Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Periode der Morphologie.
tigkeit zu bringen. Es zeigte sich aber bald, daß die Thatsachen der Ent-
wickelungsgeschichte neben den Momenten, welche das Zustandekommen
der Lebenserscheinungen erklärten oder zu erklären suchten und welche
vorzugsweise dynamischer Art waren, fast ganz unvermittelt dastanden,
daß aber die vergleichende Anatomie selbst unerwartete Aufklärungen
aus ihnen schöpfen konnte. Hiernach bestimmte sich die Richtung,
welche bei der Bearbeitung der Entwickelungsgeschichte eingeschlagen
wurde, beinahe von selbst in der Weise, daß vorwaltend anfangs empi-
rische Verhältnisse über das Auftreten einzelner anatomischer Systeme
und Organe in bestimmten Thiergruppen klar gestellt wurden und daß
sich hieran einerseits die Untersuchungen über die Entwickelung derselben
Systeme durch größere Thierreihen und endlich solche über den gemein-
samen, der ganzen Entwickelung in diesen Reihen zu Grunde liegenden
Plan schlossen. Als nothwendiges Complement fiel dann noch der
letzten Untersuchungsreihe der Ausgangspunkt aller Entwickelung, das
Ei selbst, zu, dessen Natur, Beschaffenheit und Zusammenhang nach-
gewiesen werden mußte, um dann später in Verbindung mit der Zellen-
lehre den Schlußstein in die Lehre von der einheitlichen Zusammensetzung
aller Thiere zu fügen.

Zunächst waren es die Wirbelthiere, besonders die Säugethiere,
deren Embryonen und Eihüllen man untersuchte, um die betreffenden
noch immer in sehr widersprechender Weise geschilderten Verhältnisse
beim Menschen aufzuklären, während das leichter zugängliche Hühnchen
Aufschlüsse über die allmählichen Formveränderungen des Körpers und
einzelner Theile zu geben hatte. Aus einer Reihe von Abbildungen,
wie sie Everard Home in seinen Vorlesungen von der Entwickelung
des letztern mittheilt, war freilich nicht viel mehr zu ersehn, als daß der
junge Vogel allmählich an Größe zunimmt. Daneben erschienen aber
wichtige Einzeldarstellungen; so untersuchte Oken das Ei der Säuge-
thiere, und obgleich er manches entschieden falsch deutete, so bildete doch
seine Arbeit in mehr als einer Beziehung den Wendepunkt in diesem
Gebiete und fesselte das Interesse einer großen Zahl von Forschern an
diese Aufgabe. Es können von diesen nur diejenigen erwähnt werden,
welche auch allgemeinere Vergleichungen berücksichtigten. Untersuchun-

Periode der Morphologie.
tigkeit zu bringen. Es zeigte ſich aber bald, daß die Thatſachen der Ent-
wickelungsgeſchichte neben den Momenten, welche das Zuſtandekommen
der Lebenserſcheinungen erklärten oder zu erklären ſuchten und welche
vorzugsweiſe dynamiſcher Art waren, faſt ganz unvermittelt daſtanden,
daß aber die vergleichende Anatomie ſelbſt unerwartete Aufklärungen
aus ihnen ſchöpfen konnte. Hiernach beſtimmte ſich die Richtung,
welche bei der Bearbeitung der Entwickelungsgeſchichte eingeſchlagen
wurde, beinahe von ſelbſt in der Weiſe, daß vorwaltend anfangs empi-
riſche Verhältniſſe über das Auftreten einzelner anatomiſcher Syſteme
und Organe in beſtimmten Thiergruppen klar geſtellt wurden und daß
ſich hieran einerſeits die Unterſuchungen über die Entwickelung derſelben
Syſteme durch größere Thierreihen und endlich ſolche über den gemein-
ſamen, der ganzen Entwickelung in dieſen Reihen zu Grunde liegenden
Plan ſchloſſen. Als nothwendiges Complement fiel dann noch der
letzten Unterſuchungsreihe der Ausgangspunkt aller Entwickelung, das
Ei ſelbſt, zu, deſſen Natur, Beſchaffenheit und Zuſammenhang nach-
gewieſen werden mußte, um dann ſpäter in Verbindung mit der Zellen-
lehre den Schlußſtein in die Lehre von der einheitlichen Zuſammenſetzung
aller Thiere zu fügen.

Zunächſt waren es die Wirbelthiere, beſonders die Säugethiere,
deren Embryonen und Eihüllen man unterſuchte, um die betreffenden
noch immer in ſehr widerſprechender Weiſe geſchilderten Verhältniſſe
beim Menſchen aufzuklären, während das leichter zugängliche Hühnchen
Aufſchlüſſe über die allmählichen Formveränderungen des Körpers und
einzelner Theile zu geben hatte. Aus einer Reihe von Abbildungen,
wie ſie Everard Home in ſeinen Vorleſungen von der Entwickelung
des letztern mittheilt, war freilich nicht viel mehr zu erſehn, als daß der
junge Vogel allmählich an Größe zunimmt. Daneben erſchienen aber
wichtige Einzeldarſtellungen; ſo unterſuchte Oken das Ei der Säuge-
thiere, und obgleich er manches entſchieden falſch deutete, ſo bildete doch
ſeine Arbeit in mehr als einer Beziehung den Wendepunkt in dieſem
Gebiete und feſſelte das Intereſſe einer großen Zahl von Forſchern an
dieſe Aufgabe. Es können von dieſen nur diejenigen erwähnt werden,
welche auch allgemeinere Vergleichungen berückſichtigten. Unterſuchun-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0631" n="620"/><fw place="top" type="header">Periode der Morphologie.</fw><lb/>
tigkeit zu bringen. Es zeigte &#x017F;ich aber bald, daß die That&#x017F;achen der Ent-<lb/>
wickelungsge&#x017F;chichte neben den Momenten, welche das Zu&#x017F;tandekommen<lb/>
der Lebenser&#x017F;cheinungen erklärten oder zu erklären &#x017F;uchten und welche<lb/>
vorzugswei&#x017F;e dynami&#x017F;cher Art waren, fa&#x017F;t ganz unvermittelt da&#x017F;tanden,<lb/>
daß aber die vergleichende Anatomie &#x017F;elb&#x017F;t unerwartete Aufklärungen<lb/>
aus ihnen &#x017F;chöpfen konnte. Hiernach be&#x017F;timmte &#x017F;ich die Richtung,<lb/>
welche bei der Bearbeitung der Entwickelungsge&#x017F;chichte einge&#x017F;chlagen<lb/>
wurde, beinahe von &#x017F;elb&#x017F;t in der Wei&#x017F;e, daß vorwaltend anfangs empi-<lb/>
ri&#x017F;che Verhältni&#x017F;&#x017F;e über das Auftreten einzelner anatomi&#x017F;cher Sy&#x017F;teme<lb/>
und Organe in be&#x017F;timmten Thiergruppen klar ge&#x017F;tellt wurden und daß<lb/>
&#x017F;ich hieran einer&#x017F;eits die Unter&#x017F;uchungen über die Entwickelung der&#x017F;elben<lb/>
Sy&#x017F;teme durch größere Thierreihen und endlich &#x017F;olche über den gemein-<lb/>
&#x017F;amen, der ganzen Entwickelung in die&#x017F;en Reihen zu Grunde liegenden<lb/>
Plan &#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Als nothwendiges Complement fiel dann noch der<lb/>
letzten Unter&#x017F;uchungsreihe der Ausgangspunkt aller Entwickelung, das<lb/>
Ei &#x017F;elb&#x017F;t, zu, de&#x017F;&#x017F;en Natur, Be&#x017F;chaffenheit und Zu&#x017F;ammenhang nach-<lb/>
gewie&#x017F;en werden mußte, um dann &#x017F;päter in Verbindung mit der Zellen-<lb/>
lehre den Schluß&#x017F;tein in die Lehre von der einheitlichen Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung<lb/>
aller Thiere zu fügen.</p><lb/>
          <p>Zunäch&#x017F;t waren es die Wirbelthiere, be&#x017F;onders die Säugethiere,<lb/>
deren Embryonen und Eihüllen man unter&#x017F;uchte, um die betreffenden<lb/>
noch immer in &#x017F;ehr wider&#x017F;prechender Wei&#x017F;e ge&#x017F;childerten Verhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
beim Men&#x017F;chen aufzuklären, während das leichter zugängliche Hühnchen<lb/>
Auf&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e über die allmählichen Formveränderungen des Körpers und<lb/>
einzelner Theile zu geben hatte. Aus einer Reihe von Abbildungen,<lb/>
wie &#x017F;ie <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/116975415">Everard Home</persName></hi> in &#x017F;einen Vorle&#x017F;ungen von der Entwickelung<lb/>
des letztern mittheilt, war freilich nicht viel mehr zu er&#x017F;ehn, als daß der<lb/>
junge Vogel allmählich an Größe zunimmt. Daneben er&#x017F;chienen aber<lb/>
wichtige Einzeldar&#x017F;tellungen; &#x017F;o unter&#x017F;uchte <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118589717">Oken</persName></hi> das Ei der Säuge-<lb/>
thiere, und obgleich er manches ent&#x017F;chieden fal&#x017F;ch deutete, &#x017F;o bildete doch<lb/>
&#x017F;eine Arbeit in mehr als einer Beziehung den Wendepunkt in die&#x017F;em<lb/>
Gebiete und fe&#x017F;&#x017F;elte das Intere&#x017F;&#x017F;e einer großen Zahl von For&#x017F;chern an<lb/>
die&#x017F;e Aufgabe. Es können von die&#x017F;en nur diejenigen erwähnt werden,<lb/>
welche auch allgemeinere Vergleichungen berück&#x017F;ichtigten. Unter&#x017F;uchun-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[620/0631] Periode der Morphologie. tigkeit zu bringen. Es zeigte ſich aber bald, daß die Thatſachen der Ent- wickelungsgeſchichte neben den Momenten, welche das Zuſtandekommen der Lebenserſcheinungen erklärten oder zu erklären ſuchten und welche vorzugsweiſe dynamiſcher Art waren, faſt ganz unvermittelt daſtanden, daß aber die vergleichende Anatomie ſelbſt unerwartete Aufklärungen aus ihnen ſchöpfen konnte. Hiernach beſtimmte ſich die Richtung, welche bei der Bearbeitung der Entwickelungsgeſchichte eingeſchlagen wurde, beinahe von ſelbſt in der Weiſe, daß vorwaltend anfangs empi- riſche Verhältniſſe über das Auftreten einzelner anatomiſcher Syſteme und Organe in beſtimmten Thiergruppen klar geſtellt wurden und daß ſich hieran einerſeits die Unterſuchungen über die Entwickelung derſelben Syſteme durch größere Thierreihen und endlich ſolche über den gemein- ſamen, der ganzen Entwickelung in dieſen Reihen zu Grunde liegenden Plan ſchloſſen. Als nothwendiges Complement fiel dann noch der letzten Unterſuchungsreihe der Ausgangspunkt aller Entwickelung, das Ei ſelbſt, zu, deſſen Natur, Beſchaffenheit und Zuſammenhang nach- gewieſen werden mußte, um dann ſpäter in Verbindung mit der Zellen- lehre den Schlußſtein in die Lehre von der einheitlichen Zuſammenſetzung aller Thiere zu fügen. Zunächſt waren es die Wirbelthiere, beſonders die Säugethiere, deren Embryonen und Eihüllen man unterſuchte, um die betreffenden noch immer in ſehr widerſprechender Weiſe geſchilderten Verhältniſſe beim Menſchen aufzuklären, während das leichter zugängliche Hühnchen Aufſchlüſſe über die allmählichen Formveränderungen des Körpers und einzelner Theile zu geben hatte. Aus einer Reihe von Abbildungen, wie ſie Everard Home in ſeinen Vorleſungen von der Entwickelung des letztern mittheilt, war freilich nicht viel mehr zu erſehn, als daß der junge Vogel allmählich an Größe zunimmt. Daneben erſchienen aber wichtige Einzeldarſtellungen; ſo unterſuchte Oken das Ei der Säuge- thiere, und obgleich er manches entſchieden falſch deutete, ſo bildete doch ſeine Arbeit in mehr als einer Beziehung den Wendepunkt in dieſem Gebiete und feſſelte das Intereſſe einer großen Zahl von Forſchern an dieſe Aufgabe. Es können von dieſen nur diejenigen erwähnt werden, welche auch allgemeinere Vergleichungen berückſichtigten. Unterſuchun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/631
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 620. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/631>, abgerufen am 05.07.2024.