Größe zunimmt. Daneben erſchienen aber
wichtige Einzeldarſtellungen; ſo unterſuchte Oken das Ei der Säuge-
thiere, und obgleich er manches entſchieden falſch deutete, ſo bildete doch
ſeine Arbeit in mehr als einer Beziehung den Wendepunkt in dieſem
Gebiete und feſſelte das Intereſſe einer großen Zahl von Forſchern an
dieſe Aufgabe. Es können von dieſen nur diejenigen erwähnt werden,
welche auch allgemeinere Vergleichungen berückſichtigten. Unterſuchun-
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 620. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/631>, abgerufen am 05.07.2024.
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